BASEL. (hpd) Denkanstöße auf dem Weg zu einer positiven säkularen Alternative, die über die Trennung von Staat und Kirche hinaus führen um “unsere” Welt gut zu positionieren. Kritisch-rationales Denken, Konsumethik, effektiven Umgang mit Ressourcen, REG-Projekt, mit dem sich Poker-Spieler aus ihren Poker-Gewinnen heraus an effektiver Entwicklungshilfe beteiligen…
Teil 1 eines Gesprächs mit dem internetaffinen Team der gbs-Schweiz in einem offenen und sonnigen Arbeitsraum in der Efringerstraße 25 in Basel.
Hintergrund und Diskussionskultur
hpd: Wir sitzen hier in Basel bei der GBS Schweiz. Auf dem Regionalgruppentreffen in Oberwesel hatte sich diese Regionalgruppe vorgestellt und großen Anklang gefunden. Wir wollen ausführlicher nachfragen und auch erfahren, wie ihr entstanden seid. Vor drei Jahren gab es in Zürich den Versuch, eine gbs-Gruppe zu gründen. War das ein Vorläufer? Die jetzige Gruppe, so ist der Eindruck, schießt aus dem Boden. Habt ihr gesagt, wir machen eine Gruppe und habt euch an der Universität eingesammelt? Wie war der Anfang?
Micha Eichmann: Wir sind aus einer Diskussionsgruppe an der Universität hervorgegangen, ja. Vor der Gründung unserer Regionalgruppe hatten einerseits einige Mitglieder ihr Studium abgeschlossen, andererseits hatten wir bis dahin an mehreren Universitäten Hochschulgruppen gegründet und ein Format erreicht, mit dem wir landesweit agieren konnten. Alles begann 2011 mit der Hochschulgruppe “frei denken uni basel”. Da haben wir uns als Studierende außerhalb der Vorlesungszeiten getroffen und uns über Wissenschaft, kritisch-rationales Denken und Atheismus ausgetauscht. Dieses geteilte Interesse führte zur Gründung eines formalen Vereins in Basel. Durchschnittlich kamen etwa 40 Leute zu den Vorträgen und es gelang uns, einen interdisziplinären wissenschaftlichen Austausch mit Vorträgen von Studierenden für Studierende zu ermöglichen. Das Angebot haben wir mit externen ReferentInnen, auch mit manchen ProfessorInnen, erweitert. Aus dem Ziel heraus, diesen Austausch auch in einem universitätsunabhängigen Gefäß weiterzuführen, entstand schliesslich die GBS Schweiz.
Ihr seid zum Teil auch bei den Freidenkern der Schweiz organisiert? Gab es da vorher schon Verbindungen? Ich habe gehört in Basel gab es zwei Gruppen, die Freidenker Union sowie die Freidenker Nordwestschweiz, die eine aus der Arbeiterbewegung, die andere aus dem Bildungsbürgertum, die sich jetzt mit großer Kraftanstrengung zu einer Sektion zusammengeschlossen haben. Gibt es Kontakte, steht ihr einem Kooperationsverhältnis?
Sara Savona: Ich bin im Zentralvorstand der Freidenker-Vereinigung als Vertreterin der Hochschulgruppen aktiv und stehe im Kontakt mit den kantonalen Gruppierungen, den Sektionen. Zudem sind die meisten von uns auch bei einer Freidenker-Sektion Mitglied. Micha führt zur Zeit das Präsidentenamt der fusionierten Freidenkenden Nordwestschweiz aus.
Ich habe den Eindruck, die Freidenker sind stark auf das Thema Trennung von Kirche und Staat ausgerichtet. Wo liegt euer Schwerpunkt?
Sara: Man muss sagen, dass die Trennung von Kirche und Staat zu Beginn auch bei uns ein zentrales Thema war, wir aber mit der Zeit einen anderen Fokus gesetzt haben.
Marx hat ja gesagt: “Religionskritik ist der Beginn jeder Philosophie”… (Lachen)
Micha: In der Tat. Die Religionskritik ist philosophisch absolut unentbehrlich, an sich aber ziemlich trivial und – nachdem man sie verstanden hat – weniger interessant als die Frage, welche die Ethik zu beantworten versucht: Wie sollen wir leben, was sind unsere Ziele? Um solche grundlegenden Fragen geht es uns.
