Wie menschlich sind die neuen Renteneintrittsforderungen?

Vom Büro in den Sarg

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BERLIN. (hpd) In den letzten Wochen überbieten sich vor allem Politiker der Union mit neuen Forderungen über das Renteneintrittsalter. Besonders die "Junge Union" machte Druck, aber auch die arbeitgeberfreundliche Flügel in der CDU und CSU raten dazu, die Lebensaltersrente schon bald erst mit regulär 70 Jahren antreten zu können. Desweiteren soll künftig eine regelmäßige Anhebung dieser Grenze erfolgen, wird bereits mit konkreten Gesetzesvorhaben gehandelt.

Dabei war es vor nicht allzu langer Zeit den älteren Menschen in Deutschland vergönnt, nach einem intensiven Arbeitsleben noch wenigstens zehn bis fünfzehn Jahre an Ruhestand zu genießen. Das sei auch weiterhin möglich, argumentieren die Politiker, und führen dazu die steigende Lebenserwartung vor.

Doch sie vergessen in ihrer Schilderung einen wesentlichen Faktor: Zwar werden wir durchschnittlich in unserem Land immer älter, wir erkranken aber auch sehr viel häufiger an den typischen geriatrischen Störungsbildern. Mehr Lebensdauer heißt also letztlich nicht unbedingt mehr Lebensqualität. Und der Zeitraum, statistisch gesehen einen einigermaßen beschwerdefreien Lebensabend verbringen zu können, sinkt damit. Auch wenn man in die Forschung entsprechende Hoffnungen setzt, dass wir künftig nicht nur länger leben werden, sondern auch gesünder bleiben – also beispielsweise in der Behandlung von Demenzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder fortschreitenden neurodegenerativen Erkrankungen Durchbrüche erzielen –, bedeutet eine höhere Lebenserwartung keinesfalls automatisch, damit auch einen höhere Lebensarbeitszeit verbinden zu können.

Und dennoch hat der Mensch auf einen angemessenen Ruhestand Anspruch. Für Geleistetes ist es nicht nur fair, ihm eine entsprechende Entschädigung zuzugestehen, sondern auch eine moralische Notwendigkeit. Abgesehen davon, dass viele Rentner heute kaum noch einen erholsamen Lebensabend verbringen können oder wollen, weil sie entweder in Minijobs ein paar hundert Euro zusammenzukratzen versuchen, um die viel zu geringe Rente aufzubessern – oder weil sie sich auch nach dem Berufsleben noch für die Gesellschaft einbringen möchten. Es ist viel eher eine ethische Pflicht der Gesamtgesellschaft, Menschen für ihre Verdienste in Arbeit danach Zeit zu geben, Abstand nehmen zu können. Auch wenn uns manch neoliberale Position etwas Anderes vermitteln mag, besteht das Leben eben nicht nur aus Leistung. Wer sich nicht regenerieren kann, der wird unzufrieden. Und es ist einer westlichen Bevölkerung unwürdig, wenn sie es zulässt, ihre Älteren in Verbitterung vom Laufband direkt an die Bahre zu übergeben. Jeder Mensch hat das Anrecht darauf, sich nach abgeschlossenem Beruf zurückzulehnen und zurückzublicken, sich auf eine Zeit im Kreise von Familie und ohne Verpflichtungen nochmals dem eigentlichen Leben zu widmen.

Was in der Debatte derjenigen, die sich momentan mit äußerst ideologischen und besonders einseitigen Stellungnahmen zu diesem Thema zu Wort melden, vollkommen ausgeblendet wird, sind zwei Gedankengänge: In nicht allzu weiter Ferne wird sich unsere Arbeitswelt drastisch verändern. Wenn wir schon heute von einer "Industrie 4.0" sprechen, können wir davon ausgehen, dass künftig Maschinen, Computer oder auch Roboter Leistungen übernehmen werden, die bislang in mühsamer körperlicher oder geistiger Arbeit von Menschen betrieben wurde. Es wird also nicht beantwortet, wie wir unsere Bevölkerung fortan eigentlich weiterhin flächendeckend in Beschäftigung bringen wollen – und damit auch die Renten sichern werden. Zwar mag man sich vorstellen, dass die Menschen weniger für Arbeit gebraucht werden und trotzdem Gewinne entstehen, mit denen wir Vieles finanzieren können. Woher dann Sinn und Zweck für den Lebensalltag kommen, ist eine andere Frage.

