Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (II)

hpd: Spielt das aber für die so genannte „Volksfrömmigkeit“, die von den Theologen so herablassend ja beinahe verächtlich betrachtet wird, überhaupt eine Rolle? Ich habe den Eindruck, dass der christliche Glaube so eine Art Projektionsfläche darstellt, auf die der Gläubige seine persönlichen Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen drauf projiziert, und die Kirche ihm dafür nur die Worthülsen als Vorlagen liefert, wie Weihnachten als das „Fest der Familie und des Friedens“? Wir wissen vermutlich alle, dass „Familie“ das wohl am schlechtesten funktionierende Sozialmodell überhaupt ist und trotzdem haben wir eine Sehnsucht nach diesem biologischen Verband, der sich Familie nennt, und projizieren nun alles, von der „Heiligen Familie“ bis „Fest der Familie“ unter dem Druck der Projektion, die die Kirche einem bietet. Und wer ist gegen „Frieden“? Und so projizieren alle Menschen ihre subjektiv sehr unterschiedlichen Vorstellungen auf die gleichen nichtssagenden Flächen. Das ist perfekt und funktioniert.

Streminger: Natürlich vermag das Christentum erst einmal viele Bedürfnisse zu befriedigen. Es spendet Trost und auch eine gewisse Sicherheit, aber das geschieht immer auf Grundlage der Vorstellung, dass Gott gütig und gerecht ist. Denn wenn Gott es nicht ist, dann kann es keine begründete Hoffnung auf Trost geben oder dass ich beten kann und er mir beistehen wird. Das gilt gerade auch für die Volksfrömmigkeit, denn die Frage: Warum lässt Gott das bloß zu? ist kein akademisches Problem frisch aus dem Elfenbeinturm. Wenn das eigene oder das Nachbarkind Krebs bekommt, dann stellt sich unausweichlich die Frage: Warum denn das unschuldige Kind? Niemand, der auch nur halbwegs empfindsam, gütig oder gerecht ist, würde das alles zulassen. Aber der Allmächtige und angeblich Allgütige beschäftigt sich offensichtlich nicht mit dieser Welt, sondern mit anderem (vielleicht spielt er gerade mit sich selbst Tennis, auch dazu müsste ein Allmächtiger doch imstande sein). Besäßen jedoch Menschen die Macht, so beendeten die meisten von ihnen sofort die meisten Leiden, sie griffen ein, wenn Schreckliches wie ein Genozid geschieht, aber der angebliche Allmächtige schaut zu und tut nichts. Vielleicht wird einmal die Zeit kommen, da werden Menschen diesen Allmächtigen des milliardenfachen Mordes anklagen, oder noch besser: Sie werden ihn einfach übersehen und sich Interessanterem widmen.

hpd: Das ist wohl richtig, aber wird nicht deshalb in der „Volksfrömmigkeit“ immer von dem „lieben Gott“ gesprochen? Und es ist doch auch eine Wunschvorstellung eines Vaters, der einen behütet, der gut zu einem ist, etc. Da hatte ich einmal in Rom, in der Peterskirche, den Eindruck, diese Kirche ist wie ein riesiges Dorf, in dem an verschiedenen Ecken alles Mögliche an Aberglauben, Volksfrömmigkeit, Gespuke erlaubt ist, solange man die Autorität des Papstes oder der Kirche nicht kritisiert. Das heißt, die katholische Kirche ist wie ein großer Mantel, der unter diesem Mantel beinahe alles erlaubt, während die Evangelischen da sehr engstirnig und rigoros sind, und eine Vielzahl von getrennten Glaubensgemeinschaften haben.

Streminger: In Italien sieht man wohl am besten, was die katholische Kirche so alles zu ummanteln versteht. Aber es gibt einen Fallschirm, an dem alles hängt: die Vorstellung vom lieben Gott. Und dieser öffnet sich in Wahrheit nicht. Viele Menschen ahnen wohl, dass es aufgrund der Beschaffenheit der Welt einen gütigen Gott nicht geben könne.

hpd: Aber ist im Christentum das Theodizee-Problem nicht gelöst, da mit der Geschichte des Hiob jedes Leid nur die Prüfung Gottes ist, ob man vom Glauben abfällt oder nicht. Und insofern kann man dann doch sogar aus dem Leid im Glauben gestärkt hervorgehen? Und der Satz: „Credo quia absurdum!“ – „Ich glaube, obwohl es unsinnig ist!“ heißt doch eher, ich denke, Sie haben es einmal geschrieben, „Ich glaube, weil es unsinnig ist!“? Deshalb dieses Beispiel mit Abraham. Jeder empfindsame Vater hätte sich der Aufforderung – von wem auch immer – versagt, sein Kind zu töten. Aber da es gottgefällig ist, will er es tun, weil Gott es so will.

Streminger: Genau, das ist das ungeheuer Gefährliche an der Religion. Es negiert nämlich die innersten Instinkte der Menschen oder handelt ihnen bewusst entgegen. Weil Moralität im Wesentlichen ein natürliches Phänomen ist, ist es eigentlich nichts Besonderes, sich moralisch zu verhalten, seine Steuern zu bezahlen, dem Nachbarn nichts Böses zu wünschen, am Wohl und Wehe der Nächsten teilzuhaben usw. Aber genau deshalb eröffnet sich für religiöse Menschen ein großer Konflikt. Denn wenn ‚moralisch sein’ eigentlich etwas Natürliches, wenn auch nichts Selbstverständliches ist, dann stehen religiöse Menschen vor der Frage, was sie eigentlich Gott zuliebe tun. Wie kann ich mir und anderen zeigen, dass ich religiös bin und gottgefällig lebe? Zwei Möglichkeiten tun sich auf.

Das eine ist das Rituelle, indem ich jeden Sonntag in die Kirche gehe, usw. Das andere ist das Unmoralische, das eben nicht dem natürlichen Empfinden entspricht (Abrahambeispiel, Schiffbrüchigenbeispiel). Gerade deshalb, weil eine bestimmte Handlung unmoralisch ist und jedem moral sense widerspricht (den eigenen Sohn zu töten, Schiffbrüchigen nicht zu helfen), ist sie für religiöse Menschen auf fatale Weise anziehend. Denn wenn sie so handeln, dann können sie zeigen, dass sie gottgefällig leben. So oder ähnlich denken wohl religiös motivierte Terroristen. Es gibt gute und schlechte Menschen. Aber es bedarf der Religion oder einer politischen Religion, damit gute Menschen Böses tun.…

  


Der dritte Teil und Abschluss des Interviews am Freitag