Rezension

"Generation Haram"

Melisa Erkurts "Generation Haram" stellt eine Art Gegenentwurf zu Susanne Wiesingers "Kulturkampf im Klassenzimmer" dar. Erkurt kritisiert, dass Kinder von Migranten im österreichischen Bildungssystem diskriminiert werden, und fordert, dass sich die Bildungspolitik den Lebenswelten aller Schülerinnen und Schüler anpassen müsse.

Melisa Erkurt war Chefredakteurin beim Migrantenmagazin Biber, dann Journalistin beim Falter. Seit 2019 arbeitet sie beim ORF. Darüber hinaus war sie ein Jahr lang als Lehrerin tätig. Gerade die in der Lehrtätigkeit gewonnenen Eindrücke werden im vorliegenden Werk thematisiert. Ihrer Meinung nach gibt es im Bildungssystem, welches von autochthonen Akademikern gemacht wurde, eine massive strukturelle Diskriminierung von Migranten. Das System sei für die Mittelschicht gemacht, wo die Eltern über die Ressourcen verfügen, ihre Kinder zu unterstützen. Zusätzlich würden Migrantenkinder auch von Lehrern diskriminiert, so dass ein Mehmet anders benotet wird als ein Max. Auch die Lehrer seien nicht ausgebildet, um Hülyas und Alis zu unterrichten. Die Bildungspolitik müsse daher diverser werden und mit Personen besetzt werden, welche die Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler verstehen. Es sollte ein zusätzliches Fach wie Lesen und Literatur geben, in dem Lesekompetenzen noch auf einer zusätzlichen Ebene geübt werden. Wünschenswert wäre ferner eine verpflichtende, kostenlose Ganztagsschule mit einer entsprechenden "Durchmischung" durch autochthone Schüler. Ihre Thesen führten zu teilweise sehr emotionalen Kommentaren in den jeweiligen Medien.

Die persönliche Geschichte

Beispielbild
Melisa Erkurt: Generation Haram.

Ein Blick in ihre persönliche Geschichte erklärt zumindest ansatzweise ihre Einstellung. Erkurt war 1992 gemeinsam mit ihrer Mutter vor dem Balkankrieg nach Wien geflüchtet. Ihre Schulzeit verbrachte sie in Purkersdorf. Zur Erklärung für die Nicht-Wiener: Purkersdorf stellt eine relativ vornehme Vorstadtsiedlung dar. Die dortigen sozialen Lebensumstände sind mit denen der durchschnittlichen Wiener nur sehr eingeschränkt vergleichbar. Hier erlebte sie die soziale Differenz zwischen der Flüchtlingsfamilie einerseits und der Bourgeoisie andererseits. Diese Erfahrungen führten zu einem sehr speziellen Eindruck der österreichischen Gesellschaft und erklären auch die von Melisa Erkurt etwas despektierliche Bezeichnung der "normalen" Österreicher als "Bobos". Bezeichnenderweise fühlte sie sich bemüßigt, gemeinsam mit ihren Klassenkameraden in die Tanzschule Elmayer zu gehen. Wieder zur Erklärung für die Nicht-Wiener: Der "Benimm-Papst" Thomas Schäfer-Elmayer ist der Inhaber der berühmtesten Tanzschule in Wien und das Parkett für die "bessere" Gesellschaft, oder – um in der Erkurt-Diktion zu bleiben: Der "Elmayer" ist der klassische Bobo-Treffpunkt. Aufschlussreich erscheinen auch die familiären Verhältnisse. Beide Eltern gingen anstrengenden Vollzeit-Beschäftigungen nach, der Vater wurde offensichtlich an seiner Arbeitsstelle massiv rassistisch diskriminiert und gab diesen Hass auf Österreich an seine Tochter weiter. Bezeichnend für das Verhältnis zur Bildung und auch zur Karriere ist ferner, dass der eigene Vater keine Ahnung hatte, welches Studium seine Tochter in Österreich erfolgreich abgeschlossen hatte!

