Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (II)

hpd: Ich möchte noch einmal kurz auf die griechische Tragödie zurückkommen: Die Funktion der griechischen Tragödie. Ich sage jetzt einfach einmal: Diese Funktion hat in Deutschland die BILD übernommen, in Österreich die Kronen-Zeitung. ...

Streminger: Mmh.

hpd: ...und zwar, Begründung: Die BILD hat ja das Problem, wie schafft man es, dass jeden Tag rund drei Millionen Menschen dieses Unterhaltungsblättchen kaufen? Ist das Grundprinzip, nach dem die Schlagzeilen getextet werden, nicht ähnlich? „Frau stützt sich auf U-Bahntreppe: Elektrischer Schlag!“ Uups! Wie gut, dass ich weder U-Bahn fahre, bzw. dass ich, als ich da hin griff, keinen elektrischen Schlag bekommen habe, etc. D. h. diese Spezialität des Blattes, „Wenn man sie schräg hält, läuft das Blut heraus“, Einzelschicksale vorzuführen von Prominenten und anderen Leuten, dass ich als normaler Mensch, der ohne große Sensation lebt, sagen kann: Wie gut, dass alles das mir nicht passiert. Wie gut, das ich kein Prominenter bin, der sich schon wieder scheiden lassen muss, etc. Könnte es sein, dass diese Funktion mit der Katharsis, der Reinigung durch die griechische Tragödie, ähnlich ist? Wenn ich täglich diese Dramen sehe, kann ich froh sein, dass es mir halbwegs besser geht? Als These?

Streminger: Das ist eine interessante Idee, an die ich noch nie gedacht habe.

hpd: Ich auch nicht! (Gemeinsames Lachen) Es kam mir in den Sinn: Haben wir nicht doch, neben dem Guidomobil von Herrn Westerwelle, gesellschaftliche Instanzen, die dieses Prinzip für den Einzelnen immer wieder herstellen? Freue dich, lebe bescheiden, bleib in deinem kleinen Glück, dort bist du gut aufgehoben – es hat daneben ja auch noch die gesellschaftliche Funktion des Klein-Haltens...

Streminger: Nun meine ich, dass es sich bei den Lesern von Bild und Kronen-Zeitung doch vornehmlich um Klein- und Spießbürger handelt, die möglichst nicht über ihren Tellerrand schauen wollen und ihnen alles, das jenseits davon liegt, Angst und Schrecken macht. Bei der griechischen Tragödie ging es jedoch um Menschen, die im Überfluss ihrer Emotionen lebten, weshalb ihnen ja auch in Delphi über dem Tempel geraten wurde: Haltet Maß! Diejenigen, die in Griechenland an einem Tragödienspiel teilnahmen, waren gepackt vom Geschehen auf der Bühne und erlebten Gemeinschaft mit anderen unter freiem Himmel. Die Funktion der griechischen Tragödie war doch wohl eine andere als BILD.

hpd: Die griechische Gesellschaft war doch aber eine Sklavenhaltergesellschaft, bei der nur die vielleicht zehn Prozent der Elite im Theater als Teilhabende saßen, während den Sklaven im Hause, die nicht direkt daran beteiligt gewesen sein konnten, danach darüber berichtet wurde. Und dieses Berichten ‚über etwas’, wäre das nicht vergleichbar mit den heutigen Medien?

Streminger: Nach Aristoteles löst die Tragödie Jammer und Schrecken aus und bewirkt dadurch Reinigung. Da müsste man nun genauer prüfen, ob das bei den Medien, die Sie erwähnt haben, und bei den nicht direkt am Tragödienspiel Beteiligten (Sklaven) auch der Fall ist bzw. war. Das müsste empirisch bzw. historisch untersucht werden: Jammer und Schecken und Reinigung. Aber ich nehme einmal an, wenn Kleinbürger, die immer glauben, dass das wahr ist, was sie für wahr halten… Wenn sie also, nachdem der Gummibaum endlich abgestaubt wurde, daheim am Küchentisch sitzen und mit leichtem Schauer im Boulevard die Welt erklärt bekommen, dann erleben sie wohl keinen Jammer, sondern eher Schadenfreude, und innerlich gereinigt werden sie von gar nichts, im Gegenteil: In ihren Ängsten und Ressentiments werden sie nur noch bestärkt.

hpd: Es gibt nun aber doch das Phänomen in Deutschland, dass mittlerweile jeden Abend ein oder zwei Kriminalfilme im Fernsehen gezeigt werden. Da gab es die These, dass diese Kriminalfilme die Aufgabe haben, erst einmal dem Menschen etwas geschehen zu lassen, damit er seine kriminellen oder mörderischen Impulse virtuell etwas ausleben kann, aber dann kommt zum Schluss die klare Botschaft: Lass das, du wirst sowieso erwischt. Ist das eine ‚Reinigung’?

Streminger: Sie können aber hartnäckig sein!