Sterbehilfe-Debatte

"Traue niemandem, der sich auf den hippokratischen Eid beruft!"

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BERLIN. (hpd) Als Reaktion auf den im Mai in der "Ärztezeitung" veröffentlichten Offenen Brief von 180 Ärzten, die sich gegen Montgomery und für ärztliche Sterbehilfe aussprachen, ist im "Ärzteblatt" vor wenigen Tagen ein Gegenbrief erschienen, der für Montgomery und gegen die ärztliche Freitodbegleitung Stellung bezieht. Dass in dieser Frage eine Pluralität innerhalb der Ärzteschaft herrscht, wusste man schon vorher, erstaunlich ist aber, dass sich die Anti-Sterbehilfe-Ärzte so entschieden auf den in vielerlei Hinsicht überkommenen hippokratischen Eid berufen. 

Der Initiator des aktuellen Briefes der ärztlichen Sterbehilfegegner ist kein Unbekannter: Prof. Dr. med. Paul Cullen  ist nicht nur Labormediziner, wie es in der Anzeige heißt, sondern auch Vorsitzender der Vereinigung "Ärzte für das Leben", die ein Verbot des Schwangerschaftsabbruchs sowie der "Pille danach" fordert und auch den "Marsch für das Leben" unterstützt. In dem von ihm und 349 anderen Kollegen unterzeichneten Brief heißt es: "Auf keinen Fall dürfen wir uns dafür hergeben, Leidende zu beseitigen, indem wir Beihilfe zum Suizid leisten. Dies wäre ein Bruch mit jenem seit 2400 Jahren gepflegten Hippokratischen Ethos, das jede Beteiligung an der Tötung oder Selbsttötung eines Menschen ausschließt."

Uwe-Christian Arnold und Michael Schmidt-Salomon haben die Absurdität dieser Berufung auf den hippokratischen Eid in ihrem Buch "Letzte Hilfe – Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben" klar herausgestellt. Mit Genehmigung der beiden Autoren dokumentiert der hpd nachfolgend die entsprechenden Passagen aus dem Buch.

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(…) Fragt man Mediziner, die die Suizidbegleitung ablehnen, nach ihren Gründen, lautet die Standardantwort, die Hilfe zur Selbsttötung widerspreche dem "hippokratischen Eid", der den Arzt auf die Bewahrung des Lebens verpflichte. Das klingt seriös, sicher, selbstbewusst. Fragt man allerdings nach, was genau in diesem Eid steht und ob sich der Arzt auch nach diesen Vorgaben richtet, weicht die Selbstsicherheit schnell der Verunsicherung. Tatsächlich nämlich kennt kaum ein deutscher Arzt den Wortlaut des hippokratischen Eids, geschweige denn, dass er ihn je geschworen hätte.

Um zu verstehen, was es mit diesem in der Debatte so häufig strapazierten Eid auf sich hat, müssen wir 2400 Jahre in die Vergangenheit zurückgehen. Von 460 bis 370 vor unserer Zeitrechnung lebte der griechische Arzt Hippokrates von Kos, der als Begründer der wissenschaftlichen Medizin gilt (wenngleich es natürlich schon Jahrtausende vor ihm Menschen gab, die sich um die Heilung von Krankheiten bemühten). Hippokrates’ Methode war einerseits modern, da er von den Ärzten verlangte, ihre Patienten gründlich zu untersuchen, zu befragen und zu beobachten, bevor sie eine Diagnose stellten und eine Therapie vorschlugen. Andererseits jedoch beruhte sein Krankheitskonzept auf einer schweren Fehlannahme. Hippokrates glaubte, dass Krankheiten aus einem Ungleichgewicht der "vier Körpersäfte" Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle entstehen würden, eine Lehre, die viele Jahrhunderte lang kaum kritisch hinterfragt wurde und unzählige Menschen das Leben kostete. 

Da Hippokrates schon in der Antike als legendärer Mediziner galt und seine Schule viele weitere berühmte Ärzte hervorbrachte (etwa Galen, der die Vier-Säfte-Lehre sechs Jahrhunderte später weiterentwickelte), ist uns das sogenannte Corpus Hippocraticum, eine Sammlung von mehr als 60 antiken medizinischen Texten, bis zum heutigen Tage überliefert. Allerdings stammen längst nicht alle Texte dieser Sammlung aus der Feder des Hippokrates, und der berühmte Eid ist darin auch nicht zu finden.

