"Ich war kein richtiger Junge mehr"

Die Beschneidungsdebatte

Seit einigen Jahren habe ich einen festen Freund, der mit meiner Beschneidung ganz gut klar kommt und so konnte ich das Thema in dieser Zeit recht gut unterdrücken. Ich kam nur selten in depressive Phasen, die ich früher viel häufiger hatte.

Doch mit der Beschneidungsdebatte im Jahr 2012 änderte sich das wieder. Das Gerichtsurteil des Landgerichts Köln, das die Beschneidung als Körperverletzung wertete, kam für mich sehr überraschend, weil es für mich keine Frage war, dass es sich um eine Körperverletzung handelt. Es wird schließlich ein sinnvolles Körperteil entfernt, was zu einer Reihe von negativen Folgen führt, wie ich es am eigenen Körper erleben musste. Was die Debatte für mich so belastend machte, waren die Zeitungsartikel und Kommentare, in denen die Beschneidung auf beinahe unerträgliche Weise verharmlost wurde. Es war erschreckend für mich festzustellen, wie wenig die Leute über die Auswirkungen der Beschneidung wussten. Die Beschneidung wurde teilweise als harmloser Eingriff dargestellt, der mit Impfen oder Haareschneiden vergleichbar sei.

Die Beschneidungsdebatte und besonders die verharmlosenden Kommentare sorgten bei mir dafür, dass die Erinnerungen an meine Beschneidung wieder schmerzhaft zum Vorschein kamen. Ich war gezwungen, mich erneut damit auseinander zu setzen. Mir wurde bewusst, wie stark die Beschneidung mein bisheriges Leben beeinflusst hatte. Die Auswirkungen meiner Beschneidung machen sich auch jetzt noch, 20 Jahre später, bemerkbar. Es hinterlässt deutliche Spuren, wenn man mit dem Gefühl aufwächst, kein richtiger Junge zu sein und sich dadurch jahrelang minderwertig fühlt. Noch immer habe ich ein geringes Selbstvertrauen, was mich in meinem Leben in vielerlei Hinsicht einschränkt. Gerade im Berufsleben ist das noch ein großes Problem für mich. Ich bin unzufrieden mit meinem Körper und den körperlichen Nachteilen der Beschneidung. Auch die immer weiter fortschreitende Desensibilisierung macht sich bemerkbar.

Mittlerweile muss ich beim Sex aktiv und konzentriert auf den Orgasmus hinarbeiten und kann es nicht einfach entspannt genießen. Nicht selten sind diese Bemühungen umsonst.

Auch heute noch werde ich täglich an meine Beschneidung erinnert. Das geht so weit, dass bereits jeder Gang zur Toilette und der Anblick meines beschnittenen Penis an meiner Stimmung nagt. Irgendwann ist das Maß voll und ich komme wieder regelmäßig in depressive Phasen. Mein Freund sagt mir in solchen Momenten, dass es so nicht weitergehen kann und ich denke er hat Recht. Zurzeit informiere ich mich über Psychotherapien und hoffe, dass ich damit zumindest einen Teil meiner Probleme in den Griff bekomme.

Seit der Beschneidungsdebatte kann ich jedoch auch offener mit meiner Beschneidung umgehen. Während ich sie 20 Jahre lang verheimlicht habe, kann ich mittlerweile darüber reden. Ich habe angefangen, mit Freunden und Kollegen über die Beschneidung und auch meine persönlichen Probleme damit zu sprechen. Dabei stelle ich oft fest, dass meine Gesprächspartner nur wenig über das Thema wissen und dass Fehlinformationen noch immer weit verbreitet sind. Aber immerhin werden meine Probleme jetzt einigermaßen ernst genommen und nicht wie früher direkt abgeschmettert. Ich konnte auch mit Betroffenen, mich mit ihnen über das Internet austauschen oder einfach nur von ihren Erfahrungen lesen. Mir wurde bewusst, dass noch viele andere Männer solche Probleme haben und sich diese stellenweise erstaunlich ähnlich sind.

