Vierzig Generationen verlorener Jahre

Renaissance – Wiedergeburt der Antike

Im 7. Jahrhundert tritt der Islam in die Welt­geschichte ein. Islamische Herrscher waren zu dieser Zeit (anders als heute) wissen­­schaftlichem Denken weit mehr aufgeschlossen als die europäischen Christen. Im arabisch-islamischen Alexandria werden antike griechische Texte aus allen Wissens­gebieten ins Arabische übersetzt. In Bagdad wird das berühmteste Werk des griechischen Mathematikers Euklid „Die Elemente“ unter dem Kalifen Al Mansur (709 – 775) auf Arabisch zu lesen sein. In derselben Stadt entwickelt im Jahre 810 der aus dem Iran stammende Mathematiker Al-Chwarizmi das Rechnen mit Dezimal­zahlen und führt die Ziffer Null ein. Die lateinische Fassung seines Werkes beinhaltet den Begriff „Algorismi“, woraus sich der heute verwendete Begriff „Algorithmus“ ableitet. Der persische Mathematiker Abu l-Wafa (940 – 998) verwendet als Erster die Tangens­funktion und erstellt Tabellen trigono­­metrischer Funktionen mit einer Genauigkeit von acht Dezimal­stellen. Die erste nach­antike Universität wird 972 in Kairo gegründet (Al-Azhar-Universität).

Im Jahre 711 wird ein großer Teil der iberischen Halbinsel von arabischen Mauren besetzt. Al-Andalus wird fast 800 Jahre das europäische Zentrum arabisch-islamischer Kultur mit der Stadt Córdoba als inter­­kulturellem Mittel­punkt Europas. Auch hier ist man Bildung und Wissen­schaft aufge­schlossen. Der zweite Kalif von Córdoba Al-Hakam II. (915 – 976) förderte Kunst und Kultur (19). Unter seinem Kalifat wurde die Umayyaden-Bibliothek mit mehr als 400.000 Bänden aufgebaut. Insgesamt wurden 20 öffentliche Bibliotheken und 80 Schulen gegründet. Der in Córdoba geborene Philosoph und Arzt Ibn Rushd, genannt Averroës (1126 – 1198), kommentierte die Werke des Aristoteles und ist maßgeblich für deren Über­lieferung nach Zentral­­europa mitverantwortlich.

Im Zuge der christlichen Rückeroberung der iberischen Halbinsel, der Reconquista, wurde 1085 die Stadt Toledo, ein Zentrum kultureller Blüte, von christlichen Truppen eingenommen. Mit der Eroberung der Stadt Granada im Jahre 1492 war die gesamte Iberische Halbinsel wieder unter christlicher Kontrolle. Die wiedererlangte christliche Vor­herrschaft konnte jedoch nicht verhindern, dass Toledo in der Folgezeit zu einem wichtigen Ausgangspunkt der Überlieferung griechisch-arabischer Wissen­schaften nach Zentraleuropa wurde. Dies war der Ausgangspunkt einer Wiedergeburt griechisch-römischen, freien künstlerischen Schaffens, das den Boden für ein unbehindertes wissenschaftliches Denken in Europa langsam wieder vorbereitete: die Renaissance.

Nach der Rückeroberung der spanischen Halbinsel durch die Christen, verwahrlosen dort wieder die Schulen und Bibliotheken. Statt inter­kultureller Toleranz wütet die in ihrer Brutalität gefürchtete „spanische Inquisition“. Im Jahre 1499 lässt der spätere spanische Groß­inquisitor Kardinal Jiménez de Cisneros (1436 – 1517) in Granada Bücher der maurischen Bibliotheken verbrennen (20). Es sollen über eine Million gewesen sein. Glücklicherweise konnte nicht alles verbrannt werden. Antikes Schrifttum und wissenschaftliches Denken sickerten allmählich wieder in das vom Christentum beherrschte Zentraleuropa ein.