Anfang 2012 hatten wir bei frei denken uni basel eine Veranstaltungsreihe zum Thema Ethik. In diesem Zusammenhang hielt Adriano Mannino, der mittlerweile Co-Präsident der GBS Schweiz ist, einen Vortrag zu Tierethik. Das war für viele ein wichtiger Anstoß, sich aktiv mit der praktischen Konkretisierung des evolutionären Humanismus zu befassen. Und in diesem Referat mit Diskussion, die sich über mehrere Stunden erstreckte und Diskussionswogen im Hörsaal und darüber hinaus in der Bar lostrat… Ja, da hat es vielen von uns eingeleuchtet, dass konsequente Tierethik Sinn macht und evolutionär-humanistisch folgerichtig ist, und dass wir uns aktiv in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen wollen, statt den (auch religiös geprägten) Status quo zu verwalten. Die Tierethik steht exemplarisch für die Glaubenserschütterungen – “View Shakes” –, die das kritisch-rationale Denken nicht nur in der Religionsfrage, sondern auch in vielen Fragen der praktischen Ethik auslöst.
Könnte man es so sagen? Religionskritik war anfänglich eure Basis und ihr sagt nun, ja, Religionskritik ist gut, aber das ist nicht unser Fundament, auf dem wir die Zukunft bauen, das ist nicht das, wo wir hin wollen, wir wollen woanders hin!
Micha: Ja, sagen wir es so: Religionskritik war und ist für uns alle wichtig, weil wir an der Religionskritik gelernt haben, klar zu denken und klar zu hinterfragen: Was ist ein Argument, wann ist ein Argument gültig, was ist empirisch-wissenschaftliche Evidenz, welche die Wahrscheinlichkeit der fraglichen Thesen erhöht, und was nicht. Das war der ‘Sandkasten’, um das kritisch-rationale Denken zu trainieren, aber es ist nicht der Ort, an dem wir erwarten, am meisten bewirken zu können. Zwar gibt es auch im Religionsbereich noch viel zu tun, aber dieses Gebiet wird schon gut von anderen Organisationen abgedeckt.
Adriano: Wir fragten uns auch: Weshalb ist uns Religionskritik eigentlich so wichtig?
Irrationale Denkmuster führen beispielsweise zu religiös motivierten Konflikten, oder dazu, dass die Eltern von schwer kranken Kindern auf Alternativmedizin schwören oder es mit Beten versuchen. Diese irrationalen Denkmuster wollen wir in vielen Bereichen bekämpfen, insbesondere bei globalen politischen Prioritäten und in der Bioethik.
Wir möchten kritisch-rationales Denken fördern, weil wir uns dadurch den großen Problemen auf der Welt besser stellen können. Letzendlich läuft es auf das erste der zehn Angebote des Evolutionären Humanismus heraus, die Michael so treffend formuliert hat: "Diene weder fremden noch heimischen Göttern, sondern dem großen Ideal der Ethik, das Leid in der Welt zu mindern!" Vor diesem Hintergrund scheint es eher unwahrscheinlich, Religionskritik für denjenigen Aktivismusbereich zu halten, in dem man ethisch in unserer aktuellen Situation am meisten bewirken kann.
Jonas Vollmer: Bei mir war die Homöopathiekritik die Basis, anhand der ich denselben Prozess durchgemacht habe.
Kommt ihr alle aus dem universitären Zusammenhang oder wie setzt sich die Gruppe zusammen?
Micha: Die meisten von uns haben sich an der Universität kennengelernt, mit dabei waren immer auch interessierte Leute, die nicht studierten. Starken Zuwachs haben wir dank Facebook erhalten, das von vielen als Diskussionsplattform genutzt wird.
Wenn ich Facebook höre, … seid ihr sehr internetaffin?