Islamapologetik und antimuslimischer Rassismus

Melisa Erkurt vertritt ein durchaus dualistisches Weltbild. Da gibt es auf der einen Seite die muslimischen Migranten mit ihren berechtigten Forderungen und auf der anderen Seite die autochthone Mehrheitsgesellschaft voller antimuslimischer Ressentiments, welche diese Migranten permanent diskriminiert und beim beruflichen Erfolg behindert. Das Buch sieht sich offenbar als Gegenentwurf zu Susanne Wiesingers "Kulturkampf im Klassenzimmer", in welchem die passionierte Lehrerin den Islam für die Schulprobleme verantwortlich macht. Lesenswert ist auch die Diskussion der beiden Autorinnen.

Im Unterschied zu Susanne Wiesinger sieht Erkurt also die Verantwortung für das Scheitern der muslimischen Migranten in der diskriminierenden Mehrheitsgesellschaft und im Bildungssystem der Bobos. Das problematische Verhalten muslimischer Schüler wird als Trotzreaktion auf die antimuslimische Diskriminierung angesehen. Das Buch stellt gewissermaßen ein islamapologetisches Werk dar, frei nach dem Motto: "Das hat nichts mit dem Isam zu tun, die Schuld am Scheitern tragen die antimuslimisch-rassistischen Ungläubigen." Diese Rassismus- und Diskriminierungskeule wird von Melisa Erkurt eifrig und nicht immer nachvollziehbar geschwungen.

Als diskriminierend wird etwa die Wohnsituation der ersten Jahre als Flüchtlingskind empfunden. Die Wohnungen seien gerade gut für Ausländer gewesen. Tatsache ist aber, dass es durch die humanitäre Katastrophe des Balkankrieges mit Tausenden von Flüchtlingen damals alles andere als leicht war, überhaupt Wohnraum zu organisieren. Als ebenso diskriminierend wird der Umstand empfunden, dass Lehrer die Namen ihrer ausländischen Schüler oftmals falsch aussprechen. In einer Klasse mit Kindern von 20 verschiedenen Nationen erscheint diese Korrektheit gerade am Beginn eines Schuljahres dem Lehrkörper kaum zumutbar. Nachvollziehbar erscheinen hingegen die geschilderten Diskriminierungserfahrungen, welche im Zusammenhang mit dem konfessionellen Religionsunterricht stehen. Ihre Schilderungen bestätigen auch die Forderung säkularer Verbände nach der Abschaffung desselben.

Wenn man das Buch so liest, fragt man sich unwillkürlich, warum nicht-masochistisch veranlagte Menschen in diesem fremdenfeindlichen Land bleiben. Zitat Erkurt: "Man weist uns nach wie vor einen Platz in der zweiten Reihe zu. Wir werden jetzt zwar ins Haubenrestaurant gelassen, aber bekommen den Platz beim WC."

Die These von Melisa Erkurt ist in mehrerer Hinsicht problematisch. Warum haben muslimische Migranten in ganz Europa (auch dort, wo ganz andere historische und gesellschaftliche Voraussetzungen herrschen als in der Alpenrepublik) die gleichen bildungs- und karrieretechnischen Probleme? Und warum hat in Österreich gerade diese Gruppe ein so massives Integrationsproblem? Ein Blick in das lokale Telefonbuch bestätigt den bekannten Spruch, dass in Wien der Balkan beginnt. Wieso haben es diese nicht-muslimischen Migranten geschafft, hier geistig und materiell Fuß zu fassen?

Es wird dem geneigten Leser nicht entgangen sein, dass es sich auch beim Rezensenten um den Sprössling einer Familie von "Beuteösterreichern" handelt. Seine Vorfahren kamen im 19. Jahrhundert als sogenannte "Ziegelbehm" (übersetzt: "Ziegelböhmen", ein Wiener Ausdruck für jene tschechischen Hilfsarbeiter, die damals in den Ziegeleien südlich von Wien unter großteils katastrophalen Bedingungen tätig waren) in die österreichische Hauptstadt.

