Religiöse Ethik - ein Wintermärchen?

BERLIN/BAD RADKERSBURG. (hpd) In den Unterschriftssammlungen zum aktuellen Volksbegehren in Berlin wird immer wieder ein grundsätzliches Thema genannt: „Ohne Religion gibt es keine Werte". Diese Thematik spielt auch außerhalb Berlins eine Rolle und der Philosoph Gerhard Streminger hat dazu ein paar Gedanken formuliert.


Ein Kommentar und vier Thesen von Gerhard Streminger*)

Als interessierter Beobachter der Ereignisse in Berlin (Volksbegehren ‚pro Reli') gewann ich den Eindruck, dass die Vertreter von ‚Pro Reli' an entscheidender Stelle immer das Argument auf den Tisch legen, dass nur durch Religion die Vermittlung von Werten garantiert sei; und dass viele Vertreter von ‚Pro Ethik' genau an diesem Punkt etwas in die Defensive geraten. Wie ist es also um die religiöse Fundierung von Werten bestellt? Meines Erachtens gibt es keine guten Gründe für das Triumphgefühl der einen - und für die leise Verwirrung der anderen. Dazu einige Thesen:

1. Viele Formen von Religiosität sind eine Gefahr für Moralität, und zwar aufgrund der mangelnden Moralität der Götter.

Die Immoralität von im Himmel verehrten Göttern bzw. ihrer eifrigsten Anhänger ist wohl kein Zufall. Denn eine wirklich moralische Autorität würde nicht erlauben, dass Menschen sich vor ihr erniedrigen, sondern sie würde sie als gleichwertig behandeln und als Wesen, die das Recht besitzen, ihren eigenen Weg zu gehen. Weil viele Götter also gar keine moralischen Autoritäten sind, sollten uns ihre ethisch verwerflichen Handlungen und die ihrer Anhänger nicht allzu überraschen.

Natürlich entdecken wir in fremden Religionen unschwer Verwerfliches: Zeus, der Erotomane, handelte unmoralisch, Moloch ebenso, und erst Allah! Aber wenn man die gleichen ethischen Maßstäbe an die eigene Religion anlegt, dann wird offensichtlich, dass der eigene Gott ebenfalls unmoralisch ist. So ist es ethisch höchst bedenklich, für endliche Vergehen unendliche - ewige - Strafen auszusprechen (wie dies Jesus von Nazareth wiederholt tat). Ebenso unmoralisch ist es, eine Kollektivschuld zu behaupten, also Menschen für die Taten ihrer Vorfahren zu bestrafen (Ursünde); und schließlich ist es ein ethischer Skandal, allmächtig zu sein und doch so ungeheuer viel Leid in der Welt zuzulassen.

‚Gottes Wege seien eben unerforschlich' hört man in diesem Zusammenhang immer. Aber diese Formel plaudert nur die Wahrheit aus, dass der angeblich Allgütige Dinge schafft oder zulässt, die moralische Menschen niemals schaffen oder zulassen würden.

Aber das göttliche Wesen muss selbst moralisch sein, damit es moralisch wird, SEINE Gebote zu befolgen!

2. Vielen Formen des Theismus ist eine fromme Intoleranz eigen.

Der eine Gott der Monotheisten scheint eine Form der Verehrung zu verlangen, wodurch andere Formen der Ehrfurcht zur Blasphemie werden. Sobald die Einzigartigkeit eines bestimmten Buches, der von Gott offenbarten heiligen Schrift, betont wird, gibt ein solcher Glaube Anlass zu Intoleranz und Unterdrückung Andersdenkender. Zur Zeit der Inquisition waren Hochmut, Habsucht und Grausamkeit in den Rang von Tugenden erhoben worden. Die niedersten menschlichen Instinkte hatten so ein geweihtes Betätigungsfeld gefunden.

"Denn täuschen wir uns nicht", mahnte schon d´Holbach: "Das Christentum, noch nicht zufrieden damit, den Menschen Gewalt anzutun, um sich äußerlich seinem Kult zu unterwerfen, hat die Kunst erfunden, das Denken zu tyrannisieren und das Gewissen zu martern, eine Kunst, die jedem heidnischen Aberglauben fremd war." (Religionskritische Schriften. Berlin/Weimar 1970, S. 159)

Aber wie sollte man auch von einer Religion Toleranz erwarten können, deren Held u.a. gepredigt hat: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich" (Mt 12.30), und der seinen Jüngern befohlen hatte, Menschen zu zwingen, in sein Haus zu kommen: "Geh hinaus ... und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde."(Lk 14.23)

Es wäre nicht völlig unverständlich, wenn Theisten diejenigen verfolgen, die sie als Feinde Gottes erachten, ist doch ihr Glaube mit der Vorstellung verknüpft, dass die eigene Sache diejenige Gottes sei. Dies gilt für alle Religionen, denn es macht nur dann Sinn, sich bewusst und engagiert für eine bestimmte Religion einzusetzen, wenn man andere für nicht gleichwertig hält.

