Die Vorstellungen, welches Verhalten moralisch ist, sind äußerst variabel. An unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten galten und gelten unterschiedliche Regeln. Ein Gedankenspiel von Roland Gugganig.
Angenommen, wir fänden in einem bislang unentdeckten Alpental ein frommes Bergvölkchen, das rituell seine Toten verspeist. Das Mahl zelebrieren die Dörfler festlich und mit hohem Respekt vor den Verblichenen … denn die, so glaubt man dort innig und ernsthaft, leben weiter in den Körpern ihrer Liebsten.
Im goldenen Bestattungskochbuch des Bergvölkchens stehen erhabene Lieder neben heiligen Rezepten wie Tafelspitz Oma, Salonbeuschel Opa, Carpaccio von Jungverstorbenen und, falls ein Pfarrer das Zeitliche segnet, Shepherd's Pie mit Hirtenkäse. Dazu Chianti aus der zeremoniellen Karaffe.
(Der Logik zuliebe sind die hypothetischen Dorfbewohner über die Jahrhunderte genetisch resistent geworden gegen Creutzfeldt-Jakob und Kuru-Krankheit, sonst wären sie längst ausgestorben.)
Das Entsetzen der alpinen Forscher kann man sich ausmalen. Für die Presse ist die Story ein gefundenes Fressen: Shocking! Würg!
Aber mit ebensolchem Grausen winden sich die Pietätskannibalen, als sie von unseren barbarischen Sitten erfahren: "Ihr lasst eure Verwandten unter einem Stein verrotten und von Würmern fressen? Euren Freunden erweist ihr die letzte Ehre, indem ihr sie zu Asche verbrennt für den Kaminsims? Habt ihr kein Herz?"
Ethikexperten und moralische Relativisten horchen auf. Kann man den hungrigen Hinterwäldlern Verwerflichkeit vorwerfen? Womit rechtfertigen wir Vorwäldler unseren spontanen Widerwillen? Denken wir zu Recht sofort an Hannibal Lecter und an blutrünstige "wilde Heiden" im Urwald von Papua-Neuguinea? Sind unsere Tabus einfach besser? Und verschmähten wir tatsächlich seit jeher Menschenfleisch?
Nicht ganz: Im Mittelalter versprachen sich manche Gelehrte heilende Wirkung vom Inkorporieren geläuterter Sünder. Der Prediger John Keogh verschrieb gegen Schwindelanfälle pulverisiertes Menschenherz. Paracelsus, der berühmte Theosoph und Promidoktor, machte den medizinischen Kannibalismus salonfähig bis in royale Kreise. So etwa schwor der britische Monarch Karl II. auf seine täglichen "Königstropfen": ein Destillat aus menschlichen Hirnen. Zaubermedizin!
Der Arzt Johann Schröder, deutscher "Physikus primarius" des 17. Jahrhunderts, gab Tipps zur Zubereitung von menschlichem Muskelfleisch. Quetschungen wurden mit Leichenpaste gelindert. Mönche fabrizierten Marmelade aus Menschenblut, um "dämonische Krankheiten" auszutreiben. Armesünderschmalz, Schelmenfleisch und sogar die Leiber ungetauft gestorbener Kinder wurden verarbeitet zu Salben gegen Rheuma und Suppen gegen Gicht. Bis weit ins 18. Jahrhundert blieben die Rezepte populär in Europa. Geschäftstüchtige Henker verkauften routinemäßig Körperteile direkt vom Schafott.
Auch heute, man höre und staune, ist die Nekro-Keto-Diät nicht explizit vom Speisezettel verbannt. Mord und Totschlag waren und sind kapitale Verbrechen, aber das Verschmausen von Verstorbenen? "Nach deutschem Strafrecht", sagt der Rechtsprofessor Lorenz Böllinger, "ist das Essen von Menschenfleisch kein Tatbestand". Hinter Gittern landet man allenfalls wegen Störung der Totenruhe – in Deutschland drohen drei Jahre, in Österreich sechs Monate.
So sind wir nun als zivile Delegation ins Alpendorf zum Totenmahl geladen. Die Relativisten, Servietten um den Hals, müssen die Kröte wohl oder übel schlucken und auch den Nachschlag verputzen. Die Katholiken kauen zähneknirschend und denken an das Dogma der Transsubstantiation, bei der Kekse und Wein sich "buchstäblich" verwandeln in Jesu Fleisch und Blut. Mahlzeit.
Langen auch die Humanisten in den Topf? Respekt vor heiligen Büchern liegt uns zwar fern und Weiterleben in fremden Wampen halten wir für mystischen Unfug. Aber welche ethischen Bedenken halten wir den makaberen Typen entgegen – diesen herzlichen, bodenständigen und gastfreundlichen Leichenfledderern, die im Grunde genommen niemandem etwas zuleide tun?
6 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Mahlzeit, lieber Roland, zu deiner Glosse; aber zu "diesen herzlichen, bodenständigen und gastfreundlichen Leichenfledderern" gehöre ich, zumindest wissentlich, nicht.
