Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen (III)

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In Stremingers Garten / Fotografie © Evelin Frerk

BAD RADKERSBURG. (hpd) Ein Gespräch mit dem Philosophen Gerhard Streminger über David Hume, Adam Smith, Marktwirtschaft, Religionskritik und auch darum, warum Streminger meint, dass man von der britischen Kultur durchaus noch immer etwas lernen könne, beispielsweise, ein guter Verlierer zu sein. Aber auch über christliche Ethik und das Karussell menschlicher Eitelkeiten.

 

 

(Ein „Band der Freundschaft“ knüpfen, Teil I und Teil II)

hpd: Ist das nicht aber einer der wesentlichen Unterschiede zum Humanismus, dass diese Monotheismen, es ist ja nicht nur das Christentum, den Menschen als Objekt behandeln?...

Streminger: ... Der Mensch ist im Monotheismus bloß Objekt, er spielt nur eine Rolle im göttlichen ‚Heilsplan’,…

hpd: ... und dass deshalb der Vorwurf, der häufig von christlicher Seite erhoben wird, der Humanismus sei so gefährlich, weil er den Menschen in den Mittelpunkt stellt, und deshalb jedes Maß verliert, wenn es denn einen Gott nicht mehr gibt – im Sinne des berühmten Dostojewski-Zitats: „Wenn es Gott nicht gibt, ist alles erlaubt“. Der Mensch als Subjekt in seiner Selbstbestimmtheit – ist das nicht der zentrale Widerspruch zwischen säkularen Naturalisten und religiösen Monotheisten – als Grundwiderspruch?

Streminger: Ja, das würde ich so sehen. Wie schon gesagt: Wird behauptet, dass alles erlaubt wird, wenn es keinen Gott mehr gibt, dann sollte man einmal in die Geschichte oder in Deschners Kriminalgeschichte des Christentums schauen. Denn diese zeigen das Gegenteil: Bei vielen Menschen, die an Gott glaubten, war alles erlaubt. Im Dreißigjährigen Krieg etwa haben alle an Gott geglaubt, und es war die Pflicht eines „Christenmenschen“, den anderen „Christenmenschen“ zu töten, nachdem die Feldkapläne auf allen Seiten, denselben Gott anrufend, die Waffen gesegnet hatten. Ordnung muss schon sein! Aber selbst diese perverse Anrufung seines Namens von seinen Anhängern hat den angeblich Allgütigen nicht dazu motiviert, wenigstens die Unschuldigen zu schützen.

hpd: Er wurde vor kurzem ein Film gezeigt, „Das weiße Band“, der in Mecklenburg-Vorpommern vor dem ersten Weltkrieg spielt, mit adeligem Gutsbesitzer und einem zentralen Pastor, der seine Kinder bestraft, indem er sagt: „Ich muss dir zehn Schläge zuzählen.“ Er macht es nicht freiwillig oder weil er es als pädagogisch sinnvoll ansieht oder weil er Sadist ist, sondern weil er es als seine Pflicht ansieht, gemäß der Bibel: „Wer sein Kind liebt, der züchtigt es.“ Es ist ihm also nicht erlaubt, sein Kind zu schlagen, es ist seine Pflicht, das zu tun – auch und gerade, wenn er selber subjektiv darunter leidet.

Streminger: Das ist das dunkel Abartige, das wir schon im Zusammenhang mit dem Schiffbrüchigen- und Abrahambeispiel diskutiert haben. Das Mitgefühl und der Wunsch, „Ich will dem Kind doch nicht weh tun“, sollte als Basis für ein moralisches Leben gelten und nicht irgendwelche erfundene Moralregeln von Menschen, an deren Wohlwollen und Gesundheit man zu Recht zweifeln kann. (Wenn ich mich recht an eine Bibelstelle erinnere, so hat Moses einen Ägypter erschlagen, Abraham wollte seinen Sohn töten, und Paulus soll an der Steinigung des hl. Stephanus Gefallen gefunden haben...)

Aber noch einmal zurück zu: „Wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt“. Meine Gegenthese lautet: „Es ist alles erlaubt, wenn von einem fiktiven Gott ausgegangen wird, denn dadurch wird alles willkürlich.“ Die Alternative zu dieser theistischen Ethik ist eine solche, in der die menschlichen Fähigkeiten ernst genommen werden. Natürlich ist vieles nicht erlaubt, auch und gerade von einem humanistischen Standpunkt aus nicht, aber im Humanismus werden die Verhaltensweisen begründet und damit intersubjektiv nachvollziehbar gemacht. Das ist zumindest das zu erstrebende Ideal.

hpd: Wir hatten vorhin schon einmal angesprochen: Das Drama um Jesus.

Streminger: Das ist natürlich das Zentrale für eine bestimmte Form des Monotheismus. Die christliche Botschaft lautet, dass Jesus von Nazareth durch seine Leiden es uns, den Menschen, wieder ermöglicht hat, zu Gott in den Himmel zurück zu kehren. Das ganze Drama um den Sohn Gottes ist aber nur dann verständlich, wenn die Lehre von der Ursünde es ist. Deshalb hat Paulus ihn auch den zweiten Adam genannt: Der zweite Adam nimmt hinweg jene Sünden, die der erste Adam verschuldet hat und wodurch alle sündig geworden und in Verderbnis geraten sind. So weit die blumige Lehre, plausibel ist sie aber nicht.

Denn zum einen stellt sich die Frage, woher denn der Wunsch kam, so zu sein wie Gott? Wenn Gott den Menschen aus dem Nichts geschaffen hat, dann stammt auch dieser Wunsch letztlich von Gott. Aber warum bestraft er dann uns Menschen, er hätte sich doch selbst züchtigen sollen? Und zum anderen hat er ein Wesen geschaffen, die Schlange, die die Menschen belogen hat, noch ehe diese wussten, was gut und was böse ist. Denn sie hatten vom Baum der Erkenntnis ja noch gar nicht gegessen. Den ersten Menschen war es also nicht wirklich möglich, die Täuschung der Schlange überhaupt zu durchschauen, und ein derartiges Verbrechen erwarteten sie wohl zu Recht gerade nicht in dem von Gott für sie geschaffenen Garten Eden.

Die Ursündenlehre ist also nicht einleuchtend und eine ziemlich faule Frucht vom Baum der Erkenntnis. Deshalb ist es auch nicht überzeugend, wenn von der „Heilstat Jesu“ gesprochen wird. Es muss also eine ganz andere Schuld und Sühne bei diesem Geschehen in Jerusalem vor 2000 Jahren im Spiel gewesen sein. Ich stelle einmal die These auf, dass Jesus selbst sich schuldig fühlte, weil seinetwegen so viele Kinder in Bethlehem umgebracht worden waren.