Aber ist damit der ewige Diskurs um die Sicherheit unserer Sozialsysteme möglicherweise auf mittelfristige Perspektive hin vielleicht sogar überflüssig? Und was können wir bis dahin tun, damit Menschen nicht übergangslos vom Büro in den Sarg fallen, weil das Renteneintrittsalter irgendwann mit der Lebenserwartung identisch ist? Kaum jemand aus der Union – aber auch aus der SPD – traut sich, die "Systemfrage" zu stellen. Stets wird auf die Arbeitnehmer gezeigt, die länger arbeiten müssten. Was tragen aber beispielsweise die Arbeitnehmer dazu bei, dass ihre Beschäftigten bis ins hohe Alter fit bleiben? Und kann es allein ausreichen, das Rentensystem wie bislang zu finanzieren, ohne anwachsende Vermögen mit einzubeziehen? Zwar sorgt sich die Bundesregierung gerade darüber, dass ihre Sozialausgaben auf ein neues Hoch angestiegen und schon über 52 Prozent des Haushaltes ausmachen werden. Dass dies gerade in Zeiten guter Konjunktur und wachsender Wirtschaftsleistung passiert, bestätigt die Vermutung eines zunehmenden Auseinanderklaffens der Besitzverhältnisse. Leider benennt dieses Problem aus den Reihen der Koalitionäre aber kaum jemand.

Und so fokussiert sich trotz diesem klaren Trend gerade der Wirtschaftsflügel der Union weiter auf eindimensionale Belastungen zugunsten des Arbeitgeberklientels. Beginnend bei den Zusatzbeiträgen für die Krankenversicherung, die nicht mehr paritätisch aufgeteilt werden, über einen Großteil der Präventionskosten im Gesundheitswesen – obwohl immer öfter die Betriebe Anteil an körperlichen und seelischen Problemen ihrer Mitarbeiter haben und sie im Krankheitsfalle im Stich zu lassen scheinen – bis hin zu eben den Sozial-, Renten- und Pflegeleistungen, an die die Unternehmen durch eine recht konstante Beteiligung und die übliche Steuerverteilung einen vergleichsweise geringen Beitrag zusteuern. Zweifelsohne: Ein längeres Leben bedeutet auch, dass es teurer werden kann. Um einen gewissen Standard halten zu können, bedienen wir uns zunehmend mehr Wissenschaft, Forschung und Technik – das bleibt auch bei den Kosten nicht ohne Folgen. Doch können wir es uns tatsächlich nicht leisten, Menschen nach 45 Arbeitsjahren guten Gewissens in den Ruhestand zu schicken – auch auf die Möglichkeit hin, dass manche von ihnen künftig auch 20 oder mehr Rentenjahr verleben?

Es braucht in der momentan wieder aufkeimenden Auseinandersetzung den klaren Mut dazu, weitsichtiger zu denken und über die kommende Bundestagswahl hinauszudenken. Vor den Reformen sträubt sich jede Partei mit Blick auf ihre Interessen und ihrer Wähler – und vor allem Gönner. Doch Sozialsysteme sind nichts für vier Jahre. Aus Sorge um die eigene Karriere lassen die Minister die Finger von "dem großen Wurf", auch wenn sie diesen aus eigener Interpretation ja immer wieder einmal hervorbringen. Sinnvoll wäre es daher, sich gerade auch in der Frage der Rente nicht auf Lösungsvorschläge von im Staatsdienst stehenden Abhängigen zu verlassen, sondern einen "Brainstorm" zuzulassen, der zunächst keine Grenzen setzt. Möglicherweise wäre gerade dieses Thema  aber auch etwas für die Bürgerdemokratie. Denn bei den momentanen Zwischenrufen habe ich wenig Hoffnung darauf, dass wir in seinem so drängenden Komplex alsbald auf einen "grünen Zweig" kämen.