Wie kommt der Glaube in die Köpfe?

Selbsthynose als wesentliches Element des religiösen Glaubens

Wie man über sich selbst spricht oder über sich denkt und – dass ist wichtig – welche Gefühle man dabei hat, sagt viel darüber aus, in welche Richtung man sich selbst hypnotisiert. Charakteristische und häufig anzutreffende Grundüberzeugungen, die beispielsweise das Verhalten bei der Begegnung mit anderen Menschen bestimmen - typischerweise bei der Begegnung mit mehreren überwiegend fremden Menschen etwa in einer Gruppe -, sind:

  • die Leute dürfen nicht erfahren, wie ich wirklich bin
  • ich werde nicht beachtet
  • ich bekomme nicht, was ich brauche
  • ich bin nicht wichtig
  • alle anderen sind gebildeter oder klüger als ich
  • ich muss etwas leisten, um Zuwendung zu bekommen
  • Ich habe die Verantwortung
  • ich muss auf den Tisch hauen, um meine Meinung zur Geltung zu bringen usw.

Aus diesen Überzeugungen resultiert ein von außen erkennbares, objektives Verhalten und ein damit verbundenes gefühltes, subjektives, das erfragbar ist und teilweise auch messbar sein kann (Kopfschmerzen, Schweißausbruch, Herzklopfen). Das manifeste Verhalten ruft in der Regel gerade diejenigen Reaktionen anderer Menschen hervor, welche die Überzeugungen bestätigen und man sagt sich wieder einmal "ja, so ist es". Diese immer gleiche, wiederholte Erfahrung intensiviert die Selbsthypnose durch die Verstärkung der zugehörigen synaptischen Übertragungswege.

Selbsthypnose kann also meines Erachtens als ein wesentliches Element zur Erklärung des religiösen Glaubens herangezogen werden. Aber außerdem ist das Phänomen des impliziten Wissens sehr wichtig. Aber was ist implizites Wissen? Es ist Wissen, das nicht erworben wurde bzw. von dem Menschen nicht wissen, wie es erworben wurde. Zur ersten Sorte gehört das Wissen, welches genetisch vorgegeben ist. Säugetiere "wissen" zum Beispiel gleich nach der Geburt, wo sie ihre Nahrung herbekommen können usw. Und was ist nun das erworbene implizite Wissen? Das kommt folgendermaßen zu Stande: Menschen haben ein so genanntes episodisches Gedächtnis. D.h. die Vergangenheit wird nicht als Ganzes im Gehirn abgespeichert, sondern in Form von einzelnen Episoden. Man hat also nicht nur eine Vergangenheit, sondern tausende verschiedene. Dieses episodische Gedächtnis wird jedoch erst ab dem dritten bis vierten Lebensjahr ausgebildet. Bis dahin lernt man sehr viel, aber man weiß nicht, warum man etwas weiß und wie dieses Wissen zu Stande kam. Dieses so erworbene sogenannte implizite Wissen erscheint den Menschen als absolut wahr und es ist nicht relativierbar. Wenn man also jemanden über etwas in diesem Bereich fragt: Woher weißt du das? Können sie nur sagen "das ist eben so". [5]

Wenn wir also bei einer Begegnung mit anderen Menschen Glück haben, besitzen wir etwa das gleiche implizite Wissen über die Welt. Aber das gilt schon nicht mehr für Menschen mit verschiedenem kulturellen Hintergrund, geschweige denn mit verschiedener religiöser Sozialisation. Beide nehmen etwas anderes als legitim und wahr an und es gibt normalerweise keine Möglichkeit zu entscheiden, wer Recht hat oder die Meinung des anderen zu ändern.

Die typische Entstehung eines bestimmten religiösen Glaubens bei einem Menschen stellt sich also für mich so dar: Etwa bis zum dritten bis vierten Lebensjahr "lernt" das Kind von den Eltern oder anderen Bezugspersonen bestimmte Wahrheiten, zum Beispiel, dass es Gott gibt, wie Gott ist, dass es die Gottesmutter Maria gibt usw. Und das sind Wahrheiten, die praktisch nicht beeinflussbar sind und welche einen bis ans Lebensende begleiten. Ich habe zum Beispiel eine Freundin, die sehr intelligent und lebenstüchtig ist. Sie denkt bei der Bewältigung des täglichen Lebens und der Probleme, die damit verbunden sind, sehr nüchtern und klar. Aber sie "weiß" zum Beispiel, dass es Engel und Schutzengel gibt und in diesem Wissen lässt sie sich nicht beirren. Im Gegenteil, sie hat versucht, auch mir dieses Wissen nahe zu bringen.

Zusätzlich wird die Selbsthypnose dadurch trainiert, dass das heranwachsende Kind und später der Erwachsene zum Beispiel vor jedem Essen oder beim Schlafengehen betet und vielleicht einmal in der Woche einen Gottesdienst in der Kirche besucht. Bei Mönchen oder Nonnen wird dieser Vorgang noch durch ständige Exerzitien verstärkt.