Roland Gugganig am Permanenter Link
"Zumindest wissentlich nicht", lach. Wo genau bestellst du dein Schnitzel? Will ich die Adresse kennen?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ob du die Adresse kennen willst, Roland, weiß ich nicht. Sie ist üblicherweise bei mir daheim (ich koche/brate/etc. ja liebend gern) - oder auch schon mal hier im Rheingau, in München oder auch auf Rhodos...
Roland Gugganig am Permanenter Link
Komme zum Essen, wenn ich darf.
SG aus E am Permanenter Link
Eigentlich schade, dass dieser Artikel bisher nur einen Kommentar hervorrief. Das Thema ist wichtig.
[A] O.K., anstatt ein Schweizer Bergvölkchen zu erfinden, hätte man real existierende Bräuche zum Thema machen können. Beispielsweise diesen aus dem persisch-indischen Raum:
"Für Bestattungen werden einige Methoden im Umgang mit Leichen zurückgewiesen. Man darf sie weder kochen, schmoren noch verzehren. Das Kremieren, das Versenken von Leichen in Wasser und das Beerdigen von Leichen ist verboten. [...] Früher war es bei den Zoroastriern üblich, Leichname zur Luft- oder Himmelsbestattung in Dakhmahs zu legen. In diesen runden, oben offenen 'Türmen des Schweigens' können Fleisch und Weichteile der Verstorbenen von Vögeln, nicht aber von Landtieren gefressen werden. [...] In Indien werden die traditionellen Bestattungen noch praktiziert, so zum Beispiel in Mumbai. Dort werden die Leichen auf hohe Türme gelegt und dienen den Raubvögeln als Nahrung. Die sieben 'Türme des Schweigens' umgeben die hängenden Gärten auf dem Malabar-Hill, mitten in der Stadt. So kommt es immer wieder zu Beschwerden und Diskussionen, da Teile der Leichen von Raubvögeln fallen gelassen werden." (1)
[B] Man hätte auch die langwierigen Verhandlungen um Liberalisierung von Friedhofszwang und Bestattungswesen in Mitteleuropa zum Thema machen können. Z.B.: Wer ist warum ist dagegen, sarglose Bestattungen zu erlauben?
"In fast allen Bundesländern können Tote inzwischen aus religiösen Gründen ohne Sarg bestattet werden. [...] Bayern war im vergangenen Frühjahr eins der letzten Bundesländer, die die Sargpflicht aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen abgeschafft oder gelockert hatten. Nur in Sachsen und Sachsen-Anhalt gilt diese aktuell noch. Beide Bundesländer planen aber, ihr Bestattungsrecht zu ändern." (2)
[C] Das eigentlich Interessante an Normen ist zu beobachten, wie sie sich verändern. So war es im Deutschland Adenauers verpönt und meist verboten, den Rasen in öffentlichen Parks zu betreten. Die Veränderung kam – wie so oft – durch Migration: Die Gastarbeiter setzen sich über die Regeln der deutschen Mehrheit einfach hinweg und in Gruppen auf die Grünflächen. Erst war die Aufregung groß, inzwischen machen die Bio-Deutschen es ihnen eifrig nach.
Doch nicht alle Normen, die Migranten aus ihrer Heimat mitbringen, werden von der Mehrheitsbevölkerung so schnell und letztlich problemlos akzeptiert. Um das genauer zu untersuchen, gibt es in Deutschland den Forschungsverbund "Normative Ordnungen" der Goethe-Universität Frankfurt am Main (3). Leider sind dessen Veröffentlichungen für das breite Publikum kaum verständlich, sodass sie für die öffentliche Debatte nutzlos bleiben.
Nur einer Person im Forschungsverband ist es gelungen, in größerem Rahmen wahrgenommen zu werden: Prof. Susanne Schröter. Sie ist bekannt als Warnerin vor dem sog. politischen Islam, der importierte Regeln bei uns erst salonfähig und dann für alle verbindlich machen will – und das betrifft mehr als nur nur das Kopftuch:
"Der Islamismus ist eine organisierte Kraft, dessen Funktionäre mit allen Mitteln versuchten, die Freiheitsrechte des Individuums als unislamisch hinzustellen und eine normative Ordnung zu etablieren, die sich an islamistischen Vorstellungen orientiert. Was das konkret bedeutete, war für mich schockierend. [...] Wir haben festgestellt, dass der Vormarsch des politischen Islam in vielen Ländern – von Indonesien bis Mali – in ganz ähnlicher Weise geschieht. Und überall spielt die Unterwerfung von Frauen unter diskriminierende religiös begründete Normen eine zentrale Rolle. Überall wird der Schleier zwangsverordnet." (4)
Man sieht, eine Beschäftigung mit Normen und normativen Ordnungen betrifft uns alle – eine Diskussion darüber ist absolut nötig.
—
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Zoroastrismus#Totenkult
(2) https://www.islamiq.de/2022/11/15/trotz-lockerungen-sarglose-bestattungen-werden-wenig-genutzt/
(3) https://www.normativeorders.net/
(4) https://taz.de/Forschung-zum-politischen-Islam/!5608768/
Hans Trutnau am Permanenter Link
Liebe/r SG aus E,
Das war/ist eine Glosse - die, obschon wichtig, wörtlich nicht auf die Goldwaage gelegt werden sollte.
Dank dennoch für die vielfältigen Erörterungen!