Welche Rolle soll Religion heute spielen? So wenig wie möglich, wenn es nach Helmut Ortner geht. Statt das "christliche Abendland" zu beschwören, ist es an der Zeit, die Grundlagen eines säkularen Staates zu verteidigen – meint der Herausgeber und Autor einer Streitschrift, die jetzt unter Titel "EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen" erscheint.
Mart van Holst: Ist Ihr Buch eine Reaktion auf die zahllosen Missbrauchsfälle?
Helmut Ortner: Die Missbrauchsverbrechen zeigen: das System katholische Kirche ist krank. Doppelbödigkeit und Verlogenheit, das ist der Wesenskern dieser Institution. Die Kirche hat ihre Täter so lange vor dem Rechtsstaat geschützt, bis man diese juristisch nicht mehr belangen konnte ...
Eine kirchliche Paralleljustiz, die Täter schützt?
Ja, ein ex-territorialer Raum, der jenseits rechtsstaatlicher Institutionen agierte, richtiger: nicht agierte. Bis heute. Sexueller Missbrauch ist ein sogenanntes "Offizialdelikt", eine Straftat, die von Amt wegen von der Staatsanwaltschaft verfolgt werden muss, aber weder von der Kirchen noch von den Ermittlungsbehörden mit Nachdruck verfolgt wurde. Eine erschütternde Wirklichkeit.
Die Justizbehörden haben zögerlich oder nicht konsequent genug reagiert. Es gab kaum Sanktionen ...
Man stelle sich einmal ein anderes weltweit agierendes Unternehmen vor, dessen Angestellte über Jahrzehnte Tausende Straftaten begangen haben – keine Bagatellvergehen, sondern schwere und schwerste Verbrechen: den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Der Vorstand weiß davon, aber er vertuscht, deckt die Täter und verhängt keine sichtbaren Sanktionen, weder gegen die Täter noch gegen deren Helfer. Normalerweise müsste man die Staatsanwaltschaft einschalten, aber das Unternehmen unternimmt nichts. Und wo kein Kläger, da kein Ermittler. Hier aber ging und geht es nicht um ein normales Unternehmen, sondern um eine Weltfirma, die als Alleinstellungsmerkmal Barmherzigkeit und Glaubwürdigkeit beansprucht: die katholische Kirche.
Die Glaubwürdigkeit hat massiv darunter gelitten, das zeigen die zahlreichen Kirchenaustritte ...
Wie Kirchenmitglieder darauf reagieren, ist deren private Entscheidung. Der gläubige, katholische Mensch blickt nicht gerne in den Giftschrank seiner Kirche. Gottes Schäfchen sind geduldig. Der Rechtsstaat aber muss hier konsequent vorgehen. Das hat er nicht getan. Die Verantwortlichen haben versagt. Das Jahrzehnte lange Vertuschen und Verleugnen wurde hingenommen. Eine unselige Komplizenschaft.
Die Missbrauchsfälle sind ein Thema. In den Essays des Bandes geht aber vor allem, thematisch breit gestreut, um die nicht stattfindende, gesetzlich aber geforderte Trennung von Kirche und Staat.
Wir feiern in diesem Jahr "70 Jahre Grundgesetz" und "100 Jahre Weimarer Verfassung". In beiden finden sich entsprechende Bestimmungen zur Trennung von Staat und Kirche. Doch sie wurde bis heutige nicht vollzogen.
Noch immer finanziert der deutsche Staat die Kirchen mit Milliardenbeträgen. Und noch immer schränken religiös beeinflusste Gesetze die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger ein. Das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates wird vielfältig und permanent unterlaufen.
Es muss Schluss damit sein, dass Bischofsgehälter aus dem allgemeinen Steuertopf bezahlt werden, dass die Kirchen das Arbeitsrecht aushebeln können, dass schwerstkranken Menschen das Recht verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben. Die Autorinnen und Autoren beschreiben anschaulich die Facetten des alltäglichen Verfassungsbruchs.
Aber Sie akzeptieren, dass unsere heutige Demokratie unstreitbar auf einem Menschenbild gründet, das viel mit dem Christentum zu tun hat?
Das stellt doch niemand infrage. Aber, erstens: die Geschichte zeigt, dass die christlichen Kirchen nicht unbedingt Trägerinnen der Demokratie waren – und sind. Was heute Staat und Staatsbürger ausmacht, ist gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden. Und zweitens: unser Land ist ein Verfassungs- und kein Gottes-Staat. Ein Staat, der Religions- und Weltanschauungsfreiheit garantiert und religiös-weltanschauliche Neutralität praktiziert. Entscheidend sind nicht religiöse Präferenzen, sondern Verfassungstreue.
Wie bewerten Sie den Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes?
Der sollte gestrichen werden. Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein.
Also auch keinen Religionsunterricht in Schulen, kein Kruzifix in Amtsstuben, kein Tanzverbot am Karfreitag?