Die älteste Erwähnung des hippokratischen Eids stammt aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Der römische Arzt Scribonius Largus berief sich im Prolog zu seinen im Jahr 43 entstandenen Compositiones, einer umfangreichen Sammlung medizinischer Rezepte, ganz selbstverständlich auf den Eid des Hippokrates, so dass wir davon ausgehen können, dass er unter den Gelehrten der damaligen Zeit bekannt war. Was aber besagt diese berühmte Schwurformel? Schauen wir uns den genauen Wortlaut dieses antiken Eides an, der das ärztliche Berufsethos bis heute prägen soll.

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Der hippokratische Eid

Ich schwöre bei Appollon, dem Arzt, und Asklepios und Hygieia und Panakeia und allen Göttern und Göttinnen, indem ich sie zu Zeugen rufe, dass ich nach meinem Vermögen und Urteil diesen Eid und diese Vereinbarung erfüllen werde:

Den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich zu achten meinen Eltern und ihm an dem Lebensunterhalt Gemeinschaft zu geben und ihn Anteil nehmen zu lassen an dem Lebensnotwendigen, wenn er dessen bedarf, und das Geschlecht, das von ihm stammt, meinen männlichen Geschwistern gleichzustellen, und sie diese Kunst zu lehren, wenn es ihr Wunsch ist, sie zu erlernen ohne Entgelt und Vereinbarung, und an Rat und Vortrag und jeder sonstigen Belehrung teilnehmen zu lassen meine und meines Lehrers Söhne sowie diejenigen Schüler, die durch Vereinbarung gebunden und vereidigt sind nach ärztlichem Brauch, jedoch keinen anderen.

Die Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meinem Vermögen und Urteil, mich davon fernhalten, Verordnungen zu treffen zu verderblichem Schaden und Unrecht. Ich werde niemandem, auch auf eine Bitte nicht, ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen; gleicherweise werde ich keiner Frau ein fruchtabtreibendes Zäpfchen geben: Heilig und fromm werde ich mein Leben bewahren und meine Kunst. Ich werde niemals Kranke schneiden, die an Blasenstein leiden, sondern dies den Männern überlassen, die dies Gewerbe versehen.

In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Was immer ich sehe und höre, bei der Behandlung oder außerhalb der Behandlung, im Leben der Menschen, so werde ich von dem, was niemals nach draußen ausgeplaudert werden soll, schweigen, indem ich alles Derartige als solches betrachte, das nicht ausgesprochen werden darf.

Wenn ich nun diesen Eid erfülle und nicht breche, so möge mir im Leben und in der Kunst Erfolg beschieden sein, dazu Ruhm unter allen Menschen für alle Zeit; wenn ich ihn übertrete und meineidig werde, dessen Gegenteil.

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Viele Menschen, die diesen Text das erste Mal lesen, reagieren verwundert: "Das soll der berühmte hippokratische Eid sein, der das ärztliche Berufsethos heute noch bestimmt?" Dieses Befremden ist durchaus verständlich, denn wer weiß schon noch, wer Asklepios, Hygieia und Panakeia waren? Und wer würde sich freiwillig von einem Arzt behandeln lassen, der sich auf längst vergessene Götter und Göttinnen als Zeugen seiner Heilkunst beruft?

Irritierend wirkt auch, dass sich der hippokratische Eid über weite Strecken, nämlich in dem gesamten ersten Absatz, ausschließlich einem Phänomen widmet, das man wohl am ehesten als "Ärzteklüngel" bezeichnen könnte, nämlich der ökonomischen Absicherung des elitären Kreises der Heilkundigen samt ihrer (männlichen) Nachkommen. Befremdlich wirkt auf uns heute auch der empfohlene Umgang mit dem Patienten. Wir werden sicher zustimmen, dass Ärzte nach dem hippokratischen Eid "verderblichen Schaden und Unrecht" vom Patienten fernhalten und auch die ärztliche Schweigepflicht ("Was immer ich sehe und höre…") beachten sollen. Doch warum sollte ein Arzt einer Frau kein "fruchtabtreibendes Zäpfchen" geben dürfen? Und was spricht dagegen, einen Menschen, der an Blasensteinen leidet, zu operieren? Steht der Beruf des Urologen, den ich über Jahrzehnte ausgeübt habe, per se im Widerspruch zum Eid des Hippokrates? Die historische Antwort darauf ist übrigens einfach: Medizin und Chirurgie waren damals getrennte Berufe, weshalb der hippokratische Eid für Chirurgen nach traditionellem Verständnis überhaupt keine Bedeutung hatte. 

