Die Sterbehilfe-Debatte in den Medien

Es ist ein Kampf ums Diesseits

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WIEN. (hpd) In der Online-Ausgabe des Magazins CICERO erschien am 14. Oktober ein Artikel mit dem Titel: “Atheisten rüsten zum Suizid” von Alexander Kissler (der hpd berichtete). Darin heißt es, dass der Streit um die Sterbehilfe ein Streit um die Gottesfrage sei. Unser Korrespondent antwortet darauf mit einem offenen Brief.

 

Sehr geehrter Herr Kissler,

Ich habe gerade Ihre Kolumne zur Sterbehilfe-Debatte gelesen und fühle mich als Journalist verpflichtet, gleichsam aus meinem Berufsethos heraus, Widerspruch gegen die eine oder andere Formulierung anzumelden, die ich für höflich formuliert sehr problematisch halte. Wäre es nicht der Cicero sondern ein beliebiges Käseblatt am Boulevard, seien Sie versichert, ich würde mich nicht aus dem fernen Wien melden. Bei Ihrer Zeitschrift habe ich freilich etwas gehobene Ansprüche.

Sie schreiben etwa: “Der brachiale Selbstmord des Udo Reiter war der Auftakt zu einem heißen Herbst des Sterbens.” Das ist mit Verlaub faktisch Unsinn. Es suggeriert einen Zusammenhang zwischen dem Freitod Reiters und der laufenden Debatte. Einen Zusammenhang, der über das zeitliche Zusammentreffen der beiden Ereignisse hinausgeht.

Als hätte die Kampagne für mehr Sterbehilfe in überlichgeschwindigkeitsartiger Kommunikation unmittelbar nach dem Bekanntwerden des tragischen Ereignisses die Kampagnenfotos herstellen, zu Sujets montieren und auch noch die Werbeflächen buchen lassen, samt Vorbereitung und Durchführung einer Pressekonferenz - wobei die Pressekonferenz Stunden über die Bühne ging, BEVOR Reiters Tod bekannt wurde. Und die ersten Autos mit den Sujets der Kampagne fuhren überhaupt schon vier Tage auf den Straßen, bevor irgendjemand etwas von Reiters einsamer und tragischer Entscheidung wusste. Das nenn ich nun eine reife Leistung. Leider waren die Physiknobelpreise schon vergeben, sonst wären sie sicher an die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben verliehen worden… Ähnliches ließe sich selbstredend über die Gegenseite sagen. Auch sie positioniert sich seit Wochen in einer Lautstärke, die man auch jenseits der bundesdeutschen Grenze wahrnimmt.

Alternativ ließe ihre Formulierung den Schluss zu, Reiter habe sich in Absprache mit der Kampagnenleitung das Leben genommen. Die Vorstellung ist beinahe so absurd wie die erste. Zumal sie einem Medienprofi wie Reiter atemberaubende Inkompetenz unterstellt. Gerade er hätte doch wissen müssen, dass sein Freitod die Berichterstattung über den Auftakt zur Kampagne “Mein Tod gehört mir” überlagern würde. Das sollte den Schluss nahe legen, dass die beiden Ereignisse in keiner Weise miteinander verknüpft waren.

Dass der Suizid Reiters möglicherweise auf medialer Ebene der Debatte so richtig Schwung verliehen hat, will ich nicht bestreiten. Das auszudrücken ist legitim. Nur, das haben Sie mit dieser Formulierung nicht.

Auch auf die Gefahr hin, als Pedant wahrgenommen zu werden, ist das nicht das einzige Problem, das ich mit diesem ersten Satz habe. Die Wortwahl “heißer Herbst des Sterbens” kann man selbst bei vornehmster Zurückhaltung nur als verunglückt beschreiben. In Kobane kommen hunderte Menschen ums Leben und wenn die IS-Milizen die Stadt erobern, steht ein Massaker bevor. In Westafrika sterben die Menschen dutzendfach an Ebola. Und Sie faseln etwas von einem “heißen Herbst des Sterbens” wegen einer Debatte um die Sterbehilfe in Deutschland?

Bei allem Verständnis für Polemik - und gerade meines ist hier sehr groß - und bei allem Verständnis dafür, dass Sie sich nach Kräften bemühen, gegen den Strich zu bürsten: Nicht jedes dumme Formulierung ist ein probates Mittel der Provokation. Manchmal verwischt sie leichtfertig den Unterschied zwischen dem Boulevard und Qualitätsjournalismus. Wenn ich Cicero lese, tu ich das eher nicht aus einem unterbewusst stark ausgeprägten und verleugneten Drang heraus, zur Zeitung mit den vier Großbuchstaben greifen oder mir gar eine Presseaussendung der FPÖ zu Gemüte führen zu wollen.

Jetzt nimmt allein die Schlampigkeit Ihres ersten Satzes so viel Raum ein - und ich unterstelle hier höflicherweise Schlamperei und nicht einen dummdreisten Manipulationsversuch unter völliger Überschätzung der eigenen Möglichkeiten -, dass ich aus Platzgründen verzichte, die anderen intellektuell oder stilistisch problematischen Stellen eingehender zu analysieren. Nur, wie Sie darauf kommen, die Kampagne für eine Fristenregelung und die aktuelle Sterbekampagne seien de facto ausschließlich von Atheisten getragen, erschließt sich nicht wirklich.

