Die Geschichte des Westens in den letzten 25 Jahren

BONN. (hpd) Der Historiker Heinrich August Winkler legt mit “Geschichte des Westens. Die Zeit der Gegenwart” den vierten und letzten Band seines gleichnamigen Projektes vor. Auch die Darstellung der Ereignisse der letzten 25 Jahre beeindruckt durch die enorme Kompetenz des Autors, man hätte sich aber mehr Ausführungen zum Spannungsverhältnis von westlicher Politik und westlichen Wertvorstellungen gewünscht.

Die Geschichte des Westens von der Antike bis zur Gegenwart darzustellen, ist mehr als nur ein ambitioniertes Projekt, geht es doch um die historische Entwicklung von mehr als zweitausend Jahren in unterschiedlichen Regionen der Welt. Der Historiker Heinrich August Winkler, früher Professor für Neuere Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, ist es mit insgesamt vier voluminösen Bänden angegangen. Mit “Die Zeit der Gegenwart” liegt jetzt der Abschluss des Projektes “Geschichte des Westens” für den Zeitraum von 1991 bis 2014 vor. Bereits von Anfang an gab es dafür ein Leitmotiv, das auch im Vorwort des letzten Bandes ausformuliert ist: die Frage nach dem “normativen Projekt” insbesondere der Menschenrechte, worum in der Geschichte diverse Kämpfe um die “Aneignung oder Verwerfung” ausgefochten wurden. Es sollte aber auch die “Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte” und die “Geschichte der permanenten Selbstkorrektur oder einer produktiven Selbstkritik” (S. 12f.) geschrieben werden.

In eben dem vierten und letzten Band behandelt Winkler die politische Entwicklung der letzten 25 Jahre, wobei er seine Leser auf eine Reise in ihre eigene Vergangenheit nimmt. Die drei großen Kapitel folgen der historischen Chronologie: In “Vom Triumph zur Tragödie: 1991–2001” geht es um die Europäische Union von Maastricht bis Schengen, die Politik der USA in der Clinton-Ära, Ostmitteleuropa auf dem Weg nach dem Westen, die Umbrüche in Russland aber auch um die Anschläge vom 11. September 2001. Der zweite Teil “Vom ’Krieg gegen den Terror’ zur Weltfinanzkrise: 2001–2008” behandelt den Wandel in der US-Außenpolitik unter Bush, die Erweiterung der Europäischen Union und den Beginn der Weltfinanzkrise. Und schließlich geht es unter der Überschrift “Das Ende aller Sicherheit: 2008–2014” um die überforderte Weltmacht USA unter Obama, politische Veränderungen in Ländern wie China, Indien oder Russland, die neue Ost-West-Konfrontation im Kontext der Ukraine-Krise und die Globalisierung des islamistischen Terrorismus.

Auch in diesem Band erweist sich Winkler als ausgezeichneter Kenner der Materie und skizziert die jeweiligen Ereignisse in aller Komplexität auf dann doch engem Raum. Die gute Strukturierung des Inhalts macht aus der Monographie denn auch ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk. Ärgerlich ist indessen das Bündeln von Literaturnachweisen in umfangreichen Fußnoten, wodurch man nur mit große Mühe die gewünschten Informationen erhält. Es bedarf aber auch einiger kritischen Kommentierungen bezogen auf inhaltliche Aspekte: So fällt hier erneut das Ausblenden des nordeuropäischen bzw. skandinavischen Raums auf, wo eben bestimmte Krisenphänomene in weitaus geringerem Maße als in anderen Regionen des Westens auszumachen waren. Und noch bedeutsamer ist die geringe Beachtung ökonomischer und sozialer Aspekte. Zwar behandelt Winkler sehr wohl Ereignisse wie die Finanzkrise oder Probleme der Währungsunion. Insgesamt findet dieses Feld aber als Einflussfaktor für Politik zu wenig Beachtung.

Und schließlich ist auch bedauerlich, dass Winkler die normative Komponente seines Projekts dann doch nur am Rande berührt. In den Kapiteln dominiert die historische Beschreibung, nur in wenigen Fällen findet man eine kritische Kommentierung. Beispielhaft dafür steht ein Satz wie: “Für das internationale Prestige der Vereinigten Staaten” (unter Bush) “fast noch schlimmer aber war die Bedenkenlosigkeit, mit der die Regierung des mächtigsten Landes der Welt im Inneren wie nach außen die Werte in Frage stellte, in deren Zeichen die USA einst ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten” (S. 230). Im Schlusswort geht Winkler noch auf solche Ambivalenzen und Widersprüche ein. Er fragt dabei aber leider nicht nach den Gründen für diese Entwicklung. Gleichwohl verdienen die dortigen Ausführungen besondere Aufmerksamkeit. So heißt es etwa, dass der Westen anderen nicht seine Werte aufzwingen solle. “Das Beste, was er für sie tun und womit er für sie werben kann ist, sich selbst an sie zu halten und seine Abweichungen von den eigenen Werten rückhaltlos zu kritisieren” (S. 610).

 


Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Bd. 4: Die Zeit der Gegenwart, München 2015 (C. H. Beck-Verlag), 687 S., 39,95 Euro