Das Gespräch mit den Eltern

Nachdem ich mit vielen Leuten darüber gesprochen hatte, sprach ich auch zum ersten Mal meine Eltern auf meine Beschneidung an. Sie wussten überhaupt nicht, dass ich damit solche Probleme hatte und auch immer noch habe. Sie führten meine Probleme in der Schulzeit nicht darauf zurück und da ich zuvor nie mit ihnen darüber gesprochen hatte, dachten sie, es sei für mich in Ordnung, beschnitten worden zu sein. Ich habe ihnen auch von den körperlichen und psychischen Problemen erzählt, die ich seitdem habe, aber ich habe nicht das Gefühl, dass sie den vollen Umfang meiner Probleme begreifen.

Besonders mein Vater scheint meine Probleme nicht nachvollziehen zu können. Meine Eltern können sich nicht vorstellen, welche Folgen ihre Entscheidung für mein Leben hatte. Sie haben damit in einer Weise über mein heutiges Leben bestimmt, wie es ihnen nicht zusteht. Sie haben über meine heutige körperliche und psychische Verfassung bestimmt. Zudem haben sie tief in meine sexuelle Selbstbestimmung eingegriffen, indem sie dafür gesorgt haben, dass ich keine normale Sexualität erfahren kann. Obwohl ich davon ausgehe, dass meine Eltern nur das Beste für mich wollten und sich nicht anders hätten entscheiden können, weil der Arzt sie nicht richtig aufgeklärt hatte, sehe ich das Verhältnis zu meinen Eltern als belastet an.

Ich ließ mir von meinen Eltern auch ganz genau von den Problemen, die ich damals hatte, berichten. Bisher ging ich davon aus, dass ich eine Vorhautverengung (Phimose) hatte und deshalb beschnitten wurde, wobei selbst eine Phimose nur in den seltensten Fällen eine radikale Beschneidung erfordert. Aber was meine Eltern mir erzählten, hörte sich nicht nach einer Phimose an. Es schien eher so zu sein, dass sich bei mir die Vorhaut, die im Kindesalter noch mit der Eichel verwachsen ist, einfach noch nicht richtig abgelöst hatte und der Ablösevorgang nicht vollkommen reibungslos verlief. Wenn das zutrifft, wäre meine Beschneidung kaum zu rechtfertigen, denn es handelt sich dabei um einen ganz gewöhnlichen Vorgang.

Heute weiß ich, dass der überwiegende Teil der medizinisch begründeten Beschneidungen unnötig ist, weil es andere vielversprechende Maßnahmen wie eine Salbentherapie und vorhauterhaltende Eingriffe gibt oder weil sich das Problem in vielen Fällen mit der Zeit von selbst erledigt. Wenn ich all das zusammen betrachte, muss ich davon ausgehen, dass bei mir keine zwingende Notwendigkeit für eine Beschneidung bestand. Dass ich dennoch beschnitten wurde und jetzt mit den Nachteilen leben muss, ist umso deprimierender. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Eltern sich besser informiert und mehr Geduld mit meinen damaligen Problemen gehabt hätten.

Neue Wege

Vor etwa einem halben Jahr habe ich mit einer manuellen Vorhautrekonstruktion begonnen. Dabei wird die Schafthaut gedehnt und mit der Zeit bildet sich an den unter Zug stehenden Stellen die Haut nach. Zwar lässt sich damit nicht das empfindsame Gewebe der Vorhaut wiederherstellen, aber zum einen lässt sich damit ein fast normales Erscheinungsbild herstellen und zum anderen schützt die so erzeugte Haut die Eichel, die sich dann wieder ein Stück weit regenerieren kann.