Wissenschaft zwischen Renaissance und Aufklärung – ein lebensgefährliches Unterfangen

Die ersten Anzeichen einer Auflockerung des Denkens machen sich in Italien bemerkbar (italienische Renaissance). Das Genie Leonardo da Vinci (1452 – 1519) wagte es, sich wieder Motiven zuzuwenden, die nicht ausschließlich kirchlich-religiöse Inhalte darstellten. Er schuf künstlerische und wissenschaftliche Werke, die sich wieder sowohl dem Schönen (Mona Lisa), als auch anatomischem oder technisch-wissen­schaftlichem Inhalt widmeten. Bildung beschränkte sich allerdings noch immer auf Inhalte, die mit der Weltsicht der Bibel und der katholischen Kirche nicht in ketzerischem Widerspruch stehen durften. Aus den Kloster­­schulen entwickelten sich Domschulen, die auch zunehmend Nichtklerikern offenstanden. Ab dem 11. Jahrhundert bildeten sich aus diesen Schulen einzelne Fakultäten im Bereich Kirchen­­recht, weltliches Recht und Medizin. Die Fakultäten bildeten dann die Grund­lage für die Gründungen erster europäischer Universitäten.

Als älteste europäische Hochschule gilt die Universität von Bologna, deren Gründungs­jahr im 11. bzw. 12. Jahrhundert allerdings umstritten ist. Alle Universitäts­gründungen bedurften einer Gründungs­urkunde des Papstes oder des Kaisers. Die Gründung der Universität von Paris erfolgte ebenfalls im 12. Jahrhundert, wo im Gebäude der Sorbonne die theologische Fakultät ihre Sitzungen abhielt. Es folgten die Universitäten von Oxford, Cambridge, Salamanca, Montpellier und Padua im 13. Jahrhundert. Im darauffolgenden Jahrhundert die Karls-Universität Prag, die Universität Wien sowie die Universität Erfurt und die Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.

Noch immer gab es ausschließlich die Studien­richtungen Theologie, Rechts­wissenschaften und Medizin. Als Vorbereitung auf diese Haupt­studien­fächer standen die „Sieben Freien Künste“ auf dem Lehrplan: Logik/Dialektik - Grammatik – Rhetorik (Trivum), sowie Geometrie – Arithmetik - Astronomie/Astrologie – Musik (Quadrivium). Natur­wissenschaften werden als Hauptstudium nicht angeboten. Noch immer gilt der Satz des Chrystostomos: Du sollst die Welt bewundern, aber frage nicht nach dem „Wie“. Auch die Reformation ändert an dieser Situation zunächst nichts. Der an der Universität Erfurt studierte Doktor der Theologie Martin Luther warnt eindringlich vor der „Hure Vernunft“, die vom rechten Glauben abhält.

Die Wende zu naturwissenschaftlichem Denken bahnte sich erst an, als der Doktor des Kirchenrechts und Freizeitastronom Nikolaus Kopernikus (1473 – 1543) begann, über das heliozentrische Weltbild des Aristarch von Samos nachzudenken. Sein Hauptwerk „De Revolutionibus Orbium Coelestium“ veröffentlichte er erst kurz vor seinem Tode und entkam damit einer Recht­fertigung vor der katholischen Inquisition. Weniger Glück hatte der italienische Philosoph Giordano Bruno (1548 – 1600), dessen Philosophie u. a. die Unend­lichkeit der Welt postulierte und damit in ketzerischem Wider­spruch zur katholischen Lehre stand. Auf seiner Philosophie beharrend, wurde Bruno am 17. Februar 1600 nach jahrelanger Kerkerhaft bei lebendigem Leibe auf dem Scheiter­­haufen verbrannt. Ähnlich grausam traf es zuvor den 25-jährigen Studenten Pomponio Algerio (1531 – 1556), der seine von der katholischen Kirche abweichenden Ansichten nicht widerrufen wollte. Am 22. August 1556 wurde er in Rom auf der Piazza Navona bei lebendigem Leibe in einem mit Öl und Pech gefüllten Behälter zu Tode gefoltert. Sein Todeskampf soll 15 Minuten gedauert haben (22).

Nachdem im Jahre 1608 der deutsch-niederländische Optiker Hans Lipperthey (1570 – 1619) das Fernrohr erfunden hatte, wurde es 1609 von dem italienischen Astronomen Galileo Galilei (1564 – 1642) nachgebaut und für astronomische Beobachtungen verwendet. Seine Entdeckungen der unregel­mäßigen Mond­oberfläche und der Jupiter­monde veröffentlichte er 1610 in seiner Publikation „Sidereus Nuncius“. Damit war gezeigt, dass der Mond keine makellos glatte Oberfläche hatte und in unserem Sonnensystem sich nicht alles um die Erde dreht, wie es die katholische Kirche lehrte.