Das Bildungssystem und die Eigeninitiative

Auch diese generelle Kritik am Bildungssystem lässt sich schwer aufrechterhalten. Logischerweise haben es Wohlhabende auch im Bildungssystem leichter. Aber gerade die Wiener Bildungslandschaft wurde und wird erheblich von der Sozialdemokratie geprägt, welche immer bestrebt war, hier zumindest eine annähernde Chancengleichheit herzustellen. Neben einem kostenlosen Schulsystem und dem freien Universitätszugang (inklusive Stipendienwesen) existiert ein gut ausgebautes Netz an Volkshochschulen sowie an öffentlichen Büchereien. Kostenlose und kostengünstige Bildungsmöglichkeiten gibt es also zu Genüge und viele Kinder von Arbeiterfamilien haben dieses Angebot für ihre Karrieren genutzt.

Erkurt versteigt sich sogar zu der These, dass die rassistische Diskriminierung der Grund sei, warum sich Muslime nicht bei Fridays For Future engagieren. Man kann zu der "Heiligen Greta" und ihren Jüngern stehen, wie man will. Aber diese jungen Menschen verharren eben nicht passiv zwischen Kismet und Maschallah, sondern sie versuchen, ihr Leben problemlösungsorientiert in die Hand zu nehmen und die Zukunft aktiv zu gestalten. Sie recherchieren, organisieren und hinterfragen Meinungen von Politikern. Sie zeigen damit Eigeninitiative und Engagement, und das sind genau jene Fähigkeiten und "Soft Skills", die helfen, Ausbildungen erfolgreich abzuschließen, und welche sie auch für zukünftige Arbeitgeber zu attraktiven Mitarbeitern in verantwortungsvollen Jobs machen. Kurzum: diese Aktivisten verfügen genau über jene Charaktereigenschaften, welche manchen Muslimen offenbar fehlen.

Die "diskriminierende" Wahrheit

Auf der einen Seite kritisiert Melisa Erkurt die diskriminierenden Verallgemeinerungen der "rassistischen" Mehrheitsgesellschaft, auf der anderen Seite bestätigt ihre eigene Darstellung allerdings, dass diese Verallgemeinerungen zwar dem Individuum gegenüber ungerecht sind, aber eine reale Grundlage dieser "Vorurteile" nicht zu leugnen ist. Die Zustände, mit welchem ein Lehrkörper bei muslimischem Klientel konfrontiert ist, stellen sich wie folgt dar: Drei Viertel der Eltern arbeiten nicht (S. 22), die meisten Familien haben kein einziges Buch zu Hause (S. 25), es werden (wie auch bei den Erkurts) keine klassischen Medien konsumiert, weil diese von Autochthonen für Autochthone gemacht sind und muslimische Migranten dort nicht vorkommen (S. 62 und 128).

Es herrschen immer noch archaische Vorstellungen hinsichtlich des Patriarchats und der Sexualmoral vor, zusätzlich gibt es ein massives Interesse an Hymenrekonstruktionen (S. 112). Garniert werden diese Positionen mit der weit verbreiteten Überzeugung hinsichtlich der Richtigkeit antisemitischer Stereotype (S. 151). Gerade diese Einstellung zu den lokalen Medien offenbart die Verachtung der nichtmuslimischen Umwelt. Die muslimischen Migranten zeigen daher zu einem großen Teil jenes Verhalten, welches gerne als "Ballermann-Syndrom" bezeichnet wird. Darunter versteht man deutsche Urlauber, welche den Urlaub in einer deutschen Enklave mit deutscher Parallelgesellschaft bevorzugen, ohne Interesse (beziehungsweise auch bei gleichzeitiger Geringschätzung) für die lokale Mentalität und Kultur.

Islamisierung des Bildungswesens

Melisa Erkurt kritisiert sowohl das Kopftuchverbot als auch die Versuche, Sozialleistungen von den Deutschkenntnissen abhängig zu machen. Hier stellt sie die (arbeitsrechtlich hochgradig problematische!) Forderung, dass bei Stellenbesetzungen Menschen mit Diskriminierungserfahrungen bevorzugt behandelt werden müssen. Muslimische Schüler hätten mehr Vertrauen zu Lehrerinnen mit Kopftuch. Somit sollen gezielt MigrantInnen als LehrerInnen gewonnen werden und es sei ein "heterogenes" Lehrerzimmer anzustreben. Was hier verdeckt (und vermutlich unbewusst) gefordert wird, ist die Islamisierung des Bildungssystems!