So heißt es im Alten Testament:"Wer den Göttern opfert, außer dem HERRN allein, soll mit dem Bann belegt werden."(2 Mose 22.17f.) Und im Koran ist zu lesen: "Siehe, schlimmer als das Vieh sind bei Allah die Ungläubigen, ... So rüstet wider sie, was ihr vermöget an Kräften..., damit in Schrecken zu setzen Allahs Feind ... O du Prophet, feuere die Gläubigen zum Kampfe an; sind auch nur zwanzig Standhafte unter euch, sie überwinden zweihundert ..."(Sure 8.57 ff.)

Es gibt keine monotheistische Religion, die nicht ihre glühenden Anhänger hätte, die bereit wären, ihr Leben für jene Ideen zu opfern, von denen sie glauben, dass die eigene ewige Seligkeit (und die der ganzen Menschheit) davon abhinge. Aufgrund dieses hehren Ziels halten viele Strenggläubige sich für berechtigt, gegen die Gläubigen anderer Religionen selbst mit Grausamkeit vorgehen zu dürfen.

Der himmlische Ursprung der anderen Religionen wird von ihnen mit Vehemenz bestritten, allerdings mit gleich guten Argumenten, mit denen Vertreter jener Religion den himmlischen Ursprung dieser Religion in Abrede stellen. Weil dem so ist, wird es zwischen Strenggläubigen der verschiedenen Religionen keinen dauerhaften Frieden geben.

Prallen Anhänger religiös fundierter Ethiken aneinander, so sind Konflikte in vernünftiger Weise kaum zu lösen, da alle sich von Gott geleitet fühlen; alle glauben, dass die eigenen Gebote objektiv gegeben, eben gottgewollt seien.

So sind Juden der Meinung, dass Jesus nicht der im Alten Testament verheißene Messias war, weshalb sie Christen Verlogenheit vorwerfen. Christen ihrerseits behaupten, dass Jesus der verheißene Messias, ja Gott selbst war, weshalb sie Juden Verstocktheit vorwerfen. Und Muslime schließlich meinen, dass Jesus zwar ein wichtiger Prophet (und nicht mehr), aber bei weitem nicht so wichtig wie Mohammed war.

Das Problem, dass Konflikte zwischen religiösen Parteien im Grunde kaum lösbar sind, lässt sich schon innerhalb des Christentums bis in die Urgeschichte, zumindest bis zum Streit zwischen Petrus und Paulus, zurückverfolgen. Und im 1. Brief an Timotheus spricht der hl. Paulus immerhin sogar von "Ketzern, ... die ich dem Satan übergeben habe, damit sie durch seine Züchtigung das Lästern verlernen."(1.20) Dem S a t a n übergeben??

Großes Gottesvertrauen kann gesellschaftlich besonders gefährlich sein, da es auf die Hoffnung hinausläuft, dass ‚schon alles gut gehen werde' oder gar: dass ‚die Endzeit naht und das Paradies beginnt'. Auf ausdrückliches Geheiß Gottes begeht der Gläubige eine Tat, die er ansonsten niemals begehen würde, die er vielleicht sogar abscheulich fände, vertraute er nicht felsenfest darauf, auserwähltes Werkzeug in einem göttlichen Heilsplan zu sein. Ohne die Konsequenzen zu bedenken, werden in Einklang mit den alten Schlachtrufen ‚Gott will es!' oder ‚Allah ist groß!' zur Vernichtung Anders- und Ungläubiger aufgerufen. Es gibt gute und schlechte Menschen; aber es bedarf oftmals der Religion, damit gute Menschen Schlechtes tun.

3. Viele Formen des Theismus enthalten fragwürdige moralische Forderungen.

Im Theismus finden sich zum Teil erschreckende Forderungen. So gehört nach der Eroberung des Landes der Kanaaiter das Erstgeborene dem Herrn und muss ihm geopfert werden (2 Mose 13.1 f.); und seit Paulus ist es gewissermaßen ‚offiziell' erlaubt, zur Verherrlichung Gottes ‚heilig zu lügen'. Paulus ist es einerlei, ob Christus in unlauterer oder in lauterer Weise verkündet wird (Philipper 1.18 f.), er bekennt offen seine Doppelzüngigkeit und erläutert seine Methode der Verstellung so: "Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht . Ich bin den Juden wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne; denen, die unter Gesetz sind, wie einer unter Gesetz - obwohl ich selbst nicht unter Gesetz bin ... denen, die ohne Gesetz sind, wie einer ohne Gesetz - obwohl ich nicht ohne Gesetz vor Gott bin ... Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige errette."(1 Kor 9.19 ff.)

Ganz offensichtlich heiligt hier der Zweck die Mittel: Die einen werden in ihrem Kindheitsglauben bestärkt, und den anderen wird versichert, dass sie als vernünftige Wesen derartige Märchen natürlich nicht ernst nehmen müssen. Und das alles zu e i n e m Zwecke: Christengewinnen! Bei so viel Schauspiel und mangelnder Geradlinigkeit taucht unweigerlich die Frage auf, wie es eigentlich um die Wahrheit des Gesagten bestellt ist. Und diese Frage taucht nicht erst heute auf, denn Paulus fühlte sich mehrmals bemüßigt zu beteuern, dass er doch allein die Wahrheit und nichts als die Wahrheit verkünde (Röm 9.1; Gal 1.20).

Aber wie viele, außer Petrus, mochten schon damals an der Wahrhaftigkeit des Konvertiten gezweifelt haben, der an anderer Stelle ohne große Gewissensbisse die Lüge als legitimes Mittel der Verkündigung rechtfertigte: "Wenn aber die Wahrheit Gottes sich durch meine Lüge als noch größer erweist und so Gott verherrlicht wird, warum werde ich dann als Sünder gerichtet?"(Röm 3.7) Von welchem Gott, dessen Wahrheit durch Lügen noch vergrößert wird, spricht eigentlich der hl. Paulus, der Begründer des Christentums?

In der zweitausendjährigen Geschichte dieser Religion ist der ‚fromme Betrug' fast schon zu einem liebenswürdigen, jedenfalls mit einem leichten Schmunzeln auszusprechendem Begriff geworden. Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens, schrieb als Regel vor, dass Gläubige, "um die wahre Gesinnung zu erlangen", ihren Sinnen misstrauen müssten, falls der katholische Oberhirte dies befehle: "Damit wir in allen Stücken sicher gehen, müssen wir immer festhalten: das, was unseren Augen weiß erscheint, sei schwarz, sobald die hierarchische Kirche dies so entscheidet,..."(Ignatius, Die geistlichen Übungen. München 1921, S. 187)

Ebenso verwerflich wie diese jesuitische Lust an der Manipulation anderer ist die paulinische Anbiederung an die Machthaber: "Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet."(Röm 13.1)

Es war der Staat Neros, in dem Paulus diesen Mahnbrief an die Römer schrieb, der Staat eines Bruder- und Muttermörders. Während römische Intellektuelle Neros Unrechtssystem geißelten, drückten Paulus und seine Schüler die Augen vor dem Unrecht zu. Denn merke: Solange Du keine Macht besitzt, ist es sehr klug, sich mit ihr zu arrangieren!

Aber es ist nicht nur der Mangel an Moralität, der hier empört, sondern es stellt sich zudem die Frage, ob Paulus diese Passage nicht in heiliger Verwirrung geschrieben hat: Denn ist jede Obrigkeit von Gott, dann ist natürlich auch die Obrigkeit, die Jesus von Nazareth verurteilte, also der Judenhasser Pontius Pilatus, von Gott. (Man kann auch an Hitler oder Stalin denken, um sich die rechte Vorstellung vom paulinischen Gott zu machen.)

Wenn also auch Pilatus ‚von Gott war', so hat letztlich kein Mensch, sondern eben der Allmächtige Jesus zum Tode verurteilt, gefoltert und ans Kreuz geschlagen. Ein barmherziger Gott, der sich selbst zum Tode verurteilt, um sich mit seinen, von Ihm aus dem Nichts geschaffenen Geschöpfen zu versöhnen? Welchen Sinn könnte selbst Paulus, wieder nüchtern geworden (vielleicht dann, als die von Gott eingesetzte römische Obrigkeit ihn wegen Gotteslästerung zum Tode verurteilte), aus diesem Heilsgeschehen pressen?