Die Vorstellung, dass Menschen zunächst ein ziemlich kleines Verbot übertreten haben (wenn überhaupt); daraufhin aus dem Paradies vertrieben wurden, um schließlich das Schrecklichste zu tun, nämlich den lebenden Gott zu foltern und ans Kreuz zu nageln; und dass sie deshalb erlöst sind, weil Gott wieder mit ihnen versöhnt ist … Dies ist alles so absurd, dass wohl nur Paulus und ein paar Psychoanalytiker das richtig verstehen können. Stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten noch nie von dieser Geschichte gehört, aber einmal stünde ein hagerer Mann vor ihrer Türe, der Ihnen das erzählte … Und jetzt stellen Sie sich auch noch vor, eine Indianerfamilie stünde an Ihrer Stelle vor ihrer Hütte, und der schwarze Mann wäre auch noch von Soldaten mit Hellebarden umgeben...

  

hpd: Aber es hat doch funktioniert. Paulus gilt ja als der erste Marketingdirektor des Christentums, der das Christentum erfunden hat, indem er die ursprüngliche kleine jüdische Religionsgemeinschaft, nach Rom wechselnd, unter Beimischung griechischer, römischer und orientalischer Mythen erst zu dem entwickelt und gebaut hat, was dann später Christentum genannt wurde.

Streminger: Ja, Jesus ist nur der Held des Christentums, und zwar in seiner Rolle als Christus, als derjenige, der von den Toten wieder auferstand. Aber Paulus war der Begründer, der sich für den Menschen Jesus kaum interessierte, wohl aber für Christus. Paulus ist also der Schöpfer des Christentum, und seine Botschaft vom jenseitigen Heil und, insbesondere, von der vollständigen Sündenvergebung war natürlich auf keinen Fall unattraktiv, gerade auch nicht für das Gesindel. In Athen, bei den Philosophen, ist Paulus aber als ziemlicher Kasperl abgeblitzt, wenn ich mich recht erinnere, und Paulus hat folglich gegen Philosophen und die am Diesseits orientierte Vernunft Gift und Galle gespuckt: „Sehet zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf der Menschen Lehre und auf die Elemente der Welt und nicht auf Christus.“ Was wäre eigentlich aus der Welt geworden, wenn man die Sache einfach umgedreht hätte und den Verfasser der obigen Zeilen eingefangen und – natürlich in einem Palast mit hängenden Gärten und kleinem Harem – unter Hausarrest gestellt hätte?

hpd: Wenn wir so reden, dann fühle ich mich manches Mal an ein Zitat von Hinrich Böll erinnert, der in seinem Roman „Ansichten eines Clowns“ schreibt: „Atheisten sind so langweilig.“ Nachfrage: „Warum?“ Antwort: „Ständig reden sie über Gott.“ (Lachen)

Streminger: (lacht) Ja, das ist bekannt: Wir sind die Letzten, die ernsthaft über Gott reden und sich im Gegensatz zu den vielen Zynikern noch wie Hiob empören können.

hpd: Aber das ist meine Frage: Was bekümmert es uns denn eigentlich? Wir könnten doch sagen, da gibt es so einige Leute, die haben so eigenartige Ideen und Geschichten von sprechenden Schlangen und Jungfrauengeburten und sonstigem Schabernack, warum nehmen wir so etwas ernst?

Streminger: Weil sie immer noch eminent einflussreich sind und wir täglich sehen, welche Gefahr für Moral und Gesellschaft die Religionen, vor allem die fundamentalistisch orientierten, darstellen. Wie sollte auch etwas so Willkürliches, wie die Religion, etwas so Notwendigem, wie der Moral, einen Halt geben können? Jede Ethik ist dem Wahrheitsethos verpflichtet, aber die meisten religiösen Menschen kümmern sich nicht einmal darum, ob ihre Glaubensschecks gedeckt sind oder nicht. Einige müssen sich also mit diesen Dingen beschäftigen, um den Freiraum für sich und andere zu bewahren und auszubauen.

Und wir dürfen nicht den Fehler begehen, von kleinen Teilen Westeuropas auf das Ganze zu schließen. Wenn man auch nur nach Irland oder Polen blickt – vom Iran natürlich ganz zu schweigen –, dann sieht man, dass Religion auch ein etwas anderes Gesicht haben kann. Unsere Kirchen haben gewiss vieles von der Aufklärung übernommen, aber vieles auch nicht: So glauben sie immer noch an die Existenz eines lieben Gottes, und beispielsweise die Menschenrechtskonvention wird von der katholische Kirche noch immer nicht anerkannt. Von ihrem Standpunkt aus ist das auch durchaus verständlich, weil sie eben ein anderes Menschenbild hat: Menschen sind verderbt, zumindest sündhaft, bedürfen der Erlösung durch die Gnade Gottes oder durch Sakramente. Wie sollte es nach dieser Anthropologie natürliche Menschenrechte geben? Die Kirche bekämpfte und bekämpft viele jener Dinge, die heute in der Demokratie als Tugenden oder als Rechte gelten. Man war vor nicht allzu langer Zeit noch der Dumme, wenn man vernünftig dachte.

hpd: Darin sind Islamisten auch ehrlicher, indem sie laut sagen, dass für sie die Menschenrechte nur insoweit akzeptabel seien, soweit sie mit der Scharia, dem muslimischen religiösen Kanon von Rechtsregeln, übereinstimmen.

Streminger: Das meinen zumindest Fundamentalisten. Wenn man allein vom Koran ausgeht, dann wird man wohl die Menschenrechte ablehnen müssen. Liberaler denkende Muslime lügen sich da in die Tasche, wenn sie glauben, mit dem Koran allein seien die Menschenrechte zu rechtfertigen. Aber hier bin ich schon gar kein Experte. Interessant ist jedoch, dass im Islam die Ursündenlehre abgelehnt wird. Meines Wissens wird auch im Koran die Geschichte von Adam und Eva und deren Sünden erzählt, aber der Barmherzige verzeiht ihnen einfach. Das ist doch viel plausibler als der christliche Mythos, und konsequenterweise kennen Muslime deshalb auch keine Erlösungstat Jesu. Denn wovon soll er uns denn erlösen? Jesus spielt nur dann die ihm von Christen zugewiesene Rolle, wenn akzeptiert wird, dass Adam und Eva dermaßen gesündigt haben und dermaßen schuldig geworden sind, dass Gott die Menschen einfach nicht mehr ins Paradies ließ, und erst Jesus, das Opferlamm, alles wieder ins rechte Lot brachte. Da Muslime die Ursündenlehre nicht kennen, gestehen sie Jesus diese Erlöserfunktion auch nicht zu. Zumindest in diesem Punkt erscheint der Islam einleuchtender zu sein als das Christentum. Denn Muslime nehmen ernst, dass ein angeblich barmherziger Gott im Paradies wohl anders als der jüdisch-christliche gehandelt hätte.