Kay Honegger: Klar. Über das Internet lässt sich einiges viel einfacher regeln und unsere Bürowände sind nicht mit dicken Ordnern bedeckt (Lachen). Wir können gemeinsam und zur gleichen Zeit an einem Dokument arbeiten, selbst wenn eine Person in Basel und die andere in Oxford ist. Ebenfalls können wir über Skype-Video gemeinsam Sitzungen abhalten. Wir nutzen diese Hilfsmittel, weil sie die beste Lösung für uns darstellen, auch weil wir oft unterwegs sind. Insbesondere Facebook ist ein Novum in der Menschheitsgeschichte, das beispiellose Konsequenzen haben könnte: Es ermöglicht uns, mit allen Menschen, die wir jemals angetroffen haben, in Kontakt zu bleiben und zu kommunizieren. Unter anderem über die Themen des evolutionären Humanismus, versteht sich. (Lachen) Facebook könnte den sozialen Wandel in beispielloser Weise beschleunigen.
Jonas: Wir hatten auch spannende Diskussionen in der Facebook-Gruppe frei denken uni basel. Da fanden zahlreiche Diskussionen mit hunderten Kommentaren statt, auch zu Themen wie “Soll man heiraten”.
Und wie war die vorherrschende Meinung? Das diskutiert die katholische Kirche ja auch gerade. Wie sind die Beiträge der Freidenker, soll man heiraten? (Lachen)
Sara: Die Meinungen waren gespalten. Die Diskussion fing durch ein Zitat an und dann…
Jonas: ….die kirchliche Heirat, das ist ja ganz klar, wurde nicht bevorzugt. Es ging um die rein zivile Eheschließung …
… ein Vertrag als Aufzuchtgemeinschaft… (Lachen) Michael Schmidt-Salomon hat in seinen frühen Jahren einen Aufsatz geschrieben: “Vom Ehekäfig zum Intim-Netzwerk”, unter dem Aspekt, wenn man gemeinsame Kinder hat, dann gilt es, aber man muss es deshalb nicht unbedingt mit einer Ehe als Zwangsgemeinschaft verbinden…
Jonas: … Ja, da gingen die Meinungen nach wie vor weit sehr auseinander, aber es zeichnete sich doch eine Tendenz in Richtung flexiblerer Beziehungsformen ab, die dann auch rechtlich neu geregelt werden müssten. Es gibt ja auch RechtswissenschaftlerInnen, die in diesem Bereich tätig sind.
Kay Honegger: Ich beispielsweise wurde auf die GBS Schweiz und all die Leute, die hier arbeiten, durch eben diese Diskussion aufmerksam. Ich habe keinen akademischen Hintergrund und habe mit Spannung die Diskussionen verfolgt. Ja, die Anwendung des kritisch-rationalen Denkens auf diese Frage hat mich fasziniert und jetzt bin ich hier.
Du, Sara, kommst aus dem Bereich der Hochschulgruppen?
Sara: Ja, genau, ich studiere Psychologie.
Oh… (Lachen) Menschenkenntnis. Und du?
Jonas: Ich habe drei Jahre lang Medizin studiert und habe jetzt gewechselt für einen Master in Wirtschaft.
Ein beachtliches Spektrum – mit demselben Ziel, “unsere” Welt gut zu positionieren.
Think Tank und Projekteschmiede
Was habt ihr bisher machen können? Ich habe schon so vieles von euch sehen können, die Plakate, die Postkarten, den Einsteinkopf auf einem muskulösen Körper… Das sind alles abgeschlossene Aktionen?
Jonas: Genau…
Micha: Wir verstehen uns in erster Linie als Think Tank. Wir verfassen zum Beispiel Online-Artikel zu diversen Themen. Dabei nutzen wir unsere unterschiedlichen akademischen Hintergründe in Philosophie und Ethik, Psychologie, Biologie, Physik und Mathematik, Wirtschaft, Recht usw., um eine Bestandsaufnahme unserer Handlungssituation zu leisten: Welche Ziele genau wollen wir verfolgen? Was sind die größten Probleme da draußen? Welches sind die effektivsten Maßnahmen, um sie zu lösen? Wohin wollen wir, rational, gehen, und wie nutzen wir die beschränkten Ressourcen Zeit und Geld möglichst effektiv? Diskussion ist für uns aber nicht bloß Sport, wir wollen gemeinsam dazulernen. Zu verstehen, wie die Welt funktioniert, ist enorm wichtig. Da gibt man gerne zu, wenn ein anderes Argument stärker ist! Michael Schmidt-Salomon sagt: “Ehrliche Kritik ist ein Geschenk, das du nicht abweisen solltest. Durch solche Kritik hast du nicht mehr zu verlieren als deine Irrtümer, von denen du dich besser heute als morgen verabschiedest.”
Andererseits verstehen wir uns aber auch als Projektschmiede, d.h. wir unterstützen oder lancieren Projekte, die genau der Umsetzung der Ideen dienen, zu denen wir in den Diskussionen gelangen. Konkret haben wir bisher drei Projekte lanciert, weitere Projekte sind in Planung und können gestartet werden, sobald wir über genügend Ressourcen verfügen. Wir unterstützen das Denkfest, das hauptsächlich von der Freidenker-Vereinigung organisiert wird.
Es geht darum, Wissenschaft und kritisches Denken populär zu machen und den BesucherInnen das Staunen über wissenschaftliche Erkenntnisse näher zu bringen. Am Denkfest tritt auch der Evolutionsbiologe Richard Dawkins auf, der genau dieses Staunen in seinem Buch “Unweaving the Rainbow” (deutsch: “Der entzauberte Regenbogen”) propagiert.
Jonas: Weiter haben wir “Sentience Politics lanciert – “Politik für alle empfindungsfähigen Wesen” –, ein Projekt, das sich aktuell für eine nachhaltige, faire und tierfreundliche Ernährung einsetzt. Unsere Ernährung wird beispielsweise in der Klimadiskussion kaum thematisiert, obwohl sie gleich viele Klimaschäden verursacht wie der gesamte Verkehr inklusive Flugverkehr, oder alle Heizungen in allen Wohnungen – und obwohl diese Schäden im Ernährungsbereich am effizientesten eingedämmt werden könnten. Um es mit Michael Schmidt-Salomon zu sagen: Ökologiotie – den Ernährungsbereich zu ignorieren, ist äußerst irrational.
Natürlich legen wir auch einen großen Fokus auf die Tierethik. Die von Peter Singer losgetretene Debatte um den Speziesismus ist akademisch ziemlich abgeschlossen und entschieden: Es existiert kein vernünftiges Argument dafür, die gleichen Interessen nicht-menschlicher Tiere geringer zu gewichten. Diese Erkenntnis hat, was die ethisch-politischen Prioritäten angeht, revolutionäre Konsequenzen: Was heute in Tierfabriken und Schlachthäusern geschieht, ist nicht weniger schlimm, als wenn es mit Menschen derselben Bewusstseinsstufe geschähe. Das ist die klare Implikation des Antispeziesismus, dem Michael im “Manifest des evolutionären Humanismus” ein ganzes Kapitel gewidmet hat und auf dem ja auch das Great Ape Project beruht. Diese Diskussion wollen wir stärker in den Medien platzieren, um ein Umdenken anzuregen. Wir haben die relevanten Fakten in einem Positionspapier zusammengetragen und politische Initiativen dazu lanciert – die Medienberichterstattung ist konstant hoch und zunehmend positiv.
Adriano: Das dritte Projekt, das uns alle derzeit stark beschäftigt, ist Raising for Effective Giving (REG), welches die weltweit besten Pokerprofis – junge Multimillionäre – dazu animiert, einen Prozentsatz ihrer Gewinne an möglichst effektive Hilfsorganisationen zu spenden. Zur Gründung Anfang Juli organisierten wir eine Galaveranstaltung mit einigen der bekanntesten Pokerspieler. Damit konnten wir auf einen Schlag in der gesamten Poker-Community Bekanntheit erlangen. Auch Daniel Negreanu, der erfolgreichste Live-Pokerspieler aller Zeiten (und Veganer), unterstützte REG mit zahlreichen Tweets!
REG ist ein Meta-Hilfswerk, das u.a. von Liv Boeree sowie den deutschen Profis Igor Kurvanov und Philipp Gruissem mitgegründet wurde. Entsprechend tauchten die GBS und der evolutionäre Humanismus plötzlich in deutschen Poker-Zeitschriften auf. Die Profis wollen ihre hohen Gewinne dazu nutzen, möglichst viel Gutes zu bewirken. Sie verfolgen also bewusst die Strategie, möglichst viel Geld zu machen und es dann in die wirkungsamsten Hilfsprojekte zu investieren. Die Idee, viel Geld zu verdienen, um viel spenden zu können, wird in der Berufswahlethik auch als “Earning to Give” bezeichnet.
60 Tage nach dem offiziellen Start zählt das Projekt REG 65 Mitglieder aus über 20 Ländern! Über 50 Artikel, auch in namhaften Poker-Medien, wurden inzwischen darüber geschrieben.
Entwicklungshilfe & Kosteneffektivität
“Entwicklungshilfe aus humanistischer Sicht” war im Juni 2014 ein Thema beim Welthumanistentag der Schweiz. Stand das im Zusammenhang mit diesem Projekt in Frage, wie wir effektiv helfen können und was sinnvoller ist bei HIV – helfen durch Therapie oder helfen über Prävention – war das auch eine Fragestellung?
Adriano: Genau. Diesen Anlass haben wir ebenfalls mit den Freidenkern zusammen organisiert, um das Verständnis kritisch-rationalen, wissenschaftlichen Denkens gesellschaftlich auch am äußerst wichtigen Beispiel der Entwicklungshilfe zu fördern. Es gibt in diesem Bereich einiges zu sagen, beginnend bei der Höhe der aktuellen Entwicklungshilfe. In der Schweiz sind dies aktuell 0,45 Prozent des BIP, also lächerliche 45 Rappen auf 100 volkswirtschaftlich verdiente Franken. Die Schweiz klopft sich bekanntlich gerne für ihre “humanitäre Tradition” auf die Schulter, dabei erreichen wir nicht einmal die UNO-Mindestempfehlung von 0,7 Prozent des BIP.
Wenn man sich die Lebenssituation aller Menschen global ansieht, dann sticht schnell ins Auge, dass jeder achte Mensch hungert und dass jährlich rund zehn Millionen Kinder an den Folgen des Hungers und der Armut sterben.
Wir sind die reichste Generation, die jemals auf diesem Planeten gelebt hat – und scheinen nicht bereit zu sein, mehr als 0,45% unseres vergleichsweise krassen Reichtums abzugeben, während Millionen an den Folgen der Armut sterben. Wenn wir die Kinder sehen könnten, wie sie direkt neben uns verhungern, dann würde kaum jemand so tatenlos zusehen. Weil die Katastrophe jedoch in der Ferne geschieht, sind wir psychologisch in der Lage, sie auszublenden. Rational betrachtet ist es aber widersprüchlich, Leid und Tod anderer in einem Fall für wichtiger zu halten als eigenen Luxus (wenn dieses Leid vor unseren Augen geschieht), im anderen Fall jedoch nicht (wenn die geographische Distanz groß ist). Der Punkt ist, dass die Armut schreckliche Realität ist, dass Kinder leiden und sterben, denen ihr eigenes Leben und Wohlbefinden genauso wertvoll und wichtig ist, wie das unsere für uns. Gleiche Berücksichtigung gleicher Interessen. Daraus folgt in der Tat, dass die geographische Distanz für unsere Bereitschaft, anzupacken und etwas gegen dieses Übel zu unternehmen, keinen Unterschied machen sollte. Wenn man sich dieser Tatsache einmal bewusst wird, kann dies zu starken Änderungen der politischen Prioritäten führen. Statt 45 Rappen auf 100 Franken, sollten eher 5 oder auch 10% unseres BIPs in die Entwicklungshilfe gehen.
Ein weiteres Beispiel falscher Priorisierung stellt unsere intuitive, aber fehlgeleitete “Konsumethik” dar: Wir denken oft, menschen- und tierrechtlich verantwortungsbewusstes Handeln bestehe vor allem darin, verantwortungsbewusst zu konsumieren. Wenn wir neue Kleider kaufen, ziehen wir etwa den Clean-Clothes-Kodex herbei, der die Arbeitsbedingungen der entsprechenden Firmen bewertet. Wir versuchen vielleicht, Flugreisen zu vermeiden, um unsere Klimabelastung zu reduzieren. Oder wir vermeiden Tierprodukte, um punkto Tierwohl eine “weiße Weste” zu haben. Der Eigenkonsum ist natürlich wichtig. Aber wenn man die ethischen Eigenkonsum-Effekte mit denen einer klugen Spende vergleicht, dann ist die Spende um ein Vielfaches wichtiger. Ein Grund dafür ist, dass man mit signifikanten monatlichen Spenden an effektive NGOs viele Leute davon überzeugen kann, ihr Konsumverhalten zu verändern (und sich politisch zu engagieren) – während man selbst natürlich nur den positiven Konsumimpact einer Person generieren kann.
In Bezug auf arm oder reich habe ich einmal die These gehört, wenn man nun jedem Menschen auf der Welt 10.000 Euro geben würde, dann hätte man nach 10 Jahren wieder die gleiche Verteilung wie sie jetzt ist. Die Menschen sind verschieden motiviert, etc. Aber so einfach, dass man die Welt in arm oder reich, in fleißig oder faul einteilen könnte, so einfach ist das nicht. Es kommen verschiedene Elemente, historische Entwicklung zusammen, die es zu verändern gilt. Richtig?
Jonas: Dazu gibt es gute Beispiele: Werden Haushalte in Kenia mit einer bedingungslosen Spende von 1.000 Dollar versorgt, können sie damit überlebenswichtige Investitionen tätigen und im gleichen Zug die 1.000 Dollar nachweislich bereits innerhalb eines Jahres auf durchschnittlich 1.200 Dollar vermehren. Das heißt, dass gerade Spenden an die Ärmsten der Armen sehr viel bewirken und nachhaltige positive Wirkungen haben können. Geld hat glücksökonomisch einen ziemlich rapide abnehmenden Grenznutzen, weshalb Transfers zu den Allerärmsten den größten ethischen Nutzen erzeugen. Die aktuelle Situation von Armut und Welthunger lässt nicht den Rückschluss zu, dass die Menschen faul sind. Eher gibt es politische Gründe und die Lokalbevölkerung kann oftmals nichts dafür. Wir können jedoch etwas dafür tun, die Situation zu verbessern. Zudem ist es natürlich evident, dass der eigene Fleiß nicht alle schlechten Bedingungen wettmachen kann. Es wäre absurd, anzunehmen, dass jemand, der in Afrika geboren wird, mit einem US-Millionen-Erben gleichzusetzen sein könnte – oder auch schon nur mit einem Durchschnittsbürger eines reichen Landes. Doch selbst wenn “Faulheit” eine Rolle spielte, so würde dies die ethische Pflicht nicht mindern, u.a mit “Nudges” so zur Verbesserung der Entscheidumstände beizutragen, dass ihre negativen Folgen reduziert werden. Nudges können im Übrigen der Faulheit der Menschen in den reichen Ländern entgegenwirken, etwa bei der Organspende. In Ländern, wo man sich von der Organspende abmelden muss, ist die Spenderrate sehr viel höher – so dass unter dem Strich bedeutend weniger Menschen sterben.
Wenn man sich aktuelle Studien ansieht, dann ist die Tendenz zu erkennen, dass bereits eine Spende von etwa 200 Euro ein gesundes Lebensjahr für eine Person in einem Entwicklungsland finanzieren und sicherstellen kann. Das ist aus meiner Sicht erstaunlich. Wir können mit ein paar wenigen Stunden Arbeit das glückliche und gesunde Überleben einer Person für ein ganzes Jahr sicherstellen. Die Bewirkung dreißig zusätzlicher Jahre gesunden Lebens gilt in der Gesundheitsökonomie gemeinhin als “ein gerettetes Leben”.
Sehr schön ist natürlich euer wissenschaftlicher Ansatz, denn jeder von euch hat jetzt evident gesagt… (Lachen, Durcheinander) Aber wie verbindet sich das mit Muskelmann und Einstein? (Lachen)
Micha: Ich würde sagen, es ist eine geschickte Umsetzung der PR-Abteilung.
