Kinder: kleine Tyrannen oder Lebensglück?

(hpd) Der Kinderpsychologe Wolfgang Bergmann verteidigt in seinem Buch „Warum unsere Kinder ein Glück sind“ die Kinder vehement gegen kinderfeindliche Trends und hält diesen Gefühle wie Liebe, Achtung und Vertrauen entgegen.

Die Auffassung von Wolfgang Bergmann entspricht nicht dem ‚Trend’. Bücher wie, „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“, „Tyrannen müssen nicht sein“, beide von Michael Winterhoff, oder „Lob der Disziplin“ von Bernhard Bueb und nicht zuletzt auch der Klassiker „Jedes Kind kann schlafen lernen“ (A. Kast-Zahn und H. Morgenroth) werden zu Bestsellern. Disziplin, Regeln, Grenzen, manipulative Strategien und Taktiken im Umgang mit unseren Kindern scheinen für den Umgang von Eltern mit ihren Kindern unabdingbar geworden zu sein.

Nicht nur in Büchern auch im Fernsehen wird man informiert, wie man mit seinen Kindern umgehen muss, damit sie einem nicht über den Kopf wachsen. So wird einem Millionenpublikum wöchentlich von der „Super Nanny“ hautnah, an realen „Objekten“ vorgeführt, wie Erziehung „funktioniert“. Man könnte es so sehen: Endlich wird eingegriffen und erhalten die Leid geplagten Eltern von Seiten der Medien die notwendige Unterstützung im täglichen Kampf mit ihren Kindern. Man kann diese Schwemme an Weisheiten und Tipps aber auch als ein besorgniserregendes Symptom für eine tiefe Entfremdung zwischen Menschen deuten, die eigentlich das innigste Band verbinden sollte, was es in der Natur gibt, nämlich die Liebe und das Vertrauen zwischen Eltern und Kind.

Die unhinterfragte Selbstverständlichkeit

Wolfgang Bergmann kritisiert in seinem Buch: „In der pädagogischen Kultur, in den öffentlichen Debatten ist zurzeit alles möglich, immer unter einer Voraussetzung: Immer muss davon die Rede sein, dass die modernen Kinder frech, unhöflich, unkonzentriert und überhaupt eine verdorbene Generation sind.“

Sollte man das für überzogen halten, muss man sich fragen, woher dann diese Selbstverständlichkeit kommt, mit der es sich Erwachsenen herausnehmen, Strategien und Strafen für Kinder einzusetzen, bei denen nicht nach den Bedürfnissen und Gefühlen des Kindes gefragt wird. Bergmann wundert sich mit Recht, warum kinderfreundliche Organisationen sich hier nicht einmischen.

Wenn man sich vorstellt, ernsthafte Ratgeberbücher würden entsprechende Strategien für den Umgang zwischen erwachsenen Frauen und Männern proklamieren, wird einem vielleicht bewusst, mit welcher Selbstverständlichkeit zum Teil über Kinder pauschal geurteilt und gerichtet wird. (Dabei könnten Bücher mit Titeln wie etwa: „Der richtige Umgang mit der Partnerin, Hysterie und Redesucht sind kein Schicksal“ oder „Männer brauchen klare Grenzen, der Mann zwischen Selbstüberschätzung und der Suche nach der Mutter“ usw. vielleicht sogar ganz hilfreich sein.) Ein Ehemann, der seiner Frau Hausarrest gibt, weil sie vergessen hat, fürs Essen einzukaufen - unfassbar. Die Mutter, die das Kind zu Hause einsperrt, weil es sein Zimmer nicht aufgeräumt hat - akzeptiert.

Der pädagogische Rat und das Bild vom Kind

Natürlich dürfen Eltern nicht allein gelassen werden, wenn Sie Probleme mit ihren Kindern haben und natürlich sind Hinweise und ist die Thematisierung solcher Probleme notwendig. Nur geht es hier um Menschen und damit um sehr viel Verantwortung für jeden der Betroffenen. Kindern kommt die gleiche Menschenwürde zu, wie jedem anderen Menschen auch und sie verdienen daher die gleiche Achtung, die gleiche Rücksicht und den gleichen Respekt, wie ein erwachsener Mensch. Und genauso wenig, wie ein Erwachsener demütigenden Strafmaßnahmen und körperlicher oder seelischer Gewalt ausgesetzt werden darf, um ihn gesellschaftsfähig zu machen, genauso wenig darf ein Kind dem ausgesetzt werden. Wer Ratschläge gibt, trägt Verantwortung für die davon Betroffenen und wenn es um Kinder geht, eine umso größere.