  

hpd: Aber das zeigt doch beispielhaft, wie verschiedene Gruppen ihre Religionen nach Bedarf ‚stricken’, nach den Mustern, die sie brauchen, willkürlich Elemente verändern, die ihnen nicht in das Konzept passen...

Streminger: Wir befinden uns hier mitten im Karussell menschlicher Eitelkeiten: Man sucht sich etwas aus dem reichen Fundus an Möglichkeiten heraus, tut etwas anderes hinzu, ohne das eine oder das andere zu begründen. Dann verschiebt man alles in eine jenseitige, transzendente Welt, damit ja keiner mehr die Wahrheit des Gesagten überprüfen kann. Und warum das alles? Um als Verkünder der Wahrheit wichtig genommen zu werden und um das Ego ein wenig zu streicheln.

Nur ein Beispiel für das Chaos innerhalb der drei großen monotheistischen Religionen: Da gibt es einen Zimmermannsohn aus Nazareth, der für die einen der Messias, ja Gott selbst ist. Für die anderen ist er dies aber gerade nicht, weil der Messias im Alten Testament anders charakterisiert wurde als dieser Jesus – der jüdische Messias ist nämlich eine Siegerfigur. Aber Christen werfen den Juden dennoch Verstocktheit vor, da sie nicht bereit sind, Jesus als Messias anzuerkennen. Die Juden wiederum werfen den Christen Verlogenheit vor, weil sie im Alten Testament lesen könnten, woran der Messias zu erkennen sei, und dort sogar zu lesen ist, dass „verflucht sei, wer am Kreuze hängt“. Und für Muslime wiederum kann Jesus nicht Gott gewesen sein, denn die Vorstellung eines leidenden Gottes ist für sie blanke Gotteslästerung. Wie soll vor diesem Hintergrund ein dauerhafter Frieden oder ein wirkliches Verstehen möglich sein? Jeder sucht, wie Sie sagten, das heraus, was er will, und man kann die Wahrheit des Gesagten nicht überprüfen. Hoffentlich ist der Staat, die säkulare Gesellschaft stark genug, um diesen Wahn in Grenzen zu halten – und die Kampfhähne im Zaum. (Die Spannungen innerhalb der verschiedenen Religionen, etwa zwischen Sunniten und Schiiten, seien nur am Rande erwähnt. Jedenfalls dürften in letzter Zeit wesentlich mehr Muslime durch andere Muslime getötet worden sein als diese Christen umgebracht haben.)

hpd: Und da es Wahrheiten sind, muss man die jeweils anderen, um Gottes willen, vernichten.

Streminger: Es sind eben nur Glaubenswahrheiten, auf die sich alle Theisten berufen, und nicht intersubjektiv überprüfbare Vernunft- oder Wissenstatsachen, und diese Glaubenswahrheiten widersprechen einander in fundamentaler Weise …

hpd: Und da gibt es keinen Kompromiss bei der Glaubenswahrheit. So etwas ein bisschen christlich, das geht nicht.

Streminger: Wie gesagt, die einen werfen den Anderen Verstocktheit vor, die Anderen werfen denen Verlogenheit vor und die Dritten werfen ihnen Blasphemie vor. Wie soll man sich da einigen? Der eine heilige Text ist angeblich vom Erzengel Gabriel diktiert, beim anderen hat die Hand Gottes selbst den Griffel geführt, .... Gehen wir noch einen Schritt zurück, um zu verdeutlichen, wie absurd das Alles ist. Der christliche Glaube ist eigentlich der Glaube an die Vertrauenswürdigkeit von Augenzeugen, die vor zweitausend Jahren gelebt haben und fanatische Anhänger des Helden waren.

hpd: So lautet die Geschichte.

Streminger: Eben. Die Texte aber sind erst mehrere Jahrzehnte nach dem Geschehen geschrieben worden, und dass die Evangelisten selbst noch Augenzeugen waren, ist äußerst unwahrscheinlich. Also mussten bereits sie sich auf Berichte anderer stützen. Wer sie waren, wissen wir nicht, denn selbst ihre Namen sind erst später hinzugefügt worden. Allerdings existiert als gewisser Fixpunkt der hl. Paulus, der historisch zugänglicher ist. Aber auch er, der ehemalige Christenhasser, war kein Augenzeuge des Geschehens, sondern ebenfalls auf Berichte anderer angewiesen. Nun stellen sie sich einmal vor, dass in zweitausend Jahren Berichte von Mitgliedern der Waffen-SS über den Führer gefunden werden, die erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts von Sekretärinnen niedergeschrieben worden waren; und sie sind die einzigen Berichte über Hitler, die wir kennen. Würden wir ihnen, geschrieben von fanatischen Anhängern, die bereit waren, für ihre Sache in den Tod zu gehen, nicht mit äußerster Skepsis begegnen? Aber wenn die Beweislage in Wirklichkeit so dünn ist, warum fordern Menschen von anderen, dass sie den Wundergeschichten in den Evangelien, die zum Teil einander auch noch widersprechen, einfach glauben sollen?

hpd: Das wäre die Frage. Wenn es die siegreiche Macht gewesen wäre... Sie wissen doch: „Gott ist immer mit den siegreichen Bataillonen.“

Streminger: Zuerst werden auf beiden Seiten die Waffen gesegnet, und dem Gewinner hat Gott dann auch tatsächlich geholfen. Gelobt sei Gott, der Herr! Um vieles kümmert er sich zwar nicht -- Wo war Gott in Auschwitz? --, aber wenigstens gelegentlich weilt er bei den Siegern!

hpd: In dieser Hinsicht ist aber dann doch die Verbindung der Kirchen mit dem Staat, ich nehme einmal nur den „Gotteslästerungsparagraphen“, grotesk und Ausdruck eines, wie soll man sagen, monarchistischem Überbleibsels, dass die Majestätsbeleidigung – als Parallele zur Gotteslästerung – abgeschafft worden war. Wenn es keine Majestät mehr gibt, kann man sie auch nicht beleidigen, aber der Gotteslästerungsparagraph blieb erhalten.

Streminger: Weil die Religionen auch in unserer Gesellschaft fälschlicherweise noch immer als Basis für Moral – als Garant für Werte – gelten, verbieten in den meisten Ländern weltliche Regierungen Angriffe auf die Landesreligion, festgelegt im so genannten Gotteslästerungsparagraphen. Aber was heißt denn überhaupt ‚lästern’? Für Muslime und Juden etwa ist die Vorstellung vom gefolterten und am Kreuz hängenden Allmächtigen eine schlimme Blasphemie. Warum wird denn auf deren religiöse Empfindungen keine Rücksicht genommen? Und viele Konfessionslose – und es gibt in Deutschland schon mehr als Katholiken oder Protestanten – empfinden den Anblick eines Folterinstruments in öffentlichen Gebäuden zumindest als schlechten Geschmack, wenn nicht gar als Zumutung, insbesondere gegenüber Kindern.