Bei jedem Lernvorgang werden im Gehirn zwischen den einzelnen Nervenzellen durch das Andocken von Synapsen neue Verbindungen geknüpft. Bis zu 10.000 Synapsen sind an einer Nervenzelle angedockt. Der elektrische Impuls, der von den Synapsen auf die Nervenzelle übergeht, wird auf chemischem Wege erzeugt. Man kann sich nun fragen, warum die elektrischen Impulse nicht direkt von einer Nervenzelle auf die andere übertragen werden. Warum geht das überhaupt über Synapsen? Die Antwort ist: Die Synapsen können sich ändern und tun das auch, wenn sie benutzt werden. Die Synapsen werden dann dicker. Wenn über eine dünne Synapse eine Information vermittelt wird, so kommt weniger davon an, einfach weil die Kontaktfläche kleiner ist. Bei großen Synapsen mit einer größeren Kontaktfläche ist die Übertragung wirkungsvoller; die Impulse werden wirkungsvoller übertragen. Üben heißt, dass die Synapsen durch Zunahme an Volumen immer effektivere Verbindungen zwischen den Nervenzellen herstellen.

Dieser Vorgang lässt sich zum Beispiel bei der Steuerung im motorischen Bereich sehr wirkungsvoll nachweisen. Wenn zum Beispiel jemand anfängt zu jonglieren, so kann man etwa nach einem halben Jahr feststellen, dass der Bezirk im Hirn, der für die Steuerung dieser Tätigkeit zuständig ist, größer geworden ist.[6] Im Gehirn eines Geigenvirtuosen, der mit 20 Jahren bereits 10.000 Übungsstunden hinter sich hat, sind die Bereiche im Gehirn, welche die Feinmotorik der linken Hand steuern, durch die Vergrößerung der Synapsen bis zu vier Zentimeter(!) dicker als bei einem nicht trainierten Menschen. Das macht diese Menschen einzigartig.

Jedes Mal, wenn also zum Beispiel ein gläubiger Mensch existenzielle Ängste spürt oder ganz allgemein religiöse Themen auftauchen, werden blitzschnell und unwillkürlich religiöse Vorstellungen oder Gedanken wirksam, welche dem impliziten Wissen entstammen und zudem stark im Gehirn synaptisch gebahnt sind. Nicht-gläubigen Menschen geht das in anderen Bereichen genauso, wie ich am Beispiel bestimmter Verhaltensweisen gezeigt habe. Dieser Vorgang ist das, was ich als religiöse Selbsthypnose bezeichne. Ebenso, wie etwa das Lied "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt…" nach den geschilderten Mechanismen eine bestimmte Trance-Induktion bewirkt, so geschieht das wahrscheinlich bei gläubigen Menschen, wenn der alte Papst im Fernsehen zu Weihnachten verkündet „Fürchtet euch nicht, denn euch ist Jesus Christus geboren und so könnt ihr in Frieden und Freude leben."

Nun gibt es viele Menschen, die in ihrer Kindheit stark religiös geprägt worden sind. Offenbar werden sie aber nicht Opfer ihres impliziten Wissens und der synaptischen religiösen Bahnungen in dem Sinne, dass sie trotz neu erworbenen besseren Wissens frühere religiöse Überzeugungen leben müssen. Wie kann man sich das erklären? Nun, es ist möglich – und das ist ein Teil des bewährten Therapieansatzes der Hypnosystemischen Therapie - die Selbsthypnose auf selbst gewählte, andere im Gehirn vorhandene Inhalte zu lenken. Der Vorteil dieser Therapie besteht also darin, dass die alten Prägungen nicht wie bei vielen anderen Therapien üblich, bearbeitet werden, sondern das neue Verhalten wird durch die selbsthypnotische Fokussierung auf andere innere, eigene Kompetenzen und Erfahrungen, die im episodischen Gedächtnis gespeichert sind, ermöglicht.

Wie allerdings die Erfahrung zeigt, findet bei den atheistischen Menschen, die in ihrer Jugend eine starke religiöse Prägung erfahren haben, eine selbsthypnotische Rückfokussierung auf die alten religiösen Inhalte möglicherweise dann doch noch statt. Etwa dann, wenn die erlebte Angst zu groß wird, wie es zum Beispiel auf dem Sterbebett der Fall sein kann.

Peter Boldt

Dieser Artikel beruht auf einem Vortrag, den der Autor vor den Evolutionären Humanisten Berlin-Brandenburg (EHBB) hielt.

[1] Boldt, P. Die Evolution des Glaubens und der Ethik, R. Fischer, Frankfurt 2009

[2] Klein, C. et al. (Hrsg.) Gesundheit – Religion – Spiritualität. Juventa Verlag Weinheim, München 2011

[3] Schmidt, G. Wie hypnotisieren wir uns erfolgreich im Alltag – Einführung in hypnosystemisches Empowerment. Auditorium Netzwerk, Müllheim/Baden, 2011. Schmidt, Gunther: Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung, Karl-Auer-Verlag, Heidelberg 2011

[4] Spitzer, M. Aufklärung 2.0 - Hirnforschung. Auditorium Netzwerk Müllheim/Baden, 2009

[5] Singer, W., Zur Organisation des Gehirns, Widersprüche zwischen Intuition und neuronaler Wirklichkeit. Auditorium Netzwerk, Müllheim Baden 2010

[6] Hüther, G., Erfahrungslernen und Persönlichkeitsentwicklung. Auditorium Netzwerk, Müllheim Baden 2009