Tatsächlich war bei den Debatten um die Einführung der Fristenregelung in Deutschland wie in Österreich auch die organisierte atheistische Szene aktiv, spielte aber Nebenrollen. Getragen wurden die Kampagnen von der Frauenbewegung. Die ist religiös gesehen etwas vielfältiger, als Sie uns weismachen wollen. Oder Ihnen möglicherweise selbst bewusst ist. Es gibt gerade für Frauen ja durchaus noch andere Motive, sich für ein Recht auf straffreien Abbruch stark zu machen als eine prononciert atheistische Überzeugung. Tatsächlich ließe sich vermuten: Die wenigsten Frauen, die einen Abbruch vornehmen lassen, tun dies aus einer atheistischen Überzeugung heraus - oder um der katholischen und der evangelischen Kirche eines auszuwischen.

Viel näher liegt die Vermutung, erst die bevormundende, prohibitive, Haltung der Kirche(n) zu diesem Thema habe viele Frauen in ihrem Kampf um das Recht am eigenen Körper in kirchen- und religionskritische Positionen gedrängt. Und solcherart vielleicht in der einen oder anderen die Überzeugung reifen lassen, die Sache mit diesem Gott sei möglicherweise doch nur eine Erfindung. Bei der Abtreibungsdebatte trifft ihr Befund also einfach nicht zu.

Nun stammen viele Befürworter eines liberaleren Sterbehilfe-Rechts aus der atheistischen und humanistischen Szene. Gerade Udo Reiter übrigens nicht. Nur sind viele eher durch ihr langjähriges Engagement gegen die - unleugbar vorhandene - Bevormundung durch Gesetze, die eindeutig religiösen Anstrich tragen, in ebendiese Positionen gedrängt worden. Dazu kommt, dass viele liberalere Katholiken und Protestanten ein liberaleres Sterbehilfrecht zwar der Sache nach unterstützen, sich aber ungern mit dieser Unterstützung in die Öffentlichkeit wagen. Weil sie etwa im kirchennahen Bereich arbeiten (Hospizmitarbeiter sind hier häufig um einiges verständnisvoller als es der offiziellen Linie entspricht), weil sie im kirchlichen Gemeindeleben verankert sind, weil sie befürchten, in der Öffentlichkeit von ihren Hirten gemaßregelt oder pauschal als Atheisten bezeichnet zu werden. Letzteres zu Recht, wie Ihr Kommentar zeigt.

Wissen können wir das freilich nicht. Anders als die katholischen und protestantischen Hospize ihre Mitarbeiter fragt die Kampagne “Mein Tod gehört mir” meines Wissens nach Aktivisten und Unterstützer nicht nach einer religiösen Zugehörigkeit. Womit allein schon Ihre These zumindest teilweise widerlegt wurde. Und dass sich - aus oben genannten Gründen - Organisationen wie “Wir sind Kirche” der Kampagne eher nicht anschließen werden, dürfte wohl auch klar sein. Bei Ärztegesellschaften besteht ein ähnliches Problem. Das könnte für die Beteiligten ins Auge gehen.

Wer bleibt dann übrig, eine solche Kampagne finanziell, personell und organisatorisch zu tragen? Der Kleintierverband Hamburg Altona eV vielleicht?

Der jahrzehntelange kirchliche Widerstand gegen jegliche Debatte hat einfach niemand anderen übrig gelassen, den Willen weiter Teile der deutschen Bevölkerung zu artikulieren. Wer nimmt denn in Ihrem Land (wie auch in meinem) an einer Debatte teil, wenn von vornherein klar ist, dass die Gegenseite der organisatorisch und finanziell weit überlegene Klerus ist? Den politischen Parteien fehlt der Mumm. Gewerkschaften fühlen sich in derlei Fragen meist nicht zuständig. Diesen Konflikt tragen bei uns fast nur Atheisten und Humanisten aus. Ohne, dass sie dabei notwendigerweise atheistische “Kernforderungen” artikulieren. Ein gestandener Atheist kann sehr wohl Sterbehilfe ablehnen.

Nicht, ob es einen Gott gibt oder nicht - oder die Mehrheit der Deutschen daran glaubt -, wird hier entschieden. Hier wird debattiert, welchen Einfluss religiöse Organisationen noch auf die Gesetzgebung haben dürfen. Ob sie das Recht haben, jedermann vorzuschreiben, wie er zu leben und zu sterben hat, oder nicht. Dass es vorwiegend atheistische Organisationen sind, die diesen Kampf ausfechten müssen, ist eine tragische Zustandsbeschreibung dieser Gesellschaft. Es ist ein Kampf ums Diesseits, hier, jetzt und heute. Die Frage, ob es ein Jenseits gibt, bleibt davon unberührt. Sonst würden nicht Paradekatholiken wie Hans Küng ihr Recht auf Selbstbestimmung am Lebensende geltend machen.

Mit freundlichen Grüßen,

Christoph Baumgarten