Und zu allem Überdruss: Dieselben Regierungen, die sich so große Sorgen um den einen, wenn auch hierzulande noch weit verbreiteten (Aber-)Glauben machen, mischen sich nicht ein, wenn die Religionen des Landes ihre Missionare in Länder schicken, um dort zu lästern und die dortigen religiösen Vorstellungen mit heiligem Eifer (und viel Geld) oft ein für allemal den Garaus zu machen (Südamerika!). Und dies alles im Namen der Nächstenliebe natürlich! Die Missionstätigkeit solcher moralisierender Wegelagerer erinnert an das Begattungsritual der Gottesanbeterinnen: Man zieht andere an die Brust und beginnt sie gleichzeitig zu verspeisen. Noch schlimmer als die beiden Landeskirchen dürften es jedoch eindeutig die evangelikalen Freikirchen treiben. Wenn ich irgendwo in den Weiten des Fernsehens über deren spirituelle Morgendisco stolpere, so hole ich mir nach wenigen Minuten regelmäßig eine Stunde Sodbrennen. Zum Glück verfügt jedoch der neue deutsche Bundespräsident diesbezüglich über einen weitaus robusteren Magen, und er scheint auch keine solch sensible Mimose, wie ich es nun einmal bin, zu sein. Aber warum regen sich darüber nicht mehr Menschen auf?

hpd: Ganz im Gegenteil. Der jetzige Afrika-Beauftragte der deutschen Bundesregierung war vorher der Menschenrechts-Beauftragte und meinte in seiner jetzigen Funktion, dass die Missionierung der christlichen Kirchen in Afrika ein Grundrecht der Kirchen sei.

Streminger: Unglaublich. Das kann doch nicht wahr sein! Bei uns werden die Kirchen geschützt und dort werden sie auch geschützt, obwohl sie dort in Vielem genau das tun, wovor sie hier geschützt werden, nämlich gegen die Religion zu lästern. Oder war etwa das Fällen der Heiligen Eiche der Germanen durch christliche Mönche keine Form des Lästerns, eine recht handfeste noch dazu?

  

hpd: Daniel Dennett hat einmal gesagt, dass die Menschen an die Religion glauben, nicht an die Theologie, und dass der Gottesdienst nur die Funktion der Gemeinschaftsbindung hat und es die meisten Gottesdienstbesucher inhaltlich nicht sehr interessiert, was der Priester da erzählt.

Streminger: Sie meinen also, dass die Menschen gesellige Wesen sind und die Kirchen dieses Bedürfnis weitaus besser bedienen als andere Organisationen? Dass es also gar nicht so sehr um die Inhalte geht, sondern um das Zusammensein, noch dazu mit Gleichgesinnten?

hpd: Religion ist meiner Ansicht nach die größte gemeinschaftsstiftende Gemeinsamkeit, die alle anderen Gegensätze in der Gesellschaft zweitrangig werden lassen, wenn nicht gar – in der Abgrenzung nach außen - nivellieren. Egal, ob ich Mann oder Frau bin, solange wir Christen sind, sind wir alle gut. Egal ob arm oder reich, egal klug oder dumm, egal ob faul oder fleißig, solange man Christ ist, ist das als Gruppendefinition erst einmal in Ordnung, weil man ein überdachendes Kriterium hat, was einen gegen andere Großgruppen, seien es Muslime oder Evangelische oder Katholiken oder Reformierte, positiv abgrenzt. Diese Überdachung muss als Definition gepflegt werden, man muss sich also regelmäßig treffen, um sich darin gegenseitig zu bestärken. Das daraus entstehende religiöse Wir-Gefühl ist dann wichtiger, als das von Teilgruppen, da es gebraucht wird, um alle anderen Gegensätze abzuschwächen. Und diese Fähigkeit, ein- und auszugrenzen, das ist die Kraft der Religionen für Gemeinschaften.

Streminger: Dieses Bedürfnis nach Gemeinschaft und Geselligkeit wird sicherlich auch deshalb von den Kirchen so gut abgedeckt, weil Alternativen fast gänzlich fehlen. Und sind es nicht die Kirchen, dann sind es die Fußballvereine, die auch – allerdings auf noch niedrigerem Niveau – die gesellschaftlichen Unterschiede bei ihren Anhängern nivellieren und zugleich diese gegen andere abgrenzen, also ein echtes Wir-Gefühl schaffen.

hpd: Im Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten hat einmal jemand gesagt: „Wenn wir erfolgreich sein wollen, dann müssten wir ja werden wir die Kirchen. Das bitteschön wollen wir doch aber nicht.“ Ist es der Zwang, sich wie die Kirchen zu verhalten? Welche Organisationsformen könnten Säkulare oder Naturalisten haben, um diesen Gemeinschaftssinn, wenn er denn das tragende Element ist, als Rituale des gemeinsamen Treffens zu bedienen? Muss man Häuser bauen, muss man Prediger haben oder kommen wir ohne das aus?

Streminger: Wir sollten Bibliotheken mit großen Cafes bauen und, im Gegensatz zu den Kirchen, diese großzügig mit Toiletten ausstatten. Gemeinsame Treffen sind wichtig, weil die meisten es schätzen, sich gelegentlich mit Gleichgesinnten auszutauschen und auf diese Weise zu erleben, dass man doch kein Einzelkämpfer ist. Aber Prediger braucht man auf keinen Fall, will man das Ideal der Vernunft nicht aufgeben, immer wieder selbst bestimmt nach den besten Gründen zu suchen. Will man Aufklärer bleiben, dann darf man das eigene Suchen keinesfalls beenden. Andere können wichtige Anregungen geben, selbstverständlich, aber dass uns jemand predigt, was zu tun sei? Undenkbar! ....

hpd: Aber das ist doch nicht Gemeinschaft stiftend!

Streminger: Nun ja, da haben die Humanisten durchaus ein Problem, weil das Gewicht ja auf dem Individuum liegt und die individuelle Entscheidung grundsätzlich respektiert wird. Der Humanismus hat nun einmal große Achtung vor dem Subjekt, dem Menschen, natürlich auch dem gläubigen, aber der Humanismus hat wenig Achtung vor Überzeugungen. In diesem Sinn ist die Situation unter Humanisten zwar schwieriger, aber auch befreiender. Denn wenn man dann mit humanistisch Gesinnten zusammen kommt, dann weiß man, dass auch diese dahinter stehen und gute Gründe dafür haben, hier zu sein. Man wird nicht einfach in den Humanismus hineingeboren, sondern man wählt diese Lebensform.

hpd: Aber gibt es nicht auch eine Arbeitsteilung, dass der normale Mensch sagt, mit Arbeit, Beruf und Familie habe ich genügend zu tun, den ganzen Bereich von Moral und Richtlinien gebe ich lieber an eine Organisation ab, die dafür kompetent zu sein scheint, weil die anderen das auch so meinen? Es ist dann keine Frage der Faulheit oder „Religion ist für die Doofen“, sondern das Ergebnis einer Arbeitsteilung, bei der die Moralapostel eben auch ihre Arbeit tun und sich um diese Fragen kümmern.

