Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar

"Religiöse Atheisten" wurden erfunden

ZWICKAU. (hpd) Mitte April 2015 versuchte sich die Evangelische Akademie Hofgeismar an der Ausdenkung einer neuen sozialen Figur, genannt "Religiöse Atheisten". Sie fragte, ob dies ein neuer Trend sei. Die Wirklichkeit und die realen Befunde dazu bewiesen das Gegenteil. Deshalb sind einige der dort gehaltenen Beiträge, nun gedruckt vorliegend, von Interesse für die "säkulare Szene". Die soeben erschienene Dokumentation wird von Horst Groschopp betrachtet.

Der Band spiegelt die allgemeine theoretische Verunsicherung beim Thema "Atheismus", nicht nur auf theologischer Seite. Der Ausrichter der Tagung, Thomas K. Kuhn (Greifswald), gibt eingangs eine gedankenreiche Darstellung des Phänomens "Atheismus" aus kirchenhistorischer Sicht. Sie endet leider am Anfang des 19. Jahrhunderts, wo "Atheismus", lange noch ganz bescheiden, eine später Massen erfassende Kultur zu werden beginnt.

Zudem erscheint in dem Text die "Gottlosigkeit" als weitgehend deutsches Phänomen, denn Engländer wie Franzosen bleiben außen vor. Auch wäre mit dem Erwähnen der Freireligiösen ein Weg gewesen, wirkliche religiöse Atheisten zu finden als einer historischen Zwischenstufe zur atheistischen Freidenkerei. Kuhn kommt zudem ohne Verweis auf Fritz Mauthners "Geschichte des Atheismus im Abendlande" aus. Über ihn und Ludwig Feuerbach wäre jedenfalls ein Ansatz gewesen, Atheismus mit Religionsbezug zu beschreiben.

Kuhn zitiert am Beginn seines Textes die Philologin Hildegard Cancik-Lindemaier. Diese merkt mit Blick auf Antike und Mittelalter an, dass der Atheismus-Begriff unfähig ist, die Originalität der Neuzeit zu beweisen. Kuhn übernimmt diese Aussage nahezu wörtlich in seine Schlussthesen (Nr. 6, S. 11). Aber was folgt aus dieser Annahme für den alten und den "neuen Atheismus"?

Das Thema der Tagung zerlegen die Religionssoziologen Yvonne Jaeckel und Gert Pickel. Sie geben zunächst ein differenziertes Bild der hiesigen, heutigen Konfessionslosigkeit und unterscheiden dabei drei soziale Typen: religiös/spirituell, areligiös/indifferent; atheistisch (versehen mit dem Zusatz: "mit Wahrheitsanspruch"; S. 25). Der Kernbefund lautet: Konfessionslos ist nicht identisch mit atheistisch, und auch in der atheistischen Gruppe gibt es wesentliche Unterschiede. Diese werden an Daten belegt, aber vor allem als Forschungsauftrag formuliert.

Begriffe wie "religiöse Atheisten" würden, so Jaeckel/Pickel die Analyse eher vernebeln als entschlüsseln helfen: erstens, weil sie "nicht nachweisbar sind"; zweitens weil der Kulturzusammenhang zu beachten ist, der bei Werthaltungen entscheidet, nicht zuerst die Religionszugehörigkeit oder Konfessionslosigkeit.

In die Niederungen der Verbände-Empirie begibt sich Pfarrer Andreas Fincke. Er steuert zwei Texte bei. Der erste Artikel ist der Versuch einer Gesamtsicht auf die "säkulare Szene". Er schaut auf die humanistischen und atheistischen Organisationen in Deutschland, besonders den HVD (Humanistischen Verband Deutschland) und die GBS (Giordano Bruno Stiftung). Die Überschrift ist sein Fazit: "Klein, zerstritten, einflussreich". Er erkennt in der "Szene" "strategische Allianzen". Angesichts neuerer, nur schwer deutbarer Vorgänge, kann man versucht sein zu fragen, was davon eventuell bereits Geschichtsschreibung ist. Aber vielleicht muntert dieser Satz die Akteure etwas auf: "Die bescheidenen Mitgliederzahlen säkularer Verbände in Deutschland sind nicht unbedingt eine gute Nachricht für die Kirchen; bei genauer Betrachtung sind sie auch ein Spiegelbild wachsender Bedeutungslosigkeit von Kirche und Religion." (S. 22)

