Darwin meets Disney

Auch wenn die neue Anlage unbestreitbar eine wesentliche Verbesserung der Haltungsbedingungen darstellt, kann sie die jahrzehntelange Qualhaltung der Tiere nicht vergessen machen. Sie zeigen Symptome schwerster psychischer Störungen, ob und wie sie mit der neuen Situation zurechtkommen – laut Aussage des Zoos sollen weitere Tiere hinzukommen, um neue „Zuchtlinien“ aufzubauen – ist völlig ungewiss. Der über Jahre hinweg isoliert in einem vegitterten Betonbunker gehaltene 40-jährige Gorilla Assumbo etwa ist ein körperliches und psychisches Wrack, die geplante Zusammenführung mit zwei sehr viel jüngeren Gorillafrauen ist ein hochriskantes Vabanquespiel, dessen Einsatz allemal die Tiere zu tragen haben. Im Zweifelsfall wird Assumbo wohl eingeschläfert werden (wie man das 2010 mit den beiden letzten Schimpansen machte, die angeblich zu alt oder zu krank waren, als dass man sie weiter hätte zeigen können), oder er wird in einen anderen Zoo abgeschoben. Ein 32-jähriger Ersatzsilberrücken wurde bereits aus dem Zoo Leipzig angeschafft.

Im Übrigen können die vergleichsweise guten Bedingungen des „Darwineums“ die prinzipielle Problematik der Haltung Großer Menschenaffen (und anderer Exoten) nicht wettmachen. Diese haben allein schon der klimatischen Bedingungen wegen hier nichts verloren: sie verbringen bis zu 90 Prozent ihrer Lebenszeit in den Innengehegen, da es die meiste Zeit des Jahres draußen zu kalt für sie ist und sie Gefahr laufen, sich zu unterkühlen (Mecklenburg-Vorpommern liegt bekanntlich nicht im subtropischen Regenwaldgürtel). Die relativ großzügig bemessenen Außengehege dienen eher dazu, den Besuchern eine den Bedürfnissen der Gorillas und Orang Utans gemäße Haltung vorzugaukeln, die in Zoos prinzipiell nicht möglich ist. Die Tiere selbst können die Außenanlagen nur die wenigste Zeit des Jahres nutzen (ganz abgesehen davon, dass selbst die größte Außenanlage nicht mehr als ein schlechter Witz ist im Vergleich zu den Revieren, die die Tiere in ihren natürlichen Heimaten bewohnen). Von Spätherbst bis Frühjahr sind sie rund um die Uhr auf die Innengehege beschränkt, nachts werden sie zudem in Schlafboxen eingesperrt.

Die Innengehege entsprechen in ihren Ausmaßen den Standards, die die „World Association of Zoos and Aquariums“ vorgibt. Sollten die geplanten „Nachzuchten“ erfolgreich verlaufen, können diese Standards allerdings sehr schnell unterschritten werden (unabhängig davon, dass sie per se zu niedrig bemessen sind).

Auch die Frage, ob es ethisch überhaupt (noch) vertretbar ist, Große Menschenaffen (oder andere Wildtiere) in Zoos gefangen zu halten, wird im „Darwineum“ nicht gestellt, gleichwohl gerade die Bezugnahme auf Charles Darwin solche Fragestellung nahe legte. Während die bahnbrechenden Entdeckungen Darwins, mithin die gemeinsamer Vorfahren von Menschen und Menschenaffen, relativ schnell und so gut wie universell akzeptiert wurden, werden letztere nach wie vor und unter ausdrücklichem Verweis auf ebendiese enge Verwandtschaft in Gitterkäfige gesteckt und zur Schau gestellt.

Der prinzipiell aufklärerische Wert des „Darwineums“ wird allein durch die Zurschaustellung der Menschenaffen in sein Gegenteil verkehrt: der Mensch wird nicht als Teil der Evolution dargestellt, sondern, wie Religionen jeder Art dies seit je verkünden, als gottgleiche „Krone der Schöpfung“, befugt, mit Tieren zu verfahren, wie es ihm beliebt: „Machet sie euch untertan und herrschet...“ (1. Mose 1,28). Darwin würde sich ob dieser Schizophrenie - und ob der Usurpation seines Namens - wohl im Grabe umdrehen.

Auch die immer wieder vorgetragene Behauptung, Zoos würden als „Archen Noah“ fungieren und vom Aussterben bedrohten Arten Zuflucht gewähren, um sie zu späterem Zeitpunkt in ihre natürlichen Heimaten zurückzuverbringen, kann nicht gelten: In Zoos gehaltene Menschenaffen werden nie mehr in ihre ursprünglichen Lebensräume zurückkehren, sie werden ihr gesamtes Leben in Gefangenschaft verbringen. Auswilderungsprogramme für Menschenaffen aus Zoos gibt es nicht. Auch das Argument, sie könnten als „Botschafter ihrer jeweiligen Art“ Menschen für ihr Bedrohtsein sensibilisieren, was zu  entsprechendem Engagement für den Erhalt ihrer natürlichen Lebensräume führe, greift nicht: obwohl sie seit mehr als 150 Jahren in Zoos zur Schau gestellt werden, wird ihr Lebensraum fortschreitend zerstört. Zoos, die mit ihren unkontrollierten Wildfängen bis herauf in die 1980er wesentlich zur Dezimierung der Bestände in freier Wildbahn beigetragen haben, leisten (abgesehen von an einer Hand abzählbarer Ausnahmen) keinerlei nennenswerten Beitrag zum Schutz oder Erhalt der natürlichen Lebensräume jener Tiere, die sie präsentieren.

Das Rostocker „Darwineum“ hat mit evolutionsbiologischer Aufklärung und Wissensvermittlung nur wenig zu tun. Mit Blick auf die Großen Menschenaffen dient die Gesamtanlage allenfalls dazu, deren ethisch längst nicht mehr vertretbare Haltung und Zurschaustellung durch Einbindung in eine Art Evolutionsdisneyland zu kaschieren. Es passt ins Bild, dass der Besucher in kunstvoll gestalteten Dioramen und auf Schautafeln zu sehen bekommt, wie Pteranodontiden (= Flugsaurier) in den Urwäldern der oberen Kreidezeit herumfliegen, während der real existierende Rostocker Stadtwald großflächig abgeholzt wurde, um Platz für das „Darwineum“ zu schaffen. Auch eine Art Evolution.

Colin Goldner
www.greatapeproject.de