Streminger: Welche Fragen?

hpd: Was ist gut? Nach welchen Regeln sollen wir leben? Sie werden erleben, wenn sie einen Christen fragen, woher denn für ihn die Regeln der Moral her kommen, dann wird er häufig sagen: „Die Zehn Gebote“. Wenn Sie ihn dann bitten, diese Zehn Gebote zu sagen, wird er es nicht können. Nichts! Viele kennen sie überhaupt nicht, stammeln bereits am ersten sehr herum, tragen das Ganze aber wie eine Monstranz vor sich her. Deshalb habe ich den Eindruck, dass die meisten religiösen Menschen, das, was sie selber für gut befinden, auf die Kirche projizieren ohne sich darum zu bekümmern, ob es denn überhaupt mit dem übereinstimmt, was die Kirchen lehren.

Streminger: Ja, doch, genau so ist es wohl, aber das finde ich als Einstellung durchaus negativ. Dass man gerade diese fundamentalen Fragen: Was ist gut? Was ist der Mensch? Was soll ich tun? von sich schiebt, an eine vermeintliche externe Autorität delegiert, das ist doch ein Grundübel. Man muss sich darum schon selbst bemühen, immer wieder. Ich weiß nicht mehr, wer das Folgende gesagt hat, vielleicht war es Heinrich Heine: ‚Wenn Du zwei Hosen hast, dann verkaufe eine und kaufe Dir ein Buch.’ Ich mag Menschen, die sich mit dem, was sie vorfinden, nicht einfach zufrieden geben, sondern es genauer wissen wollen. Aber, da gebe ich Ihnen natürlich Recht, durch die Arbeitsteilung ist es heutzutage sehr schwierig geworden, neben der Arbeit auch noch Zeit für philosophische Fragen zu finden.

Das hat übrigens schon Adam Smith gesehen. Auf der einen Seite, so meinte er, bringt die Arbeitsteilung ökonomisch sehr viele Vorteile, aber zugleich lässt sie Menschen verdummen. Deren Geist reduziert sich nämlich auf einige wenige Handgriffe, und deshalb stellt Smith in seinem Wealth of Nations die Forderung auf, dass der Staat (!) durch gute öffentliche Schulen und Aufklärung, durch Bildung also, diesem negativen Effekt entgegentreten müsse.

  

hpd: Ich bleibe jetzt einmal bei dem Alltag vieler Menschen. Wir kennen ein jüngeres Paar, die schon seit zwölf Jahren zusammen sind, ein Kind haben und die wir einmal fragten, ob sie heiraten würden. Warum nicht, meinte der Frau, und wir wüssten auch schon, wie wir das machen würden. Wir würden zu einem Baum gehen, den gemeinsam umarmen, uns an den Händen fassen und uns versprechen, zu versuchen genauso stark zueinander zu stehen und Partner zu sein. Schön, und, war meine Frage, woran scheitert es? Antwort: Ich will eine Eiche, mein Mann will eine Buche. Könnt ihr, als Humanisten, uns diese Entscheidung nicht abnehmen?

Streminger: Ich würde meinen, dass für diesen Wunsch Humanisten die falsche Adresse sind. Dafür gibt es weit Kompetentere, die sogar überirdische Mächte um Rat fragen können. Humanisten können nur behilflich sein, dass andere ihre eigene Meinung finden. Platon gebrauchte einmal das schöne Bild, dass Philosophen Hebammen ähneln sollten.

Also: Ich würde zunächst die Person A ermuntern, doch einmal den Standpunkt von B einzunehmen und deren Argumente so lange auf den Tisch zu legen, bis B sich verstanden fühlt. Dann würde ich die Person B ermuntern, den Standpunkt von A einzunehmen und diesen so lange zu verdeutlichen, bis A übereinstimmt. Danach dürfte sich eine Lösung bereits abzeichnen. Wenn nicht, dann würde ich den Rat geben, sich doch mit Gras zu begnügen. Müsste es aber doch ein Baum sein, dann schlüge ich eine Pinie vor, jenen Baum, den Dichter als Wolke besangen, die in der Erde verankert ist. Ich habe in Schottland Pinien gesehen, die wie eine riesige Flagge im Moor standen, verweht, verwittert, aber trotzig mit der Erde verwachsen. Auf die Suche nach einem solchen Baum würde gemeinsam ich mich begeben.

hpd: Dennoch erbringen Religionen, wie alle totalitären Systeme, die große Leistung, dass sie ihren Anhängern, die das auch zulassen oder sogar erwarten, bestimmte Entscheidungen einfach abnehmen und die sagen: Das ist gut so, dass uns jemand das abnimmt, wir müssen nicht immer alles selber entscheiden. Insofern könnte der Humanismus im Kern dann doch eine idealistische Auffassung sein, indem sie von Voraussetzungen ausgeht, die im Alltag oder unter praktischen Gesichtspunkten nicht möglich sind, die innerhalb seines Zeitbudgets, von der Bildung einmal völlig abgesehen, einfach nicht realisierbar sind.

Streminger: Gut, das mag in Einzelfällen tatsächlich so sein. Aber dann sollte das Delegieren auf alle Fälle demokratisch geschehen. Das heißt, man delegiert zwar etwas, aber das bleibt unter Kontrolle, so dass man es dann, wenn man es nicht mehr delegieren will oder muss, wieder zurücknehmen kann. Zumindest das. Wenn schon keine direkte Demokratie – und diese ist aus praktischen (Informations-)Gründen oft tatsächlich nicht möglich --, dann zumindest eine repräsentative! Aber grundsätzlich würde ich weiterhin darauf pochen, dass alle, so gut es eben geht, sich die Zeit nehmen sollten, über diese Grundfragen nachzudenken. Schopenhauer spricht vom „metaphysischen Bedürfnis“ aller Menschen, meint damit aber nichts Religiöses, sondern einfach die Fragen: „Woher, Wohin, Wozu“. Natürlich wird man stets auch andere Meinungen einholen, aber für Humanisten bleibt dann notwendigerweise noch die Frage: „Ist das gut begründet, und Ist es wirklich etwas für mich?“

hpd: Sie haben vorhin gesagt, Eugen Drewermann hätte anscheinend so etwas wie einen „Schreibzwang“, so viel wie der Mann schreiben würde. Dazu fällt mir jetzt ein, dass Sie auch sagten, David Hume hätte 4.000 Seiten zur Geschichte Englands geschrieben. Ups, und nun frage ich mich, was haben Hume und Drewermann vielleicht gemeinsam oder anders gesagt, was trifft auf beide zu, was bei Hume klar ist, bei Drewermann zu klären wäre: Sie haben kein Fernsehen geschaut. (Lachen) Dieser Zeitfresser...