Ich bezweifle, dass den deutschen Ärzten, die ihre Ablehnung der Suizidbegleitung mit dem hippokratischen Eid begründen, bewusst ist, dass sie gegen diesen Eid schon verstoßen, wenn sie gemeinsam mit einer Ärztin praktizieren oder ihren alten Medizinprofessor nicht am eigenen Einkommen beteiligen. Wenn es aber so ist, dass der hippokratische Eid über weite Strecken keine Bedeutung mehr hat, warum soll er dann ausgerechnet in der Sterbehilfe-Debatte eine Rolle spielen? Wäre es nicht völlig absurd, wenn ich Menschen mit schwersten Leiden, die von unerträglichen, palliativmedizinisch nicht beherrschbaren Schmerzen gequält werden (wie Herr B.) oder befürchten müssen, bald "lebendig begraben" zu sein (wie Dr. S.), meine Hilfe verweigern würde, weil ich bei "Asklepios und Hygieia und Panakeia" geschworen habe, dass ich niemandem "ein tödlich wirkendes Gift geben und auch keinen Rat dazu erteilen" werde? 

Tatsächlich kann man im Fall des hippokratischen Eids eine ähnliche Faustregel formulieren wie bei der Verwendung der überkommenen Begriffe "aktive", "passive" und "indirekte" Sterbehilfe (siehe Kapitel 3): Traue niemandem, der sich in einer medizinethischen Debatte auf den hippokratischen Eid beruft, denn entweder weiß er nicht, wovon er spricht, oder er benutzt diesen Verweis, um sein Publikum hinters Licht zu führen!

Da der hippokratische Eid schon lange nicht mehr dazu geeignet ist, ein modernes ärztliches Berufsethos zu begründen, hat der Weltärztebund nach dem zweiten Weltkrieg eine neue Schwurformel entwickelt, das sogenannte "Genfer Gelöbnis".

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Genfer Gelöbnis des Weltärztebunds

Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich: mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.

Ich werde meinen Lehrern die schuldige Achtung und Dankbarkeit erweisen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben.

Die Gesundheit meines Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Meine Kolleginnen und Kollegen sollen meine Schwestern und Brüder sein. 

Ich werde mich in meinen ärztlichen Pflichten meinem Patienten gegenüber nicht beeinflussen lassen durch Alter, Krankheit oder Behinderung, Konfession, ethnische Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politische Zugehörigkeit, Rasse, sexuelle Orientierung oder soziale Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden.

Dies alles verspreche ich feierlich und frei auf meine Ehre.

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Im Unterschied zum hippokratischen Eid nimmt das Genfer Gelöbnis keinen Bezug auf den ärztlich assistierten Suizid. Vermutlich ist dies der Grund dafür, warum die Gegner des selbstbestimmten Sterbens Zuflucht beim zweitausend Jahre alten Eid des Hippokrates suchen. Das Genfer Gelöbnis beginnt und endet mit der feierlichen Bekundung, das eigene "Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen." Der Begriff der "Menschlichkeit" ist inhaltlich jedoch so unbestimmt, dass er von Verfechtern und Verächtern der Suizidassistenz ganz unterschiedlich interpretiert werden kann: Ist es beispielsweise "menschlich" oder "unmenschlich", die Bitte einer 82jährigen Krebspatientin zu erfüllen, die ihren Kot erbricht und beständig um ein schnelles Ende fleht? Viele werden sagen, die Menschlichkeit verlange es, ihr zum ersehnten Tod zu verhelfen. Andere werden jedoch behaupten, die Menschlichkeit verbiete es, der Frau ein tödliches Medikament auszuhändigen. 

