Die Folgen verdrängter Kindheitsdramen

10. Seit einigen Jahren gibt es angeblich eine neu entdeckte Krankheit, das sog. „False-memory-syndrome“, zu deutsch „Falsche Erinnerungen“ oder „Pseudoerinnerungen“. Halten Sie es für möglich, dass sich jemand einbildet, als Kind misshandelt worden zu sein?

Nein, weil unser Organismus eher die Schmerzen flieht und sie niemals erfindet. Bei der False Memory Stiftung handelt es sich um eine reine Interessengemeinschaft von vermögenden Eltern, die sich in den 80er Jahren in den USA gebildet hat und Therapeuten gerichtlich verfolgte, als ihre erwachsenen Kinder den einst erlittenen sexuellen Missbrauch durch die eigenen Eltern in den Therapien erinnern konnten. Leider sind viele Therapeuten durch diese Stiftung eingeschüchtert worden, und das mag dazu beigetragen haben, dass heute die Realität der Kindheit in den meisten angebotenen Therapien kaum existiert.

11. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass dieses Krankheitsbild keineswegs wissenschaftlich überprüft worden ist. Warum erfährt es dennoch so große Verbreitung?

Genau deshalb, weil es sich eben um die Verleugnung der Wahrheit handelt. Dafür hat man immer dankbare Abnehmer. Die Tätigkeit der Stiftung wird jetzt auch in Deutschland und Frankreich bekannt und begrüßt. Das erinnert an die Zeit, als Sigmund Freud seine Entdeckung der sexuellen Misshandlungen begraben und seinen Schülern den Oedipuskomplex angeboten hat, um seinen Vater, „der vielleicht auch zu den Perversen gehörte“ (zitiert nach Freud, in meinem Buch „Du sollst nicht merken“) nicht fürchten zu müssen.

12. Ihre Bücher haben hohe Auflagen und wurden in 30 Sprachen übersetzt. Warum setzen sich Ihre Erkenntnisse trotzdem so langsam durch?

Weil ich nichts anzubieten habe, als den Rat, sich die eigene Kindheit anzuschauen, und jeder tut lieber alles andere als dies. Aber Menschen, die den Mut haben, dies zu tun, und sich nicht durch Eltern schonende Theorien aller Art verwirren lassen, entdecken tatsächlich Goldminen in ihren Geschichten, die Schlüssel zum Verständnis ihres ganzen Lebens. Dank der Entdeckung ihrer Wahrheit verlieren sie die Symptome wie Depressionen und Essstörungen. Natürlich bedeutet das oft eine sehr schmerzhafte Arbeit, die sich aber lohnt.

13. Welche gesellschaftlichen Veränderungen sind notwendig, damit die Weitergabe der Gewalt von Generation zu Generation beendet wird?

Vor allen Dingen die Verbreitung des Wissens über die Dynamik der Gewalt, die Aufklärung der Massen über die Art, wie sie die Tendenz zur Gewalt in ihren Kindern produzieren. Mit der Aufklärung der Päpste habe ich erhofft, ein AHA Erlebnis und den Wunsch, Kinder zu beschützen, zu bewirken. Ein einziger Satz aus dem Vatikan ließe die jungen Eltern aufhorchen. Doch nichts dergleichen geschah. Indessen bewirkt das Schlagen der Kinder enorm viel Unheil, ein striktes Verbot dagegen sollte endlich das Bewusstsein der Massen wecken, dass jedes Kind von seinen Eltern respektiert werden MÜSSE und dass es das Recht auf den Schutz des Staates hat, um später keine Kriege organisieren zu wollen.

14. Haben wir uns nicht diesem Ziel genähert in der letzten Zeit?

Leider nicht. Noch 20 Staaten der USA erlauben körperliche Strafen in den Schulen. Das steht im scharfen Gegensatz zur humanen Konstitution der Vereinigten Staaten, die JEDEM Bürger Sicherheit und Schutz garantiert. Weshalb es trotzdem erlaubt ist, Kinder in den Schulen zu schlagen, stellen nur sehr Wenige in Frage. Stehen die Kinder nicht unter dem gleichen Schutz wie andere Bürger? Zumal die an ihnen verübten Verletzungen Schäden im Gehirn bewirken, während der verletzte Erwachsene bereits über ein fertig ausgebildetes Gehirn verfügt und somit weniger Schaden nimmt als das Kind? Die Reflexion über diese Fragen steht uns noch bevor.

Die Fragen stellte Katharina Micada

 

 

Die Bilder sind Reproduktionen der Arbeiten von Alice Miller und stammen aus „Bilder meines Lebens“.
Mit freundlicher Genehmigung von Alice Miller.