Streminger: ...Und beide blieben unverheiratet ... (Lachen) Aber es gibt auch große Unterschiede. Hume war Heide und Skeptiker, und Drewermann schreibt das Vielfache von 4.000 Seiten.

hpd: Ja, das ist richtig, aber ich meine jetzt nur den Zeithaushalt. Wenn ich in einer Partnerschaft lebe, mit jemandem meine Zeit teilen kann, schmusen und zärtlich sein kann, mich daran erfreuen kann, miteinander zu reden, dann werde ich das gerne tun, gebe aber dafür dann auch etwas oder vieles von meiner Zeit her, etwas zu schreiben. Ein Mensch, der alleine lebt, hat einfach mehr Zeit. Und wenn er kein Fernsehen schaut, hat er auch pro Tag zwei, drei Stunden mehr Zeit.

Streminger: Nun würde ich meinen, bei einem so großen Philosophen und Schriftsteller wie Hume, der sich auf verschiedenste Gebiete begeben hatte – das ist eine seiner großen Leistungen, dass er so viele Themen auf eine rationale Ebene gehoben hat: Was spricht dafür, was spricht dagegen - .... Allein dieser rationale Zugang zu den unterschiedlichsten Themen ist schon bemerkenswert und zeugt von einer Reife, die man von einem Unverheirateten vielleicht nicht erwarten sollte. (Lachen) Hume hat also ein Spektrum von Themen behandelt, während Drewermann immer wieder das Gleiche bearbeitet, zwanghaft kommt mir das vor, aber ich mag da vielleicht unfair sein. Den folgenden Unterschied meinte ich: Der eine ist kreativ, der andere repetitiv.

hpd: Mir ist beim Zuhören etwas aufgegangen. Wenn es für Humanisten eine Aufgabe wäre, diesen ganzen kirchlichen Glauben darzulegen, offen zu legen, was für ein Blödsinn das ist, das wäre doch das Beste, was Humanisten und Naturalisten passieren kann: Wenn Menschen; die jetzt noch sagen „Ich glaube“, darüber nachdenken, skeptisch werden und das Ganze sich auflöst.

Streminger: Genau! Einfach fragen: Warum? Argumente einfordern, Gründe einholen. Warum? Warum ist das so? Das genügt als Einstieg zum Humanismus schon. Die Vernunft kann nun einmal eine große Befreierin sein.

  

hpd: Sie werden aber dabei bei einem normalen heutigen Gläubigen, im Jargon ein „weichgespülter“ evangelischer Christ, keinen Widerstand erleben. Die sagen: Irgendwo sind wir ja alle Humanisten. In Bremen, einem Bundesland von Deutschland, wurde der Antrag für eine Humanistische Schule von der christlichen Bildungssenatorin mit der Begründung abgelehnt, weil Humanismus keine Weltanschauung sei, da die Gesellschaft durch die Aufklärung und ihre Folgen insgesamt humanistisch geworden sei. Die Richterin in der ersten Instanz hat völlig klar gesagt: Humanismus ist eine Weltanschauung, da sie sich in ihren Werten und Normen von anderen Auffassungen klar unterscheide. Die Frage: Was glaubt ihr eigentlich? trifft den normalen Evangelischen überhaupt nicht mehr. In den Diskussionen um die ehemalige Landesbischöfin Käßmann, messen ihre Anhängerinnen sie nicht mehr an der Übereinstimmung mit den Lehren der von ihr vertretenen Kirche, sondern werten ihr Bekenntnis des Verstoßes gegen diese Regelungen als höchste Glaubwürdigkeit. Im Namen der Religion – wie sie die interpretieren.

Streminger: Es gibt zweifellos das Phänomen der aufgeklärten Religiosität. Für mich ist das zwar ein Widerspruch in sich, eine blonde Locke auf einer Glatze. Aber es gibt nun einmal religiöse Menschen, die viele Forderungen der Aufklärung und des Humanismus mit großer Überzeugung vertreten. Aber dann, wenn es ums Eingemachte geht, werden sie plötzlich religiös und geben den Humanismus auf. Dann sagen sie einfach, dass sie eben daran glauben. Aber woran glauben sie denn eben? Wenn man mit einem stimmigen Weltbild leben will, dann genügt der reine Glaube nicht. Da man nämlich an unendlich viele Dinge glauben kann, muss begründet werden, was man davon für wahr hält. Glaubt man beispielsweise daran, dass Gott vor zwei Jahrtausenden am Kreuz gestorben ist oder nicht oder daran, dass fünf erotische Göttinnen in griechischen Gewändern im Traum bei Vollmond zu mir ins Bett kriechen werden …? Also gerade das Eingemachte, diese ‚Mitte des Lebens’, wie recht flockig in diesem Zusammenhang oft gesagt wird, muss begründet werden. Als denkender Mensch kann ich nicht zu achtzig Prozent humanistische Forderungen akzeptieren und dann bei den übrigen zwanzig Prozent, den besonders wichtigen noch dazu, meinen Verstand fahren lassen. Das geht konsequenterweise nicht oder anders formuliert: Eine solch irrationale Weltanschauung ist nicht gleichwertig einer humanistischen, die formal von sich fordert: Suche stets nach objektiven Gründen und versuche Dich immer an dem zu orientieren, was Dir am besten begründet erscheint. Diese Wahrheitssuche ist für den Humanismus konstitutiv, für religiöse Menschen offenbar nicht, denn diese begnügen sich mit subjektiv Erfahrenem bzw. Eingebildetem.

hpd: Da fällt mir ein: Was sagen viele Österreicher zum Nationalsozialismus: Jo, mei! (Lachen) Was sagt der „weichgespülte Christ“ zu dem Vorwurf, er hätte eine falsche Gottesvorstellung? Jo, mei!

Streminger: Aber allein schon durch diese Haltung entzieht er sich dem rationalen Diskurs und damit einem gut begründeten Weltbild und Handeln. Denn man kann nun einmal so vieles glauben, auch an die Wiederkehr Napoleons. Gerade in wichtigen Dingen sollte man nicht auf die vielleicht edelste menschliche Fähigkeit verzichten: Die Welt mit Hilfe empirisch-rationaler Kriterien zu verstehen.

hpd: Das ist alles richtig. Aber als Herbert Steffen aus der Kirche austrat, und der Pfarrer das am nächsten Sonntag sofort der Gemeinde von der Kanzel verkünden musste, kamen am Montag drei Frauen aus dem Betriebsrat seiner Fabrik in sein Büro und fragten ihn: „Herbert, bist du jetzt noch ein guter Mensch?“ Er hat daraufhin verständlicherweise schallend gelacht und versichert, dass er auch weiterhin ein guter Mensch sei. ....