Nein, wir brauchen keinen bekenntnisorientierten Religionsunterricht in staatlichen Schulen, separiert nach Konfessionen. Besser wäre ein gemeinschaftlicher Ethik-Unterricht. Und ein Kruzifix an der Wand hat weder in einem Klassenzimmer noch im Gerichtssaal etwas verloren. Wer an einem christlichen Feiertag nicht tanzen möchte, dem sei eine kontemplative Auszeit auf dem heimischen Sofa empfohlen ...
Kann unsere Demokratie das nicht aushalten?
Noch einmal: es geht nicht um die Austreibung Gottes aus der Welt. Glaubens- und Religionsfreiheit ist Menschenrecht. Im Gegenteil: Demokratische Staaten garantieren religiösen Gruppen, Gemeinschaften oder Kirchen, dass sie frei agieren können, soweit sie nicht die Freiheiten anderer gefährden oder die Gesetze verletzen. Aber ich hätte keinerlei Einwände, wenn das Neutralitätsgebot endlich Anwendung fände und der Einfluss der Religionen hierzulande, vor allem der der beiden großen christlichen Konfessionen, entscheidend eingeschränkt und zurückgedrängt würde, inklusive aller Privilegien und Subventionen.
Sie fordern weniger Religion. Wie sieht das säkulare Ideal aus?
Heilige Schriften mögen im Mittelalter relevant gewesen sein. Heute, im Zeitalter künstlicher Intelligenz, der Biotechnologie, des Klimawandels und des Cyberkriegs geben sie keine Antworten. Sie liefern keine tragfähigen Visionen für die Zukunft unseres Planeten. Sicher: Menschen können aus Glaubenstraditionen Lebenssinn und Kraft schöpfen. Gesellschaftlich aber können Religionen uns nicht helfen, die großen Probleme, vor denen wir stehen, zu lösen ...
Und deshalb wollen Sie die Religionen zurückdrängen?
Nach wie vor lehren Religionen vor allem das Fürchten, stehen für Gewalt, Intoleranz und Unterdrückung. Ungläubige und Gottlose werden in vielen Ländern noch immer verfolgt, bestraft, getötet.
Ob Islamisten, orthodoxe Juden oder Fundamental-Christen, der Irrsinn himmlischer Bodengruppen ist grenzenlos. Noch immer ist ihr Einfluss auf Politik und Gesellschaft weltweit stark und unheilvoll. Ob als autoritäre Staatsdoktrin oder gesellschaftliches Sinnstiftungsangebot – es braucht keine Religion für ein friedvolles Zusammenleben und einen furchtlosen Ausblick in die Zukunft.
Es braucht keinen Gott als strengen und irdischen Gesetzgeber – wir brauchen eine säkulare Verfassungswirklichkeit, die den Gläubigen genauso schützt wie den Ungläubigen. Das Buch ist ein Plädoyer gegen jede Form von Gottesstaat – für eine humane, säkulare Demokratie.
Das Interview führte Mart van Holst für einen Radiosender. Der hpd erhielt von Helmut Ortner die Genehmigung zur Veröffentlichung.
EXIT – Warum wir weniger Religion brauchen – Eine Abrechnung, Nomen Verlag Frankfurt 2019, 360 Seiten, 22,00 Euro
Mit Beiträgen u. a. von Hamel Abdel-Samad, Michael Schmidt-Salomon, Georg Diez, Carsten Frerk, Ingrid Matthäus-Maier, Klaus Ungerer, Constanze Kleis, Michael Herl, Phillip Möller, Andreas Altmann und einem Gespräch mit Richard Dawkins.
Der Herausgeber Helmut Ortner, Jahrgang 1950, hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien veröffentlicht, u. a. Der Hinrichter – Roland Freisler, Mörder im Dienste Hitlers, Der einsame Attentäter – Georg Elser und Fremde Feinde - Der Justizfall Sacco & Vanzetti. Zuletzt erschienen Wenn der Staat tötet – Eine Geschichte der Todesstrafe (2017) sowie Dumme Wut, kluger Zorn (2018).
Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt. Helmut Ortner arbeitet und lebt in Frankfurt und Darmstadt. Er ist Mitglied bei Amnesty International und im Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung.
7 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Dem ist nichts weiter hinzuzufügen!
Klare Sprache, klare Aussagen, klare Forderungen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Hört sich beinhart an; freue mich auf die Lektüre, auch wg. den Autoren!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
leider sind derartige Bücher keine Pflichtlektüre an den Bildungsstätten, denn dann wäre die Vernunft zum Thema Politik und Glaube besser aufgestellt.
P.S. Das Buch wird selbstverständlich geordert.
Klarsicht(ig) am Permanenter Link
Zitate: „Wie bewerten Sie den Gottesbezug in der Präambel unseres Grundgesetzes ?“
„Der sollte gestrichen werden. Bürger dürfen ihren Gott, auch ihre Götter haben – der Staat aber muss in einer modernen, säkularen Grundrechtsdemokratie gottlos sein.“
Kommentar:
„Die Väter des Grundgesetzes“ bauten den sogenannten Gottesbezug (1) in die Präambel des GG ein.
Das aber zu postulieren, was man meint zu benötigen, nämlich „Gott“, wie es in der Präambel des GG durch „die Väter des Grundgesetzes“ geschehen ist, hat nach der Auffassung von Bertrand Russel zwar viele Vorteile, aber es sind dieselben wie die Vorteile des Diebstahls gegenüber der ehrlichen Arbeit.