Ein Rat kann aber letztlich nur so gut und gerecht sein, wie die ihm zu Grunde liegende Vorstellung richtig ist. Deshalb entscheidet die Richtigkeit der Vorstellung vom Kind über die Qualität eines pädagogischen Ratschlages. Genau hier liegt ein wesentlicher Kritikpunkt Bergmanns. Nach Bergmann vermitteln die Disziplinpädagogen ein falsches Bild vom Kind, und somit auch vom Verhältnis zwischen Erwachsenem und Kind. Da, so Bergmann, der Mensch seiner Natur nach ein von Grund auf soziales Wesen sei, sei es auch prinzipiell nicht erforderlich, dem Kind die Regeln des sozialen Zusammenlebens von außen aufzupfropfen oder einzutrichtern. Wo Winterhoff auf das „Antrainieren“ von Verhaltensweisen setzt, vertraut Bergmann auf das Wollen des Kindes. Das Kind „will“ soziale Regeln lernen, weil es natürlicherweise Teil einer Gemeinschaft sein will. Soziale Regeln und Verhaltensweisen werden verinnerlicht, indem das Kind sich angstfrei mit seiner Umwelt und den anderen Menschen auseinandersetzten kann.

Das Austreiben eines eigenen Wollens und eigener Handlungsimpulse und das Aufzwingen starrer Regeln stifte, so der Kinder- und Familientherapeut, hingegen Feindschaft gegenüber diesem ursprünglichen Gemeinschaftsgefühl und damit letztlich eine Feindschaft des Kindes gegen sich selbst.

Mit dieser Sicht entspricht Bergmann dem, was schon Jaspar Juul in seinem Buch, „Das kompetente Kind“, vertritt. Das Kind will grundsätzlich kooperieren und es tut dies auch. Kooperiert es nicht, hat das einen Grund, der in aller Regel nicht beim Kind, sonder im Verhalten des Erwachsenen zu suchen ist. Oft wehrt sich das Kind damit einfach gegen empfundenes Unrecht.

Das Kind als eigene Persönlichkeit

Deutlich wird die unterschiedliche Sichtweise von Pädagogen und Kinderpsychologen, wie Winterhoff und Bergmann, wenn Winterhoff z.B. in „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ beklagt: „Kinder werden mit ihrem kaum fortgeschrittenen Altern zwischen drei und sechs Jahren als eigene Persönlichkeiten begriffen und sollen darin gefördert werden“, das überfordere sie, so Winterhoff, und mache sie schließlich zwangsweise zu kleinen Monstern und Tyrannen.

Woran sich die Einen erfreuen, das ist für die Anderen eine Bedrohung. Was es für die Einen beim Kind zu fördern und zu unterstützten gilt, muss für die Anderen gerade unterdrückt werden bzw. wird dem Kind schlichtweg abgesprochen: eine eigene Persönlichkeit.

Kinder brauchen Unterstützung, Halt und Orientierung. Sie müssen sich noch entwickeln, um schließlich eigenständig und selbstbestimmt leben zu können. In diesem Sinne sind Kinder tatsächlich noch nicht „fertig“ und brauchen sie Hilfe, das leugnet auch Wolfgang Bergmann nicht. Im Gegenteil, darum geht es ja gerade, um die richtige Unterstützung.

Kindern auf Grund ihrer Bedürftigkeit aber eine eigenständige Persönlichkeit abzusprechen, wie es Winterhoff tut, ist mehr als bedenklich. (Geistig behinderten Menschen die eigene Persönlichkeit abzusprechen, nur weil sie Unterstützung brauchen, würde heute jedenfalls wohl kaum noch jemand wagen.)

Spätestens, wenn man so etwas liest, wird deutlich wie notwendig und wichtig eine vehemente Gegenwehr, wie die von Bergmann, gegen solche Sichtweisen ist.