Streminger: ... Als ob sich dies darin äußert, das man ein ‚höheres Wesen’ anbetet...

hpd: ... aber der Humanismus ist anspruchsvoll, und bei dieser einfachen Frage von vermutlich ‚einfachen’ Frauen, ist dann doch die Frage, ob der Humanismus auch nur einen kleinen Prozentsatz der Bevölkerung wird erreichen können? Und wenn die dann die mediale bzw. öffentliche Deutungskompetenz haben, dann werden auch die andern sagen: Nun gut, dann werden wir humanistisch, das ist jetzt das Erfolgsmodell.

Streminger: Mmh, solche Glücksritter mag ich schon gar nicht, weil sie, ganz anders als echte Humanisten, einfach Herdentiere geblieben sind. Aber wenigstens haben sie dann ihre Religiosität aufgegeben (lachen), zumindest so lange, bis das Religiöse, die transzendente Behausung wieder das Erfolgsmodell ist.

hpd: Ja schon, aber sie würden nicht den Humanismus leben, den die aktiven Humanisten sich vorstellen, sie würden nicht den anspruchvollen Humanismus des Diskurses leben, sich ständig in Frage stellen und begründen, sondern sie würden einfach übernehmen, was die anderen ihnen erzählen, und dann ist es gut so.

Streminger: Eben. Ich misstraue Menschen, die die Möglichkeit hätten, in grundlegenden Dingen die Warum-Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, dies aber nie tun. Aber dass es einmal zu einem fundamentalen Umdenken kommen könnte, ist vielleicht nicht so ganz aus der Luft gegriffen. Denn Kinder fragen doch auch. In diesem Sinn sind sie per se Humanisten; sie wollen beständig wissen: Warum ist das Gras grün? Warum ist der Himmel blau? … zumindest so lange, bis genervte Erwachsene ihnen das Fragen zumindest durch ihr Schweigen vergällen. Ihre Haltung ist aber durchaus philosophisch und wird dann von Philosophen kultiviert, denn diese tun im Grunde doch auch nichts anderes, gebrauchen allerdings zur Beantwortung ihrer Fragen natürlich feinere und systematischere Methoden. Aber warum sollten Denker dieses kontrollierte Fragen nicht weiter reichen, gleichsam als gesellschaftlicher Sauerteig wirken? Hier finde ich auch endlich einmal Unterstützung im Wort Gottes: „Lasset die Kinder zu mir kommen, denn ihrer ist – oje, also doch nicht – …. die Zukunft.“

hpd: Da kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die Ihnen vermutlich gefallen wird. Im Februar war meine Tochter mit ihrem Mann und der kleinen Tochter, sie ist gut fünf Jahre alt, im Salzkammergut. Es hatte heftig geschneit und die Schneefräsen hatten den Schnee hoch an die Straßenseiten geblasen. Dort stand ein großes „Wegmarterl“, dem der Schnee hoch bis an die Fußspitzen des Gekreuzigten reichte. Das Enkelkind blieb stehen, stutzte und fragte ihre Mutter: „Mama, was macht der Mann da?“ Meine Tochter fragte zurück: „Was meinst du, was der da macht?“ Ihre Tochter legte den Kopf etwas schräg, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, drehte den Körper etwas zur Seite und streckte dann ihre beiden Arme seitlich vom Körper weg und fragte sie: „Tanzt der?“

Streminger: Finde ich doch großartig! Auch das werden wir nicht mehr erleben, aber irgendwann werden Kinder, wenn sie eine Kirche sehen, vielleicht fragen: „Wie kommt denn bloß das Pluszeichen auf das Dach?“ Und sie werden diese dann als Erwachsene möglicherweise zu Bücher- und Wissenstürmen umbauen.

hpd: (lacht) Ach ja, „Gibt es das Kreuz auch ohne den Turner?“ Aber, das ist sicherlich eine schöne Zwischenüberschrift: „Wie kommt denn das Pluszeichen auf das Dach?“ Nun aber zum Schluss: Welches sind ihre nächsten Projekte, die sie bearbeiten? Haben Sie etwas in Vorbereitung zum 300. Geburtstag von Hume in 2011?

Streminger: Humes Geburtstag wird in der englischsprachigen Welt groß gefeiert werden. Ich gebe eine kleine Festschrift heraus, die im Januar 2011 als Sonderband von „Aufklärung & Kritik“ erscheinen soll. Dafür habe ich die meisten Hume-Forscher in Deutschland, so viele sind es ja nicht, zusammen getrommelt. Voraussichtlich im Februar 2011 erscheint dann auch die vierte Auflage meines dicken Hume-Buches; dieses Mal bei C. H. Beck. Ich habe für diese Ausgabe noch einmal alles überarbeitet und einen neuen Anhang geschrieben, in dem Humes Reisebericht aus dem Jahre 1748 neu übersetzt und kommentiert wird. Als Sekretär eines Diplomaten reiste er damals durch die Niederlande, durch Deutschland, Österreich und Norditalien. Von Deutschland, insbesondere von den protestantisch geprägten Gebieten, war er hellauf begeistert, von den mit einem Kropf geschmückten katholischen Steirern war er hingegen völlig entsetzt. In Wien traf Hume auch Maria Theresia … Leider habe ich vergessen, welchen Eindruck er von ihr hatte.

  

Was den hpd anlangt, so würde ich anregen, dass jeden Freitag eine Kolumne erscheint mit dem Thema „Religion und Werte“, und dass dort vor allem die philosophische Fraktion, aber natürlich auch die anderen Mitglieder des Beirats der Giordano Bruno Stiftung, ihre Stimme erheben. Zuerst sollten aber vielleicht die Philosophen gleichsam die ’Eckpfeiler’ abstecken.

hpd: Wie könnte so etwas aussehen? Wären es dann konkrete Themen oder wären es generelle Reflexionen?

Streminger: Das überließe ich ganz den Beiträgern. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass zunächst einmal Begründungsprobleme aufgeworfen werden sollten: Ist es überhaupt möglich, aus den traditionellen Glaubenssystemen Werte abzuleiten? Oder wird da nicht ein Märchen als Fundament genommen?

hpd: Das ist sicher wichtig, aber ich würde mir wünschen, dass man auch die andere Seite, die positive Seite des Humanismus diskutiert und entwickeln würde.

