Raoul Schrott: "Die Kunst an nichts zu glauben"

Poetische Rekonstruktion einer Atheistenbibel

BERLIN. (hpd) Raoul Schrott ist ein genialer lyrischer Stimmenimitator. Das Gilgamesch-Epos, altägyptische Liebeslyrik und Hesiod hat er nachgedichtet. Dieser unerschrockene poetische Gaukler zauberte nun die erste atheistische Bibel aus seinem Zylinder. Ein gewisser Matthias Knutzen soll sie 1674 veröffentlicht haben. Im Norddeutschen vor 370 Jahren bei Eiderstedt geboren und in Krempe als Hauslehrer tätig. Seine Spuren verlieren sich in Italien.

Es gab ihn wirklich. Nur das Manual "Über die Vergänglichkeit der Existenz. Über die Kunst an nichts zu glauben", das Raoul Schrott in einer Bibliothek in Pomposa nahe Ravenna gefunden haben will, gab es natürlich nicht. Wohl aber sind von Knutzen drei Flugschriften gesichert, die 1965 erstmals in der DDR im Akademie-Verlag erschienen sind, 2010 bei Frommann-Holzboog in Stuttgart noch einmal. Zwei von ihnen dichtet Schrott weiter. "Von den drei Hochstaplern" titelt die eine und meint Christus, Moses und Mohammed. "Freundliche Wünsche eines Freundes für seinen Freund" ist die andere überschrieben und behauptet die Existenz einer 700-köpfigen Gemeinschaft der "Gewissener", die sich einzig der Vernunft und dem Wissen verpflichtet sehen, allerdings nicht des Einzelnen sondern der Vielen. Es hat diese Gemeinde wohl nie gegeben. Doch Raoul Schrott verleiht ihr seine lyrische Stimme in Gestalt von Allegorien heutigen Personals. Entstanden ist ein vielstimmiger Wechselchor, der einander ablösende Soli den Sentenzen einer imaginären atheistischen Bibel gegenüberstellt.

Er legt die oft gereimten Verse nicht nur dem klassischen Personal der Lyrik in den Mund sondern einem tagesaktuell erweiterten: den Reisenden und den Verliebten, aber auch den Flüchtlingen.

Da erheben der Arzt und der Kranke ihre Stimmen, aber ebenso der Straßenbauarbeiter, die Kassiererin, die Ornithologin, der Museumswärter, der Pizzabäcker und die Primatologin. In der Dolmetscherin, die mnemotechnische grafische Chiffren zum gesprochenen Wort anfertigt und am liebsten alles Reden nur noch mit Ja oder Nein übersetzen würde, dürfen wir wohl eine verborgene Seite des Dichters selbst vermuten. Ein alter ego in der Souffleuse, der die Aussetzer der Schausteller Momente der Entrückung in das unverstellt Leere offenbaren. Mehr noch in dem Architekten, der räsoniert: "was man baut/geht aus blaupausen hervor die einem der wind vom tisch weht/an nichts zu glauben ist eine kunst".

Nach den großen Epen der Antike gibt Raoul Schrott demnächst ein ambitioniertes Weltanfangsepos der modernen Wissenschaft heraus. "Erste Erde" soll es heißen, nach einer Hörspielserie aus Interviews überwiegend mit Naturwissenschaftlern, die im Bayerischen Rundfunk gerade gesendet wurde. Von der Bundeskulturstiftung gefördert. In der "Kunst nichts zu glauben" herrscht dagegen noch der Kammerton vor. Die ersten Gedichte sind schon 2006 verfasst und ihre Anlässe sind sehr persönliche Momente. Im April 2014 - und hier dürfte die eigentliche Geburtsstunde des Projekts der atheistischen Bibel des Knutzen zu datieren sein - entstanden die programmatischen Zeilen über die Mosaiken der spätantiken Basilika-Kirche von Sant Apollinare in Classe vor den Toren des alten Ravenna.

Splitter aus Stein und Glas fügen sich dort zu einer Lobpreisung der diesseitigen Welt voller Vögel und Blumen, so deutet es Schrott. Statt im Himmel steht der Weltenherrscher auf einer sattgrün leuchtenden Wiese umgeben von Lämmern. Ähnlich konkret wachsen in Raoul Schrotts Versen Vogelmieren und Dornmyrthen, würgt der Sperber Gewölle wieder und steckt als Exempel der aus der Unvollkommenheit der Welt entstandenen Folgen des Zufalles – welcher wiederum die Evolution in Gang hält – der Nandu seinen Kopf aus einem Lüdersdorfer Rapsfeld.

Dennoch ist das lyrische Ich dieses Knutzen alias Raoul Schrott dem moralisierenden Ton des 17. Jahrhunderts verhaftet. Denn was heißt hier Unvollkommenheit. Aufgesplittert in viele Ichs, so wie in den Mosaiken das Ganze sich zusammensetzt aus vielen Steinchen, vermittelt das Werk eine gebrochen melancholische Grundstimmung, leise Trauer, selten Empörung darüber, dass da überall nur Transitorisches ist und Fragmentiertes, Scheitern und Unvollendetes. Darüber dass alles in der Schwebe bleibt und im Dazwischen. "sucht und suche sind unsere gebrechen", dieser Satz könnte von einem Blaise Pascal unserer Tage stammen, dem nun nicht mehr der Glaube bleibt, nur die Leere.

Was macht das mit uns allen, die ihr nicht entkommen können? Zunächst scheinbar nichts: "ob frei oder unfrei – jedenfalls handeln wir nach unserem willen", gibt Schrott der Debatte um den freien Willen eine bemerkenswerte Wendung. Das Wissen der Vielen hat er dabei genau beobachtet. Denn unseren Willen fühlen wir doch stets, sei er frei oder nicht. Auch wenn die Frage nach Ursache dieses Willens offen bleibt.

Aber wie soll man den letzten Satz aus der angeblichen Abschrift des Knutzens Werk deuten, der da lautet: "das absolute wirkt im nichts VI.I" Wie eine Luftspiegelung verschwindet die ganze eben aufgefächerte bestürzend verwirrende Welt aus schimmernden lyrischen Mosaiksteinchen von dieser Welt. Das Kaninchen ist wieder im Zylinder verschwunden. Der Fächer zugeklappt. Die Desillusion noch der Desillusion – mit dieser Kapriole kehrt der Stimmenzauberer zurück hinter den Vorhang - und zurück bleibe ich nicht ernüchtert. Sondern verblüfft.

Raoul Schrott: Die Kunst an nichts zu glauben, Hanser Verlag München, 2015, 168 S., 17.90 Euro