Neue kritische Stalin-Biographie eines russischen Historikers

BONN. (hpd) Der russische Historiker Oleg Chlewnjuk legt mit "Stalin" eine neue Biographie des Diktators vor, worin er sich gegen die apologetischen und relativierenden Deutungen in seinem Heimatland ausspricht. Die Lebensbeschreibung bringt indessen aus der Perspektive der westlichen Forschung keine neuen Erkenntnisse, kann aber als interessante und seriöse Darstellung über das Leben eines der brutalsten politischen Massenmörder des 20. Jahrhunderts gelten.

In Russland lässt sich schon seit Jahren eine Stalin-Renaissance ausmachen: Bestimmte Teile der Gesellschaft erinnern sich an den Diktator als Garanten der Weltmacht Sowjetunion. Einige Autoren nehmen in ihren Büchern eine Apologie oder Relativierung der Stalin-Herrschaft vor. Derartige Entwicklungen scheinen den Historiker Oleg Chlewnjuk, leitender Mitarbeiter des Staatsarchivs der Russischen Föderation in Moskau, zu seiner Biographie "Stalin" motiviert zu haben. Im Vorwort weist er auf einschlägige Tedenzen hin, spricht etwa von "Stalins Apologeten" ebenso wie von "archivgestütztem Sensationsjournalismus".

Chlewnjuks Lebensbeschreibung des Diktators versteht sich demgegenüber als wissenschaftliches Werk, das die Darstellung auf wechselnden Erzählebenen präsentiert: "Die eine Ebene untersucht die Persönlichkeit Stalins und sein Regierungssystem vor dem Hintergrund seiner letzten Tage; die andere, eher konventionell chronologische, folgt den wichtigsten Stationen seiner Biographie der Reihe nach" (S. 19).

Demnach hat man es mit eine eher unüblichen Lebensbeschreibung zu tun, welche an die inhaltliche Struktur eines Romans erinnern. Gleichwohl mindert dies weder Beschreibung noch Erkenntnisgewinn. Bereits zu Beginn stellt Chlewnjuk fest: "Die Herrschaft Stalins über seine wichtigsten Mitarbeiter und andere hochrangige Funktionäre basierte in erster Line auf Furcht." Und weiter heißt es: "Die wichtigsten Entscheidungen wurden stets im direkten, idealerweise persönlichen Gespräch mit dem Diktator getroffen" (S. 22).

Derartige Einschätzungen, die meist in den Kapiteln mit Rückblicken aus der Perspektive der letzten Tage von Stalins Leben erfolgen, zwischengeschaltet sind die historisch-chronologisch ausgerichteten Teile der Biographie. Auch hier streut Chlewnjuk immer wieder interessante Anmerkungen ein. Ein Beispiel: "Auf den jungen Priesterkandidaten wirkte der allumfassende und in seiner Universalität fast religiöse Anspruch des Marxismus ungeheuer anziehend: Er füllte die Lücke, die die Abkehr von der Religion in sein Weltbild gerissen hatte" (S. 46).

Danach beschreibt der Autor in einem konventionellen Sinne die Entwicklung Stalins vom weniger bedeutsamen Mitstreiter Lenins im Vorfeld und während der Oktoberrevolution, den Aufstieg innerhalb der Partei bis zum Generalsekretär und an die Spitze nach der Ausschaltung Trotzkis. Besonders intensiv geht es danach um die Politik der Kollektivierung und den Terror im Rahmen der "Säuberungen", aber auch um die Entwicklung während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Entgegen mancher auch im Westen vertretener Deutungen, wonach sich der Terror eher als automatischer Prozess ohne das Zutun von Stalin ergeben habe, betont der Autor bereits früh: "Jedoch findet sich in den Quellen kein Beleg für die These von einem 'schwachen Diktator'. Wir kennen keine einzige folgenreiche Entscheidung, die nicht Stalin selbst getroffen hätte" (S. 76). Und später betont er erneut: "Die Unterlagen in den Archiven zeigen eindeutig, dass Stalin alle wichtigen Beschlüsse vorantrieb, wenn es um Säuberungen innerhalb der Partei und in staatlichen Einrichtungen ging …" (S. 258). Diese Einsicht ist indessen aus der Perspektive der westlichen Forschung nicht neu.

Einschlägige Fehleinschätzungen wurden bereits in der englischsprachigen Fachliteratur der letzten Jahre korrigiert. Besondere Aufmerksamkeit sollten sie von daher mehr in Russland selbst finden, wo eine ideologische und populärwissenschaftliche Literatur das Gegenteil behauptet. Nicht zufällig findet man daher auch auf der letzten Seite der Biographie den Satz: "Ein beträchtlicher Teil der russischen Gesellschaft sucht in der stalinistischen Vergangenheit Lösungen für die Gegenwart" (S. 516). Insofern verdient die Biographie auch dort mehr Aufmerksamkeit.

Aus westlicher Perspektive bereichert Chlewnjuk das Wissen über Stalin nicht weiter. Das spricht indessen nicht gegen die Qualität seiner Lebensbeschreibung. Auch sie kann verständlicherweise viele offene Fragen zu den Motiven und dem Weg eines der größten Massenmörder des 20. Jahrhunderts beantworten. Mitunter bleibt es denn auch beim Konstatieren von Furcht und Machtfixierung als Motiven für die Taten.

Oleg Chlewnjuk, Stalin. Eine Biographie, München 2015 (Siedler-Verlag), ISBN: 978–3–8275–0057–1, 590 S., 29,99 Euro