Adriano: Wissen ist Macht und die mächtigsten Wissensinstrumente sind randomisiert-kontrollierte Studien. Je besser die Qualität der empirischen Forschung, desto mächtiger wird man in der Handlungspraxis sein, d.h. desto eher und umfassender wird man die gesetzten Ziele erreichen können – weil man besser darüber informiert ist, wie die Welt funktioniert und wie man sie verändern kann.
Sobald es um Umfragen geht, die etwas politischer sind, kommen häufig Ideologien ins Spiel und man stößt auf vorgefertigte und verzerrte Meinungen. Es zeigt sich insbesondere, dass viele Leute ihrer Meinung viel zu sicher sind – die Kognitionspsychologie nennt dieses Phänomen “Overconfidence Bias”. Deswegen ist es wichtig, sich die Daten anzuschauen. Wenn sie einem noch nicht vorliegen, muss überlegt werden, mit welcher Methodik sie gewonnen werden können – und es ist vorübergehend Urteilsenthaltung zu üben. Sobald Daten vorliegen, können wir die Urteilsbildung rational abstützen. Sie darf allerdings nicht schwarz-weiß sein – nun glaube ich/bin ich mir sicher, dass X der Fall ist –, sondern muss in probabilistischen Graustufen erfolgen: Je mehr und bessere Daten zur Stützung eines Urteils vorliegen, desto höher kann die Wahrscheinlichkeit sein, die wir auf seine Wahrheit setzen.
Wie groß ist denn eure PR-Abteilung, wenn ich fragen darf? (Allgemeines Lachen) Habt ihr Leute aus dem professionellen Bereich, die gesagt haben, wenn ihr was braucht, fragt einfach?
Sara: Am Anfang haben haben wir uns jeweils einfach zusammengesetzt und uns überlegt, wie wir unsere Ideen gut umsetzen könnten.
Micha: Einer von uns hat Kommunikationsdesign und visuelle Kommunikation studiert, er ist mittlerweile für die Website und das Corporate Design verantwortlich.
Adriano: Professionelle Arbeit ist wichtig, dafür bekommt man Pluspunkte und schafft den Zugang zu den Medien.
Ich sehe schon, GBS Schweiz könnte auch eine völlig andere Bedeutung haben: Etwa: Glorious Bastards Switzerland… (Allgemeines Lachen) als kreativer Think Tank.
Jonas: Die Professionalisierung ist natürlich ein sehr wichtiges Thema. Man sieht im Nonprofit-Bereich, dass viele Organisationen vor allem auf unbezahlte Arbeit setzen. Das zahlt sich nicht aus die Anliegen, die vertreten werden, d.h. etwa für die Leute, die von Armut betroffen sind. Vor zwei Jahren habe ich einen Vergleich angestellt. Es gibt Organisationen in meinem Umfeld, die mit Kuchenverkaufaktionen Fundraising betrieben haben, wobei jeweils ein paar tausend Franken zusammengekommen sind. Für das Poker-Projekt haben wir auf eine professionelle Website gesetzt und eine Person dafür eingestellt, die diese Website entwickelt hat. Diese Professionalisierung hat sich ausgezahlt und ein Vielfaches der von uns eingesetzten Gelder eingebracht. Dieses Vorgehen scheint uns zur Verbreitung eines wissenschaftlichen Weltbildes und einer kritisch-rational Ethik am effektivsten, auch wenn dabei höhere Administrationskosten entstehen. Denn letztere sind nachweislich ein schlechtes Maß für die Kosteneffektivität, d.h. für das Output/Input-Verhältnis einer Organisation.
Das Gespräch führte Carsten Frerk für hpd.de
Gesprächsteilnehmer der gbs-Schweiz: Adriano Mannino, Jonas Vollmer, Micha Eichmann, Sara Savona, Kay Honegger
Idee, Redaktion, Transkription: Evelin Frerk
Der zweite Teil des Interviews “Professionalisierung ist wichtig” erscheint am Montag.