In gleicher Zeit, 1609, veröffentlichte Johannes Kepler (1571 – 1630) seine beiden ersten „Keplerschen Gesetze“, wonach sich die Planeten in Ellipsen­bahnen um die Sonne bewegen. Das dritte „Keplersche Gesetz“ erschien im Jahre 1619.

Während Kepler als frommer Mann versuchte, die neuen Erkennt­nisse mit der katholischen Lehre in Einklang zu bringen und Sonne, Planeten und Fixsterne mit Vater, Sohn und Heiligem Geist in einem trinitarischen Kosmos als Erklärung anbot, geriet Galilei in Konflikt mit der katholischen Inquisition als er 1632 nachdrücklich für das kopernikanische Weltbild eintrat. Erst nachdem er seine ketzerischen Fakten „widerrufen“ hatte, konnte er dem Scheiter­haufen entgehen. Das Vertreten wissen­schaftlicher Erkenntnisse, die der Lehre der katholischen Kirche widersprachen, war weiterhin lebensgefährlich!

Naturwissenschaftliche Fakten lassen sich auf die Dauer nicht weg­glauben und der von Gott gegebenen katholischen Allmacht und Deutungs­­hoheit wurden schon durch die Reformation ihre Grenzen aufgezeigt. Wenn sich nun das Dogma von der Erde als Zentrum des Universums als falsch erwiesen hat, dann liegt es nahe, auch an weiteren Glaubens­­dogmen zu zweifeln. Die „Hure Vernunft“ entpuppte sich, wie schon Luther ahnte, nach und nach als eine starke Waffe gegen religiösen Dogmatismus und als effektive Trieb­kraft für die Durch­setzung einer kritisch rationalen Denkweise als Voraus­setzung für wissen­schaftlichen und technischen Fortschritt. Die Epoche der Aufklärung stand bevor. René Descartes (1596 – 1650) formulierte den Grundsatz der Skeptiker: „Nichts für wahr zu halten, was nicht so klar und deutlich erkannt ist, dass es nicht in Zweifel gezogen werden kann“.

Mit dem wissenschaftlichen Fortschritt ging es wieder aufwärts. Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716) begründete die Infinitesimal­rechnung und der Engländer Isaak Newton (1642 – 1726) formulierte sein Gravi­tations­­gesetz und entwickelte die Mechanik. Immanuel Kant (1724 – 1804) bezeichnet die „Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit“ und ruft dazu auf „sich seines eigenen Verstandes zu bedienen“. Später wird Friedrich Nietzsche (1844 – 1900) in seinem Buch „Der Antichrist“ das Christentum öffentlich angreifen, ohne auf dem Scheiterhaufen zu enden.

Das „finstere“, christliche Zeitalter in seiner mittel­alterlichen Form ist weitgehend vorbei, obwohl die katholische Kirche noch immer versucht, freigeistige und wissen­schaftliche Bücher zu verbieten. Auf dem katholischen Index der verbotenen Bücher, dem Index Librorum Prohibitorum, stehen 4.000 Bücher u. a. von Autoren wie Descartes, Voltaire, Rousseau, Immanuel Kant, David Hume, Spinoza, Balzac, Victor Hugo, Heinrich Heine, Schopenhauer, Nietzsche, Jean Paul Sartre und sogar Schriften von Goethe (23). Noch im Jahre 1910 wurde von Papst Pius X. (1835 – 1914) ein „Antimodernisteneid“ (24) eingeführt, den alle katholischen Priester ablegen mussten. Erst 1967(!) wurden Index und Eid von Papst Paul VI. (1897 – 1978) abgeschafft. Soweit wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten theologisch nicht mehr umgedeutet oder in Frage gestellt werden können, müssen sie nun stückchen­weise auch von der katholischen Kirche anerkannt werden. Inzwischen gibt es eine „Päpstliche Akademie der Wissenschaften“, der auch namhafte Natur­wissenschaftler angehören.