Streminger: Auf jeden Fall...

hpd: Ich habe mich schon häufig gefragt, warum entwickeln wir nicht ‚Bausteine’, nicht fertige Theoriegebäude, Bausteine zu konkreten Fragen, wie gehe ich damit um, zum Beispiel, wie gestalte ich eine Partnerschaft?, und bieten diese ‚Bausteine’ den Menschen an: Probiert es und wenn es gut für euch ist, behaltet und lebt es. Es gibt keinen ausschließlichen Königsweg. Du musst mit deinem Partner deinen und euren gemeinsamen Weg finden, eure Spielregeln formulieren.

Streminger: Aber so etwas gibt es schon und nennt sich praktische Ethik, wo noch viel mehr solcher Themen behandelt werden, und im Beirat der GBS sitzen die hervorragenden Experten auf diesem Gebiet: Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster.

hpd: Aber die Leistungsfähigkeit des Christentums besteht meines Erachtens u. a. darin, dass sie sowohl für die schlecht ausgebildete Bergbäuerin – die kaum zur Schule gehen durfte und als Kind die Kühe hüten musste – etwas anbietet – zum Beispiel das Bild der Mutter Gottes, des Leidens Marias, mit dem sie sich identifiziert, also aufgehoben fühlt, die verstehen mich – bis hin, mit allen Zwischenstufen, zu den abgehobensten philosophischen Diskursen wie im Mittelalter, wo sich Mönche darüber gestritten haben sollen, wie viele Engel auf einer Nadelspitze Platz finden würden. Das ganze Spektrum zwischen diesen Polen wird abgedeckt, von ganz einfachen Dingen, mit Bildchen und Devotionalien....

Streminger: ... Moral zu predigen ist nun einmal recht einfach, sie zu begründen aber schon erheblich schwieriger,...

hpd: ...und sie tatsächlich zu leben, dann noch schwieriger...

Streminger: ...Ich fürchte nur, für einfache Gemüter ist das alles zu schwierig. Denen genügt das Versprechen und damit leben sie dann. Ich nehme nicht an, dass alle jetzt schon zu erreichen sind, nein, das wohl nicht.

hpd: Es gab eine Zeit, als 98 % der Bevölkerung Mitglied in einer der beiden Großkirchen gewesen sind, warum sollen wir ausschließen, das einmal 98 % der Bevölkerung säkular denken, sie tun es doch schon zum überwiegenden Teil. Es ist doch ein auffallender Widerspruch, dass die meisten Menschen in Deutschland sich größtenteils pragmatisch verhalten, abwägen, mit Wahrscheinlichkeiten operieren und dann am Sonntag gehen sie in einen Tempel und beten ein imaginäres Alphamännchen an, das niemand kennt, noch keiner gesehen hat, unsichtbar ist. In Bremen hat mir ein Humanist einmal erläutert, wie er diesen Widerspruch aufgelöst hat. Er sei sehr evangelikal erzogen worden, dann als Jugendlicher ins Grübeln gekommen und habe eines Tages auf dem Marktplatz gesessen und gedacht, was ist, wenn es keinen Gott gibt. Er habe laut gesagt: „Es gibt keinen Gott!“ und – nichts passierte, alles blieb wie es war und er dachte sich, warum schleppe ich eigentlich diesen ganzen Ballast mit mir herum? In diesem Augenblick hatte er sich vom Religiösen gelöst.

Streminger: Wie schön für ihn. Eine schwere Last dürfte von ihm abgefallen sein. Wenn es für Menschen keinen Gott mehr gibt, dann ändert sich objektiv in der Welt zunächst einmal gar nichts, denn alles nimmt seinen gewohnten Lauf, immer noch die gleichen Naturkatastrophen etc. Aber wenn es für Menschen kein Recht mehr gibt, keine Polizei, keinen Staat, dann ändert sich sehr viel. Da sieht man, was wichtig ist und was nicht. Wir würden uns, wenn sich das Rechtssystem aufgelöst hätte, nicht mehr auf die Straße trauen; verglichen damit ist die Aufgabe des Gottesglaubens ziemlich wurscht.

hpd: Das ist ein schönes Schlusswort, das mit der Wurscht. Jetzt gehen wir essen. Herr Streminger, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Streminger: Auch ich möchte Ihnen für das Gespräch danken. Aber erlauben Sie mir, ehe wir Epikureer nach diesem Fest der Besonnenheit uns endlich kulinarischen Genüssen zuwenden, noch einmal den Kern meiner Religionskritik zusammen zu fassen.

Meine Zweifel (und die vieler anderer) gehen davon aus, dass die Beweise der Existenz Gottes misslingen und das Theodizee-Problem unlösbar ist, siehe etwa: Mackie, Das Wunder des Theismus; Hoerster, Die Frage nach Gott. Eben dies bedeutet, dass in begründeter Weise nicht behauptet werden könne, es gäbe trotz der Übel in der Welt einen gütigen und gerechten Gott. Meine Ausführungen sind Folgerungen aus dieser Überlegung. Natürlich ist es logisch möglich, dass Skeptiker irren und ihre Zweifel gegenstandslos sind. Aber solange nicht gezeigt ist, dass ein Beweis der Existenz Gottes gelingt und dass das Theodizee-Problem gelöst ist – und es gibt meines Erachtens keinerlei Hinweise dafür, dass den verschiedenen Theologen dies gelingen könnte – … solange also dies nicht gezeigt ist, solange hege ich die begründete Hoffnung, dass möglichst viele sich von der Vorstellung befreien, es gäbe ein mächtiges Wesen, das seine schützende Hand über uns alle hält. Denn die Lehre von einem gütigen und gerechten Gott ist in Wahrheit so solide wie Pudding, den man an die Wand nageln will, und ihr Inhalt ist die große Illusion der Menschheit, die Unmengen an Energien vergeudet hat (und vergeudet).

Und die humanistische Alternative? Selbst bestimmt und gut begründet dasjenige zu verwirklichen suchen, das am ehesten ein möglichst gutes Leben möglichst aller Lebewesen garantiert. Nicht mehr gilt: Durch den Tod Jesu wurde für alle der Weg zum ewigen Leben frei, sondern: Durch den Tod Gottes wurde der Weg zum Diesseits endlich wieder frei.

Aber wo bleibt denn der Sinn des Lebens?
Die Bekämpfung des Elends auf dieser Erde gibt allen unseren Anstrengungen reichlich Sinn. Dass ein bestimmtes Verhalten diesseitiges Leid mindert, ist ein hervorragender Grund, so zu handeln – und obendrein Lohn genug. Aber auch Humanisten haben Angst vor dem Tod! Wenn man ein erfülltes, sinnvolles Leben führen kann, so bereitet das Leben nach dem Tod so große Sorgen wie das Leben vor der Geburt, nämlich keine.

 

  

Für den hpd sprach Carsten Frerk mit Gerhard Streminger.

Das Interview wurde am 29. und 30. Mai in Bad Radkersburg aufgezeichnet.