Dem Deutschen Volk wurde in seiner Geschichte schon mehrfach „eingeimpft", dass es sich gefälligst ein „Bewusstsein seiner Verantwortung" vor einem Monokraten (2) zuzulegen hat. Bei diesen Monokraten handelte es sich um Könige, Kaiser und einem „vom Volk geliebten Führer".
Nachdem 1945 den „Führer der Teufel geholt hatte", schienen viele Deutsche und wohl auch „die Väter des GG“ unter einem „monokratischen Phantomschmerz" gelitten zu haben. Deswegen musste nach „Hitler“ flugs ein neuer Monokrat her, dem gegenüber sie sich verantwortlich fühlen wollten/konnten/mussten. Zu diesem Zweck stellten die beiden großen „Glaubenskonzerne" den fiktiven Protagonisten/Monokraten aus ihrem „Märchenbuch für Erwachsene“ zur Verfügung, welches sie noch immer in ihren „Glaubensgefolgschaften“ vertreiben.
Waren „die Väter“ des Grundgesetzes“ bei der Setzung säkularen Rechts, das für die Bürger verpflichtende und verhaltenslenkende Wirkung hat, überhaupt berechtigt, in der Rechtsnorm ein Hirngespinst aufzunehmen, das aus einer irrationalen und kontrademokratischen religiösen Ideologie aus unaufgeklärter Zeit stammt ? Doch wohl nicht, da sich eine säkulare Rechtsnorm inhaltlich vernünftigerweise durchgängig durch Rationalität und Logik auszeichnen soll(te).
Dadurch, dass „die Väter des Grundgesetzes“ den Protagonisten/Monokraten aus dem Märchenbuch für Erwachsene“ der beiden großen „Glaubenskonzerne“ in der Präambel des GG „untergebracht“ haben, machten sie dem Deutschen Volk klar, dass sie davon ausgehen, dass es sich nicht um einen fiktiven Monokraten handelt, der nur in ihren und anderen Hirnen religiös Gläubiger spukt, sondern dass sie vielmehr denken, dass dieses „Allmachtwesen“ mit dezidiert kontrademokratischer Gesinnung mit Gewissheit existiert. Das müssen glaubensferne Menschen staunend als Faktum zur Kenntnis nehmen.
Denn logisch wäre es nicht nachvollziehbar und daher blanker Unsinn, dass „die Väter des Grundgesetzes“ in der Präambel für das Deutsche Volk eine Verantwortung in erster Linie vor „Gott“ als gegeben betrachteten (also noch vor den Menschen), wenn sie sich gleichzeitig nicht sicher gewesen wären, dass ER existiert. Zudem hätte es die Qualität einer Lüge, wenn man dem Deutschen Volk eine Verantwortung gegenüber etwas aufbürdete, von dem man nicht sicher gewusst hat, dass es irgendwo existiert.
Das Deutsche Volk hat einen Anspruch darauf, von den „Gesetzesautoritäten" zu erfahren, wodurch sie zu der sicheren Erkenntnis gelangt sind, dass der Monokrat aus dem „amtskirchenlichen Märchenbuch für Erwachsene“ tatsächlich existiert. Nur wenn sie über eine solche „Spezialerkenntnis" verfügt haben sollten, hätte es ihnen evtl. als erlaubt erscheinen dürfen, den finsteren Monokraten in der Präambel des GG und an anderen Stellen in unseren Gesetzen zu platzieren.
Ein Demokrat hat sich ausschließlich den Menschen und deren außermenschlichen Mitgeschöpfen gegenüber in der Verantwortung und Pflicht zu sehen und zu fühlen. Deswegen ist der Begriff „Gott” in der Präambel des GG. völlig deplatziert. In einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft steht der Mensch gegenüber keinem imaginären Monokraten mit kontrademokratischer Gesinnung in der Verantwortung ! Monokraten gegenüber, wie zu Zeiten des Absolutismus und der Feudalherrschaft und wie zu Zeiten der Diktatoren des 20. Jahrhunderts (z. B. Hitler, Stalin, Franco, Mussolini usw.), sollte sich der Mensch niemals mehr verpflichtet sehen, was auch gegenüber theistischen Monokraten und deren angeblichen Stellvertretern auf Erden (Gott, Jesus, Allah, Papst usw.) gelten sollte.
Verweise:
(1) http://de.wikipedia.org/wiki/Gottesbezug
(2) http://de.wikipedia.org/wiki/Monokratie
Gruß von
Klarsicht(ig)
René am Permanenter Link
Bisschen langatmig, aber nice. ツ
A.S. am Permanenter Link
War nicht der Staat immer schon dazu da, die Privilegien der Priester zu sichern? Bei den Pharaonen, den Persern, den Griechen, den Römern, den Juden, den Christen, den Muslimen, ...
Thomas Reutner am Permanenter Link
Müsste/Könnte man nicht die Staatsanwaltschaft verklagen weil sie ihren Pflichten nicht nachgekommen ist?