In den Dehnpausen sorge ich mit einem Gummiaufsatz dafür, dass die Eichel rund um die Uhr vor Reibung geschützt ist. Nachts trage ich zusätzlich eine hornhautlösende Feuchtigkeitscreme auf. Diese Behandlung zeigt bereits erste Wirkung. Die Farbe der Eichel ist dabei, sich zu normalisieren und auch die Empfindsamkeit hat sich ein wenig erhöht. Insgesamt wird es mehrere Jahre dauern, bis genug Haut erzeugt wurde, um die Eichel zu bedecken. Es wird zwar nie so sein wie mit einer echten Vorhaut mit all ihrer Funktionen, aber ich kann zumindest die körperlichen Auswirkungen meiner Beschneidung ein wenig abmildern. Bisher ist die Haut schon ein wenig lockerer geworden, so dass sie bei Erektionen weniger spannt. Es ist nicht viel, aber schon solche kleinen Fortschritte helfen mir sehr, mein Selbstvertrauen weiter aufzubauen.

Ein weiterer Versuch, mein Selbstvertrauen aufzubauen besteht darin, Sport zu machen, um mich wieder wohler in meinem Körper zu fühlen. Bisher habe ich in meinem Leben so gut wie keinen Sport gemacht und mich nur wenig um meinen Körper gekümmert, weil es für mich einfach keinen Sinn machte. Schließlich war er verstümmelt worden und würde es für immer bleiben. Mittlerweile bin ich aber der Ansicht, dass ich damit Fortschritte erzielen kann. Eine sportlichere Figur in Verbindung mit einer zumindest optisch rekonstruierten Vorhaut wird sicher sowohl mein Wohlbefinden als auch mein Selbstvertrauen stärken. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, regelmäßig ins Fitnessstudio zu gehen.

Gleich beim ersten Termin habe ich mich zudem gezwungen, mich meinen größten Ängsten zu stellen und dort duschen zu gehen. Für mich war es eine große Herausforderung, mich in einem Raum auszuziehen, in dem sich andere Männer befinden. Meine Beine zitterten dermaßen, dass mir alleine das Ausziehen Schwierigkeiten bereitete. Ich fühlte mich wieder wie im Schwimmunterricht in der Schule, aber ich gewöhnte mich bereits nach kurzer Zeit an diese Situation. Ich ging duschen, trocknete mich ab und zog mich wieder an – es war geschafft und niemand hatte sich darum gekümmert, dass ich beschnitten bin. Es war ein tolles Gefühl, diese Situation, vor der ich immer Angst hatte, als Normalität zu erleben.

Inzwischen ist mehr als ein Jahr seit dem Kölner Gerichtsurteil vergangen und wir haben ein Gesetz, das es Eltern erlaubt, ihre Söhne beschneiden zu lassen, einfach nur weil sie es wollen. In einer Gesellschaft, die nur wenig über die weitreichenden Folgen der Beschneidung aufgeklärt ist, wird dieses Gesetz eine Menge Leid verursachen.

Viele Menschen in Deutschland stehen unnötigen Beschneidungen zwar bereits kritisch gegenüber, aber das Verständnis für das gesamte Ausmaß des Problems scheint dennoch kaum verbreitet zu sein. Noch immer werden die gängigen Fehlinformationen verbreitet, teilweise selbst von kritisch eingestellten Personen. Zurzeit bin ich daran beteiligt, einen Verein zu gründen, der sich für die genitale Selbstbestimmung von Kindern und besonders auch von Jungen einsetzt. Ich möchte dort mit den Erfahrungen meiner Beschneidung dazu beitragen, dass das Leid vieler beschnittener Männer in der Gesellschaft erkannt wird und unnötige Beschneidungen der Vergangenheit angehören.

Für weitere Informationen rund ums Thema Beschneidung möchte ich an dieser Stelle die Wissenssammlung "Das große Zirkumpendium" empfehlen. Es kann unter www.zirkumpendium.de kostenlos als PDF heruntergeladen werden.