Kommentar

Hamed Abdel-Samad: "Wir brauchen mehr Besonnenheit!"

hamed_abdel_samad_quer.jpg

Hamed Abdel-Samad
Hamed Abdel-Samad

BERLIN. (hpd) Am Tag nach der Schießerei im Münchener Olympia-Einkaufszentrum geht die Polizei von einem Amoklauf eines Einzeltäters aus. Viele Gerüchte und Spekulationen wurden über die sozialen Netzwerke verbreitet, obwohl es keine gesicherten Erkenntnisse gab. Der Politologe Hamed Abdel-Samad kommentiert die Reaktionen.

Die Reaktionen auf den Amoklauf von gestern müssen uns allen zu Denken geben. Es ist beschämend, dass viele schon alles besser wussten, bevor irgendwelche Details bekannt wurden. Noch beschämender ist es, dass viele nun enttäuscht sind, dass der Täter offensichtlich keinen islamistischen oder rechtsradikalen Hintergrund hat, obwohl die eine Variante katastrophaler wäre als die andere, und zwar für uns alle. Die einen wollten die Tragödie missbrauchen, um gegen Muslime pauschal zu hetzen, die anderen (u.a. einige Muslime und Linke) wünschten sich einen rechtsradikalen Täter, um sich als Opfer zu stilisieren.

Wir sitzen alle im gleichen Boot. Der Hass vergiftet die ganze Welt. Der Terror verselbstständigt sich. Jeder frustrierte junge Mensch kann sich nun die Vernichtungsfantasien der Islamisten zu eigen machen und die Menge überfahren oder auf sie losschießen. Die Live-Übertragung solche Ereignisse ermutigt die Nachahmer, ihren Namen in die Hall of Fame einzutragen. Alle, die ihre Lust an der Sensation durch die "Live-Bilder" stillen wollten und alle, die sich an Spekulationen beteiligt haben, sind irgendwie mitverantwortlich. Das Ganze ist aber nicht lustig und eignet sich nicht für die billigen ideologischen Grabenkämpfe, die viele von ihrer Couch aus austragen.

Können wir uns nicht auf folgendes einigen?

  • Dass es so viele Muslime gibt, die Terror durchführen, bejubeln oder gutheißen, macht nicht alle Muslime automatisch zu potentiellen Terroristen oder Schläfern
  • Dass wenn Menschen aus anderen Motiven töten, macht dies den Islam nicht automatisch zu einer friedlichen Religion
  • Dass der Islam ein ernsthaftes Problem mit Gewalt hat, und dass es im Interesse der Muslime selbst ist, dieses Problem ehrlich anzusprechen und nach Lösungen zu suchen
  • Dass alle vernünftigen Menschen, Muslime, Christen, Juden und Atheisten, Buddhisten und Nudisten gemeinsam für eine Sache kämpfen sollen: Freiheit und Menschenrechte 
  • Dass wir alle uns gegen Hass und Ausgrenzung einsetzen sollen, auch wenn es aus den eigenen Reihen kommt
  • Dass die Opferrolle und die Verschwörungstheorien nur eine Flucht vor der Verantwortung sind
  • Dass man Demokratie niemals mit Hass und Ausgrenzung, sondern mit Vielfalt, Offenheit, Rechtsstaatlichkeit und Wachsamkeit verteidigen kann 
  • Dass die Welt immer verrückter und unberechenbarer wird. Deshalb brauchen wir mehr Besonnenheit, aber auch mehr Ehrlichkeit, wenn wir die Wurzeln der Probleme benennen

Wird deshalb meine Islamkritik in der Zukunft leiser? Natürlich nicht. Im Gegenteil. Sie muss noch deutlicher werden, und zwar wegen der oben genannten Vorschläge! Was aber auch noch deutlicher sein sollte, ist der Unterschied zwischen der Ideologie und den Menschen, die vielfältiger und vielschichtiger sind als die Ideologie, die sie einschränken und uniformieren will!