Andreas Wagner: "The Arrival of the Fittest"

Das Leben tickt immer schon digital

BERLIN. (hpd) Nur die fitteste Art erhält sich, so lautet die Faustformel. Doch wie entsteht überhaupt das Fitteste oder wenigstens das Neue, fragt Andreas Wagner in seinem Buch "The Arrival of the Fittest", und gleich tun sich noch mehr Fragen auf. Wann kann man von Neuem sprechen? Ist das eine Angelegenheit des genetischen Unterschieds? Oder des physiologischen? Die Untersuchung, wie es entsteht, benötigt heute einen Schuss Biomathematik.

Inzwischen können sich die Biologen viele Experimente sparen, wenn sie ihre Fragestellungen in eine digitale Sprache zu übersetzen wissen. Dann rechnet der Computer aus, welche Kombinationen des Lebendigen möglich sind. Und das ist auch nötig. Denn es sind unendlich viele.

Der Mikrobiologe Andreas Wagner arbeitet am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich. Sein Team beackert ein relativ junges Feld der Lebenswissenschaft: die Entwicklungsbiologie, die sich der Beziehung zwischen Individualentwicklung und Evolution widmet. Denn wie sagte schon der Nobelpreisträger Thomas Hunt Morgan 1932: Es spielt eine große Rolle, "ob man sich für einen Menschenaffen oder den Fötus eines Menschenaffen als Vorläufer des Menschengeschlechts entscheidet."

Wie kann durch einen Unfall, einen Zufall, bei der die fundamentale Kombinatorik der Bausteine des Lebens, der Aminosäuren und der Proteine, verändert wird, etwas Neues auftreten und dabei etwas so Komplexes und Wunderbares entstehen wie die Flügel und die Augen eines Wanderfalken? Das ist, worum es hier geht. Der Schlüssel ist die Selbstorganisation des Lebens. Verhandelt wird, um in einer alten Sprache zu reden, wie das Leben sich selber schöpft.

Die Entwicklung des Lebens folgt Pfaden, anfangs bei der Entstehung von Proteinen, die noch nicht einmal Leben bedeuten müssen, entlang der chemischen Struktur, der entsprechend organische Stoffe immer auf dieselbe Weise entstehen, weil ihre Grundelemente, Stickstoff und Kohlenstoffaglomerate, aufgrund ihrer Gestalt immer auf ähnliche Weise aneinanderdocken. Leben bedeutet aber mehr: Wachsen und Reproduktion. Auch die folgt zunächst einfachsten chemischen Strukturprinzipien. Im "Sternenstaub" der Kometen zu uns gelangt oder in der Nähe mariner Schwefelvulkane entstanden. Darüber darf mit triftigen Argumenten gestritten werden. Durch Selbstorganisation entstehen, ist also auch die Vermehrung gegeben, immer kompliziertere Organismen. Je komplizierter sie sind, umso größer ist ihre Überlebensfähigkeit, das ist Wagners These.

Denn zu Änderungen im Aufbau von Genom und Phänotyp, Erscheinung und Funktion der Zellen kommt es immer wieder. Die meisten sind sinnlos. Und die meisten werden nie benutzt. Sie bleiben dennoch im Genpool der Zellen eingelagert. Das Leben braucht auch diese Unordnung.

Ändern sich die Umweltbedingungen eines Lebewesens, geschieht zweierlei. Erstens weiß das Leben den Stoffwechselhaushalt auf verschiedene Weise aufrecht zu erhalten. Statt Zucker kann vom Bakterium Escherichia coli zum Beispiel auch Ethanol als "Brennstoff" benutzt werden, mit dem die "Motoren" des Lebens, die Enzyme, mit Energie versorgt werden. Es liegt also immer Plan B, ja vielfach sogar Plan C oder sogar D bereit. Und Umweltveränderungen führen zu genetischen Veränderungen in einem umso beschleunigteren Tempo, je komplexer das Leben ist. Dann bewirkt der Umbau eines Bausteins, dass die Schlange gleich hunderte von Rippen entwickeln kann oder ein Augenfleck plötzlich auf dem Flügel eines Schmetterlings auftaucht. Auch hier folgt die Variation einem Muster, entlang des Netzwerkes von Stoffwechselfunktionen.

Anpassungen vollziehen sich im Laufe des Lebens eines Organismus entsprechend den Erfordernissen entlang von Pfaden, das heißt, entlang der Verbindungen dieser Stoffwechselnetzwerke. So können mit minimalen Änderungen maximale Wirkungen erzielt werden. Es werden jeweils ganze Schaltkreise in Gang gesetzt oder außer Betrieb gesetzt. Dasselbe geschieht auch auf der Ebene der Genome. Variationen sind nicht so zufällig, sondern sie folgen einer gewissen Ordnung, wie anhand der Signaturen einer Bibliothek. Transmitter, die RNA, regeln dann, welche Gene wann und wo abgerufen werden. Auch da gibt es viele Wege, zum gleichen Ziel zu kommen. Das erklärt, warum Entdeckungen in der Natur sogar von unterschiedlich komplex strukturierten Tierarten gleich mehrfach gemacht werden. Crystalline in lichtempfindlichen Augenflecken kommen so schon bei Seesternen und Nautiliden, den "Perlbooten", vor.

Der Rest ist Mathematik. Und folgt man Wagners Darlegung, dann eröffnet sich eine Welt voller logischer Klarheit. Die Natur würfelt nicht. Sie hält sich auch in der Biologie an die Booleschen Wahrheitstafeln einer Mathematik, die aus zwei Zahlen besteht und Ereignisse zulässt beziehungsweise ausschließt konform der mathematischen Logik.

Demnach werden von der immensen Zahl möglicher Kombinationen die Bausteine des Lebens sich miteinander liieren wie im Relais-System eines Computer-Chips. Sie werden entsprechend "und", "oder", obendrein "nicht" miteinander zu Funktionen kombiniert. Kann das Leben Informatik, das ist hier die Frage. Oder ist die Informatik hier nur das Modell. Auch diese Deutung wäre möglich.

Im Grunde seines Herzens ist Andreas Wagner Platonist. Das bekennt er im letzten Kapitel seines Buches. Seine Auffassung ist: Wir alle ticken digital, der Regenwurm und ich. Auch wenn es nicht einfach ist, sich darüber klar zu werden. Diese Digitalität, aus der sich die Kreativität des Lebens speist, ist freilich uralt, "älter als das Leben ist, ja vielleicht sogar älter als die Zeit". - Oder zeitlos wie die Logik? Auf jeden Fall erklärt Andreas Wagner, warum die Uhr des Lebens immer schneller läuft.

Andreas Wagner: "Arrival of the Fittest. Wie das Neue in die Welt kommt. Über das größte Rätsel der Evolution", S. Fischer Verlag Frankfurt am Main 2015, 413 S. 24,99 Euro