4. Viele Formen des Theismus enthalten explizit demoralisierende Forderungen.

Gelegentlich üben Religionen einen entschieden demoralisierenden Einfluss aus, denn Pflichten gegen Gott werden "den Pflichten gegen die Menschen entzogen"(A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Band II, Zürich 1977, S. 391). Da es häufig einfacher ist, den Himmel durch Gebete zu erbetteln als durch moralische Handlungen zu verdienen, werden "für die nächsten Gegenstände des göttlichen Willens" nicht moralische Handlungen, sondern "Glaube, Tempelceremonien ausgegeben ... Ja, allmälig werden die Letzteren, zumal wann sie mit Emolumenten [Nebeneinkünften] der Priester verknüpft sind, auch als Surrogate der Ersteren betrachtet, Thieropfer im Tempel, oder Messelesenlassen, oder Errichtung von Kapellen, oder Kreuzen am Wege, sind bald die verdienstlichsten Werke, so dass selbst grobe Verbrechen durch sie gesühnt werden."(Schopenhauer, ebd., S. 391 f.)

In allen Religionen gelten Gebete, Lobgesänge und Andachtsübungen zumindest als teilweiser Ersatz für ein moralisches Leben, etwa dann, wenn "die Pfaffenschaft dem Volke vorlügt, die Hälfte aller Tugenden bestehe im Sonntagsfaulenzen und im Kirchengeplärr, und eines der größten Laster sei das Sabbathbreaking, d.h. Nichtfaulenzen am Sonntage ..." Jene "Teufel in Menschengestalt, die Sklavenhalter und Sklavenhändler in den Nordamerikanischen Freistaaten (sollte heißen Sklavereistaaten) sind in der Regel orthodoxe und fromme Anglikaner, die es für schwere Sünde halten würden, am Sonntag zu arbeiten, und im Vertrauen hierauf und auf ihren pünktlichen Kirchenbesuch ... ihre ewige Säligkeit [er]hoffen."(Schopenhauer, ebd., S. 392)

Natürlich wäre es ungerecht, wollte man übersehen, dass es heutzutage manche Pastoren und Priester gibt, die sich für Freiheit, Toleranz und Gerechtigkeit engagieren. Aber andere tun es eben nicht, und diese würden in ihren Ressentiments triumphieren, hätten sie nur die Macht dazu. Der immer wieder vorgebrachte Einwand, die Hochkirchen seien ‚doch so tolerant geworden', ist zum einen ziemlich unrichtig und zum anderen ziemlich kurzsichtig. Denn diese Toleranz hängt von äußeren Umständen ab, und zwar von einer säkularisierten, aufgeklärten und humanen Umgebung. Existiert diese nicht, wie etwa zur Zeit der Inquisition und der Religionskriege, oder existiert sie bloß in eingeschränktem Maße (wie etwa im Iran, aber auch im amerikanischen Bibel Belt, in Polen oder Irland), dann zeigt die Religion sogleich ihr weniger anziehendes Gesicht. Es ist nicht überraschend, dass heute viele Intellektuelle den Buddhismus für attraktiver als etwa das Christentum halten, scheint doch die Geschichte des Buddhismus um einiges friedlicher zu sein. Buddhisten sind zumeist mild und tolerant, während Theisten oft fanatisch und aggressiv sind und wahrscheinlich durchaus bereit wären, im Namen Gottes Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen: Es waren (und sind) christliche Nationen, die große Teile der Welt zu ihren Gunsten ausbeuteten bzw. ausbeuten.

Fazit

Es erscheint als höchst problematisch, etwas so Notwendiges wie die Moral auf die Basis von so Dubiosem - wie es der religiöse Glaube ist - stellen zu wollen. Wie sollte auf diese Weise eine wirkliche Orientierung und Lebenskunde möglich sein?

Der Gott der Bibel ist zudem ein Gott der Rache und ein Gott der Barmherzigkeit und der Herr der Heerscharen und ein Friedensfürst, weshalb bibelfeste Christen nur über eine wankelmütige Moral verfügen können. Aufgrund der Widersprüchlichkeit des offenbarten Wortes ist es nicht verwunderlich, dass es in allen wichtigen ethischen Fragen, von der Geburtenregelung über die Todesstrafe und den Umgang mit der Natur bis hin zum Pazifismus, keine - wenigstens für alle Christen - verbindliche Antworten gibt.

Eine christliche Fundierung der Moral wirft also größte Probleme auf, und dabei wurden die wichtigsten religionskritischen Argumente noch nicht einmal berührt: Die Tatsachen nämlich, dass kein Beweis der Existenz Gottes gelingt und dass die Behauptung seiner Güte und Barmherzigkeit angesichts der Leiden der Welt bestenfalls ein schönes Wintermärchen ist.

 

 

*) Autor u.a. von „Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem."
In diesem Jahr erschien: Ecce Terra.
Gerhard Streminger ist Beiratsmitglied der Giordano Bruno Stiftung