Ihrer Meinung nach soll der Staat keinen Druck auf die Eltern ausüben, denn diese könne man ohnehin "vergessen" (S. 131). Stattdessen sollen die Migrantenkinder durch die verpflichtende Ganztagesschule für alle Schüler einen Lernraum erhalten, der ihnen durch die familiären Bedingungen (sprich: den Kinderreichtum ihrer Familien) und die fehlende technische Infrastuktur (fehlende PCs und eigener Schreibtisch) verwehrt ist.

Erfolgreiche Mitbürger unterscheiden sich von weniger erfolgreichen auch dadurch, dass erstere sich überlegen, wie viele Kinder man sich sinnvollerweise leisten kann. Verantwortungsvolle Eltern wissen nämlich, dass Kinder Zeit, Geld und Energie kosten, damit ihnen eine realistische Chance auf ein selbstbestimmtes und glückliches Leben offensteht. Die Situation bei den muslimischen Familien, welche auch im Buch mehrfach beschrieben wird, ist folgende: Die Eltern sind als Transferleistungsempfänger nicht einmal in der Lage, für sich selbst zu sorgen. Das hindert sie aber nicht, mehrere Kinder in die Welt zu setzen, welche somit die besten Voraussetzungen mitbringen, um dauerhaft im Sozialsystem zu landen. Das Bildungssystem ist per se nicht diskriminierend, es ist allerdings für Menschen gedacht, welche eine verantwortungsvolle Familienplanung betreiben und sich nicht permanent reproduzieren, sei es aus religiösen, traditionellen, finanziell-sozialen Gründen, aus Gedankenlosigkeit oder weil es der Imam beziehungsweise Präsident Erdoğan so verkündet hat.

Die hier erhobenen Forderungen stellen auch ein Paradebeispiel islamischer Herrschaftskultur dar. Wenn Muslime im jeweiligen System keinen Erfolg haben, dann kann nicht erwartet werden, dass diese ihr Verhalten reflektieren und dementsprechend adaptieren. Es wird vielmehr von den ungläubigen Bobos erwartet, dass diese ihr System nivellieren und an die Bedürfnisse der Muslime anpassen.

Das "Problem" Alma Zadic

In ein argumentatives Dilemma gerät Erkurt allerdings angesichts der migrantischen Erfolgsgeschichten, welche eindeutig gegen die Diskriminierungsthese und das migrantenunfreundliche Schulsystem sprechen. Das auch von ihr erwähnte Paradebeispiel ist Frau Dr. Alma Zadic. Diese war als Zehnjährige mit ihren Eltern aus Bosnien geflohen, lernte erst in Wien Deutsch, brillierte als Vorzugsschülerin und wurde nach einer erfolgreichen Anwaltstätigkeit bereits mit Mitte 30 österreichische Justizministerin. Wie ist das erklärbar und wo liegen die Unterschiede?

Erstens kommt Frau Zadic aus einem gebildeten Elternhaus und musste ihren Schreibtisch nicht mit mehreren Geschwistern teilen. Darüber hinaus verbrachte sie ihre Freizeit mit dem Lesen von Büchern und vermutlich auch mit der Konsumation lokaler Medien. Ihren Eltern war die Karriere der Tochter offenbar nicht gleichgültig. Sie hat ihre Chancen in Österreich erkannt und fühlt sich anscheinend – wie auch andere erfolgreiche Migranten – als Österreicherin mit bosnischen Wurzeln. Überdies ist Frau Zadic erklärte Atheistin. Gerade der letzte Punkt ist ein weiteres Indiz dafür, dass die von Melisa Erkurt beschriebenen Probleme vielleicht mehr mit dem Islam zu tun haben, als sie selbst wahrhaben möchte.

Melisa Erkurt: Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben. Paul Zsolnay Verlag, 2. Auflage 2020. 192 Seiten. ISBN-13 : 978-3552072107. 20 Euro.

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