Auch der eindringliche vorletzte Satz des Genfer Gelöbnisses bringt keine Klarheit: Denn mit der Verpflichtung, "jedem Menschenleben von seinem Beginn an Ehrfurcht entgegen(zu)bringen", ist offenkundig nicht die absolute Unantastbarkeit des menschlichen Lebens gemeint. Wäre es anders, so dürften Ärzte weder Schwangerschaftsabbrüche vornehmen noch eine Beatmungsmaschine auf Wunsch des Patienten abschalten – wozu sie, wie wir gesehen haben, juristisch verpflichtet sind, da sie sich sonst einer strafbaren "Körperverletzung" schuldig machen würden. 

Auf die Frage nach der Zulässigkeit der Sterbehilfe gibt das Genfer Gelöbnis also keine Antwort. Und das ist auch gut so. Denn Gelöbnisse, Schwüre, Eide, ärztliche Deklarationen sind keine "heiligen Schriften", die Normen und Werte für alle Ewigkeit definieren könnten, sondern Zeitdokumente, die aus ihrem historischen Kontext zu verstehen sind. 

Dies lässt sich auch am Beispiel des Genfer Gelöbnisses demonstrieren. Nach seiner Verabschiedung auf der zweiten Weltärztekonferenz im Jahr 1948 musste es mehrfach (u.a. 1968, 1983, 1994) überarbeitet werden, um einigermaßen aktuell zu sein. So war in der ursprünglichen Fassung von 1948 noch keine Rede davon, dass sich der Arzt in seinen Pflichten nicht von der "sexuellen Orientierung" seiner Patienten beeinflussen lassen dürfe. 

Bedeutet dies, dass Ärzte, die homosexuellen Patienten bereits in den 1940er und 1950er Jahren mit dem gleichen Respekt wie heterosexuellen begegneten, sich "unethischer" verhielten als ihre Kollegen, die Homosexualität (entsprechend den damaligen "medizinischen Erkenntnissen" und "juristischen Normen") als "Krankheit", "Unzucht" oder gar als "kriminelles Delikt" behandelten? Natürlich nicht. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts (mitunter schon sehr viel früher) haben kluge, ethisch denkende Ärzte erkannt, dass die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung jedem vernünftigen Berufsethos widerspricht – auch wenn die meisten Ärzte inklusive ihrer renommierten Spitzenverbände noch viele Jahrzehnte gebraucht haben, um zu dieser Erkenntnis zu gelangen.

Könnte es im Falle der Sterbehilfe nicht ganz ähnlich sein? Wer sich eingehender mit der Medizingeschichte befasst hat, weiß, dass die "Überlieferung des ärztlichen Berufes" keineswegs so "edel" ist, wie es das Genfer Gelöbnis behauptet. Auch da, wo Mediziner sich nicht direkt wie in Nazideutschland an Verbrechen gegen die Menschheit beteiligt haben, waren sie in den seltensten Fällen Vorreiter des gesellschaftlichen Fortschritts. Rühmliche Ausnahmen gab es, so wie den großen Berliner Arzt Rudolf Virchow, der als Begründer der modernen Pathologie nicht nur mit der Vier-Säfte-Lehre des Hippokrates endgültig aufräumte, sondern als Vertreter der "Deutschen Fortschrittspartei" auch aktiv gegen die Diskriminierung von Minderheiten ankämpfte. Doch in der Regel hinkte die überwiegend konservativ eingestellte Ärzteschaft den gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen hinterher. Die stark differierenden Umfrageergebnisse zum selbstbestimmten Sterben in der Bevölkerung und in der Ärzteschaft könnten darauf hindeuten, dass sich an diesem Sachverhalt bis heute wenig geändert hat. 

Halten wir fest: Die Berufung auf vermeintliche medizinische Autoritäten – sei es Hippokrates, sei es der Weltärztebund – bedeutet in einer rational geführten Debatte nicht viel. Schließlich geht es um das Ringen in der Sache und nicht um die Auslegung "kanonischer" Texte. (…)

Aus: Uwe-Christian Arnold / Michael Schmidt-Salomon: Letzte Hilfe. Ein Plädoyer für das selbstbestimmte Sterben. Rowohlt Verlag 2014, S.91-99.

Quellen: