Ablösung am St. Nimmerleinstag?

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Plenarsaal Mai 2012 / Foto © Deutscher Bundestag / Thomas Koehler / photothek.net

BERLIN. (hpd) Im Bundestag wurde am vergangenen Donnerstag der Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen in erster Lesung behandelt. Ein facettenreiches Armutszeugnis für den Parlamentarismus in Deutschland, dessen Protokolle nun schriftlich vorliegen.

Ein Bericht und Kommentar von Carsten Frerk.

Vor genau einem Jahr hatte die Fraktion DIE LINKE im Bundestag einen Gesetzentwurf zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen in den Bundestag eingebracht. Damit soll ein Verfassungsauftrag umgesetzt werden, der seit 1919 besteht (Artikel 138,1 der Weimarer Reichsverfassung), der auch in das Grundgesetz übernommen wurde (Art. 140 GG).

Die Beiträge der Bundestagsabgeordneten liegen nun auch als geschriebenes Protokoll vor (Bundestag, 225. Sitzung, TOP 7).

Ein Beobachter meinte einmal, wenn man sich mit einem politischen Problem beschäftige, solle man sich die fünf dümmsten Antworten für die Lösung ausdenken und kann sich dann sicher sein, dass mindestens drei davon von Politikerinnen und Politikern in der Debatte genannt werden. Diesmal waren es sogar mehr.

Schriftlich zu Protokoll gegeben

Vier der acht auf der Tagesordnung als Redner stehenden Bundestagsabgeordneten haben ihre Beiträge nur schriftlich zu Protokoll gegeben. Begründung: Krankheit? Dienstliche Andersverpflichtung? Plötzliche familiäre Notfälle? Nein, nichts von dem. Sie sitzen in der katholischen St. Hedwigs-Kathedrale im zeitgleichen Dankesgottesdienst für den zurückgetretenen Papst Benedikt XVI.

Aber Hallo! Als Abgeordneter während einer Sitzungswoche des Bundestages und als angemeldeter Redner im Plenum während der Arbeitszeit seinen Arbeitsplatz verlassen, um in die Kirche zu gehen?

Warum nicht? Jeder Abgeordneter ist völlig frei, nur seinem Wissen und Gewissen verantwortlich, und lässt es sich besser verdeutlichen, dass sie im Parlament vorrangig Politik im Interesse der Kirche betreiben?

Entschädigungen? Seit 1803?

Vier Abgeordnete waren zu dieser religionsverfassungsrechtlichen Frage nicht in die Kirche gegangen und die Position der der Fraktion DIE LINKE, die diesen Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht hatte, vertrat der Abgeordnete Raju Sharma: „Wir reden heute über Entschädigungen, Entschädigungen für Enteignungen, die 200 Jahre zurückliegen und durch die man versucht hat, nach dem sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 Rechtsfrieden zu schaffen. Seitdem zahlen die Länder Jahr für Jahr pauschalierte Summen für Personalkosten und Baulasten an die Kirchen.“

Aber Hallo! Entschädigungen? Wofür? Kein bisheriger Potentat ist für den Verlust seiner institutionellen Macht entschädigt worden. Allenfalls könnte es um eine Abfindung für den Dispositionsbesitz der abgesetzten Bischöfe gehen, die jedoch im Reichsdeputationshauptschluss nur eine persönliche Apanage bis zu ihrem Lebensende erhielten. Eine Nachfolgerregelung war nicht vorgesehen. Das einzige, was sich aus dem Reichsdeputationshauptschluss ableiten lässt, ist die staatliche Baupflicht für die wenigen „hohen Domkirchen“.

Und: Die Länder zahlen seitdem, also seit 1803, pauschalisierte Summen an die Kirchen? Das ist schlicht falsch. Diese pauschalisierten Summen werden erst seit den 1960er Jahren in der Bundesrepublik gezahlt.

Und: Warum erhalten die evangelischen Landeskirchen überhaupt Geld, denn sie sind von dem Reichsdeputationsschluss 1803 überhaupt nicht berührt.

Und: Der Ablöseauftrag bezieht sich nur auf die auf „Gesetz, Vertrag und sonstigen Rechtstiteln beruhenden“ staatlichen Zahlungen zum Zeitpunkt der Annahme der Weimarer Verfassung am 11. August 1919. Es ist ein ganzes Bündel verschiedenster Zahlungen, die zu unterschiedliche Zeiten im 19. Jahrhundert mit unterschiedlichster Begründung entstanden waren.

Weiter im Text: „Schon während der Verhandlungen über die Weimarer Reichsverfassung gab es in der Gesellschaft einen großen Konsens darüber, dass mit diesen Zahlungen Schluss gemacht werden sollte. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Der liberale Friedrich Naumann – der Friedrich
Naumann – forderte schon im Jahr 1919, dass der Staat Inventur macht und diese Staatsleistungen ablöst.“

Aber Hallo! Inventur machen? Ja, aber warum denn das Ganze? Weil es eine „Freie Kirche im freien Staat“ geben sollte, weil der Staat nach der Revolution 1918 als parlamentarische Demokratie keinerlei religiöse Begründung der „Wir von Gottes Gnaden“ und der „Einheit von Thron und Altar“ mehr brauchte. Unsere Demokratie beruht auf der Volkssouveränität (Art. 20 GG). Zumindest laut Verfassung.

Warum der verkürzte Bezug auf den formalen Verfassungsauftrag, wenn die inhaltliche demokratische Begründung dafür ausgespart bleibt? Fürchtet die Fraktion DIE LINKE, dass sie als „kirchenfeindlich“ an den Pranger gestellt wird? Das wird sie sowieso.

Weiter im Text: „Dieser Verfassungsauftrag ist eindeutig, unmissverständlich und verbindlich. Es ist aber nichts passiert. Das Problem ist jetzt: Die Länder können nicht handeln; ihnen sind, weil der Bund untätig ist, die Hände gebunden. So zahlen sie Jahr für Jahr Staatsleistungen in Millionenhöhe, (Zuruf von der LINKEN: 460 Millionen!) jedes Jahr – alle Länder zusammen – ungefähr 500 Millionen Euro, (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: 460 Millionen!) eine halbe Milliarde Euro, und können nichts tun.“

Aber Hallo! 460 Millionen? Wir schreiben das Jahr 2013 und 460 Millionen sind die Zahlen für das Jahr 2010. Die Zahlen für 2012 sind bekannt (und bei den Staatsleistungen sind die Soll-Zahlen der Haushaltspläne der Länder auch weitestgehend die Ist-Zahlen), es sind 475 Millionen – und das auch nur an Personalzuschüssen.

Verfassung und Realität

Der Abgeordnete Dr. Dieter Wiefelspütz (SPD), der sich bereits durch mehrere polemische Zwischenrufe in die Debatte eingebracht hatte und vor wenigen Jahren zu genau dieser Thematik gesagt hat, dass mit eben diesem Verfassungsauftrag keinerlei Sanktionen bei Nichterfüllung verbunden sei, entdeckt als Verwaltungsjurist seine Kompetenz als Religionsverfassungsrechtler. Nach dem anscheinend sympathisch gemeinten Eingeständnis, dass er die entsprechenden Verfassungsartikel bisher gar nicht kannte – was weiß der Abgeordnete eigentlich überhaupt vom Grundgesetz? – will er nun einen Diskussionsprozess organisieren.

Die Kirchen seien ja verhandlungsbereit, allerdings sei ihnen das Zehnfache des zuletzt gezahlten Betrages zu wenig, aber: „Ein Ergebnis könnte übrigens auch sein – das will ich jetzt einmal in Klammern ansprechen –, dass wir das alles völlig in Ordnung finden, wie es ist. Dann allerdings müsste man das Grundgesetz ändern. Nicht ertragen kann ich – da bin ich zu sehr deformiert als Jurist, als Verfassungsrechtler –, dass man kommentarlos einen Grundgesetzartikel ignoriert, dass also wir als Gesetzgeber, der von jedem Bürger erwartet, dass er die Gesetze ernst nimmt, unsere Verfassung nicht ernst nehmen. Das kann keine Alternative sein (Beifall bei der SPD und der LINKEN) sondern dann muss man gegebenenfalls den Art. 140 des Grundgesetzes verändern. Wenn man beispielsweise den jetzigen Zustand mit den Staatsleistungen für in Ordnung hält, dann muss man das so regeln.“

Ja, das ist doch verständlich, was der Abgeordnete Würfelspitz, der von sich selber ausdrücklich sagt: „Ich selber bin, anders als mein Vorredner, Mitglied der evangelischen Kirche, ein gläubiger Mensch.“ meint:  Passen Verfassung und Realität nicht zusammen, dann muss sich nicht die Realität, sondern die Verfassung ändern.