In seinem zweiten Beitrag stellt Fincke die "anhaltende Beliebtheit säkularer Riten" (besonders der Jugendweihe) fest. Nun sind diese von anderer Art und Historie als die wohl arg überschätzten Gottlosen-Sonntags-Gemeinschaftsfeiern (Sunday Assembly). Auch diese Formen hat es unter diversen Bezeichnungen seit den 1840er Jahren immer wieder gegeben. Ich erinnere nur an die Sonntags-Feiern der Berliner Humanistengemeinden um 1895. Immer wieder sind sie von den Akteuren und Gegnern in ihrer Bedeutung und Wirkung idealisiert worden.

Den Part des Überhöhens übernimmt in dem vorliegenden Band Arik Platzek (HVD, Berlin). Er stellt seine "Eindrücke von der Sunday Assembly" vor als Performation einer "gottlosen Gemeinschaft". Der Autor kritisiert Carsten Frerk, damals Chefredakteur des hpd, der die Londoner Sonntags-Veranstaltungen problematisiert hatte, man könne Atheismus nicht wie eine Religion zelebrieren (S. 51).

Seine eigene Interpretation der "Sunday Assembly" gerät Platzek euphoristisch. Dabei bezieht er sich ausdrücklich und positiv auf die Idee einer "atheistischen Kirche" von Paul Schulz. Platzek: "Ich bin der Ansicht, dass es für eine 'Kirche' [einer Versammlung bzw. Gemeinschaft von Bürgern, die eine atheistische oder agnostische Lebensauffassung teilen, HG] … sehr wohl einen Platz und einen Zweck gibt." (S. 52) Er verwechselt Feste, Feiern, Rituale mit Riten. Jede Gleichsetzung mit "Kirche" impliziert gedanklich Liturgien.

Vielleicht ist diese Verwechslung dem unmittelbaren Eindruck des "sehr geehrten Herrn Dr. Schulz" geschuldet. Paul Schulz sprach auf dieser Tagung und ist in dieser Dokumentation – wenn man so will – die Personifikation der Konferenzthematik, ein "religiöser Atheist". Paul Schulz war eine zeitlang in der Szene als "Präsident" eines "Zentralrates der Konfessionsfreien" gedacht, bis seine problematischen Bücher studiert waren. In diesem Band fasst er noch einmal seine Thesen von einer "atheistischen Kirche" zusammen.

Ein Blick über den deutschen Tellerrand hinaus hätte der Tagung vielleicht geholfen, "religiösen Atheismus" zu finden, denn einige Religionen (etwa Teile des Buddhismus oder wenn die chinesische Kultur des Konfuzianismus als Religion definiert wird) kommen ohne "Gott" oder "Götter" aus. Andere machen "Energie" zu ihrer Religion, die eher ein Prinzip als ein Theismus ist. Der Nationalsozialismus hatte eine "Blutreligion" usw. So war es wohl eher eine (vergebliche) Hoffung der Veranstalter, "religiöse Atheisten" hierzulande zu finden. Aber nicht einmal Spiritualität bedarf der Religion, auch nicht die "Seelsorge" – wie auch Humanismus nicht Atheismus zur Voraussetzung hat.

"Religiöse Atheisten" – Ein neuer Trend? Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Hofgeismar, 17.–19.4.2015. In: Evangelischer Pressedienst, Dokumentation Nr. 46, Frankfurt am Main, 10. November 2015, 75 S.