Eine Podiumsdiskussion im Evangelischen Stift Tübingen

"Bildung und Religion – Freiheit inklusive."

Am 16.12.2016 war es so weit: Der Luther-Truck erreichte Tübingen. Luther-Truck, das ist eine Wanderausstellung der Evangelischen Kirche, der so genannte europäische Stationenweg anlässlich des Reformationsjubiläums 2017.

Tübingen, die beschauliche Stadt am Neckar, ist in Baden-Württemberg die Stadt mit der höchsten Sektendichte.  Eine Sekte nämlich lässt sich verstehen als eine Gruppe, die in einer eigen(willig)en Vorstellungswelt lebt und ein eigenes Wirklichkeitsverständnis aufweist. Kurzum: Eine Sekte lebt in einer Blase. Wer den Abend zum Thema "Bildung und Religion" anlässlich des Stopps des Luther-Trucks beiwohnte, konnte sich des Eindruck nicht erwehren, dass der Protestantismus endgültig angekommen ist – in seiner Blase.

Das Podium: Besetzt mit Dr. h.c. Frank Otfried July, Bischof der Württembergischen Landeskirche, Winfried Kretschmann, Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, Prof. Dr. Friedrich Schweitzer, Evang.-theol. Fakultät der Universität Tübingen und der Leiterin des Geschwister-Scholl-Schule Tübingen, Cornelia Theune. Die Moderation übernahm Holger Gohla (SWR).

Das Thema: Überschaubar, nämlich "Religion und Bildung". Und irgendwie auch Freiheit. Und Reformation. Es wurde an diesem Abend nicht klar, worum es genau gehen sollte. Das mag auch daran gelegen haben, das Kretschmann den christlichen Glauben erklären und mit Versatzstücken von Kant, Wittgenstein und Luther brillieren wollte, dabei allerdings nicht klar werden konnte, wozu.

Erschwerend kam hinzu: Wenn sich gläubige Vertreter des Staates und der Landeskirche, gemeinsam mit Religionspädagogen über das Verhältnis von Religion und Bildung auslassen, darf man nicht erwarten, dass dieses kritisch beleuchtet wird.

Oder dass gar die religiöse Bildung an öffentlichen Schulen unter Federführung der Kirche als anachronistisches Überbleibsel reformatorischer Bildungsansprüche erkennbar wird: Schließlich sei "für die Reformatoren", das gab der Religionspädagoge Schweitzer in seinem Eingangsstatement zu bedenken, "Bildung ein bestimmender Aspekt des Glaubens" gewesen. Und Bischof July pflichtete bei, dass der Staat "vernünftig gehandelt" habe, als er die Kirche am Bildungsprozess beteiligt habe. Religion und der Religionsunterricht, so die Podiumsteilnehmer, seien wichtig "für die kritische Urteilsbildung" der Heranwachsenden.

Doch wie steht es um die Erwartungen vieler Eltern, die ihren Kindern Wissen um Religionen, um ethische Urteilsbildung, um kulturelle Vielfalt nicht vorenthalten möchten, aber sie bei ausgebildeten Religionswissenschaftlern oder Philosophen besser aufgehoben wissen, als bei kirchlich berufenen und beaufsichtigten Religionslehrern. Diese Frage klang an. Es kam jedoch zu keiner Diskussion.

Immerhin verwies der Ministerpräsident auf die "gesellschaftliche Realität", die einen Trend zum Laizismus zeige. Und die Kirchen dürften die Augen davor nicht verschließen. Doch dass "Glaubende ihren Glauben lehren", dazu, so Kretschmann weiter, gebe es keine Alternative. Dem Staat hingegen falle die "enorme Aufgabe" zu, "Pluralität zu organisieren".

Religiöse Bildung und multireligiöse Gesellschaft.

Gefragt, welchen Beitrag religiöse Bildung "für uns heute" habe, betonte Schweitzer die Wichtigkeit der theologischen Fakultäten: Katholische, evangelische und islamische Theologie trügen erheblich zu einem "Gelingen unserer multireligiösen Gesellschaft" bei. Ein Bildungswesen, das auf Religion verzichte, so attestierte Schweitzer mit Blick auf die postulierte multireligiöse Gesellschaft, habe "keine Chance".

"Keine Religion ohne Bildung. Keine Bildung ohne Religion."

Wiederum sei eine Religion ohne Bildung kaum in der Lage, sich als "aufgeklärte Religion" zu etablieren.

Wer an dieser Stelle die Frage erwartete, warum es dazu ausgerechnet einen kirchlich beaufsichtigten und konfessionell gebundenen Religionsunterricht nötig habe, blieb fragend zurück. Das Podium verblieb bei seinen Themen und unter sich.

Immerhin sprach der Moderator des SWR, Herr Gohla, die Praktikerin in der Runde, Direktorin Theune, auf den Religionsunterricht an: Mehr und mehr Eltern forderten Ethik-Unterricht. Was läuft falsch, dass ein Fach, in dem über Wahrheit geredet werde, nicht sonderlich beliebt sei? Frau Theune wollte Wahrheit immer persönlich verstanden wissen, da war man sich auf dem Podium einig.

Religionsunterricht: "Ort der Wahrheitsfrage"?

Die Frage "Was ist für mich in meiner Religion Wahrheit?" sei wichtig, sollte jedoch mit "mehr Offenheit" angegangen werden. Es könne "nicht angehen", so Theune, dass Kinder in verschiedene konfessionell begründete Gruppen" eingeteilt werden, obgleich sie den restlichen Schulalltag oder ihre Freizeit miteinander verbrachten.

Man müsse, so forderte die Pädagogin, Religionsunterricht "anders und weiter denken und gestalten." Wie ein derart geöffneter Unterricht aussehen solle, blieb unklar.

Theunes Appell erstaunte und die Vorstellung eines geöffneten, von konfessionellen Mauern befreiten Unterrichtsfaches "Vergleichende Religionskunde" lag in der Luft. Der Religionspädagoge Schweitzer schien dies zu wittern und entgegnete sogleich, dass niemandem an einem allgemeinem Unterricht über Religionen, womöglich unter Federführung der Philosophie gelegen sein könne.

Der (bekenntnisgebundene!) Religionsunterricht sei "wichtiger denn je". Ministerpräsident Kretschmann pflichtete dem bei und betonte, Religionsunterricht sei die Chance, dass "Glaubende ihren Glauben erklären."

Der Landesbischof hingegen zeigte sich besorgt angesichts von Forderungen, "Glauben und kirchliche Institutionen" zurückzudrängen ins Private. Da sei er froh, dass in Deutschland Staat und Kirche kooperierten. Seiner Ansicht nach habe sich auch in der Zusammenarbeit mit der Landesregierung in Baden-Württemberg "das deutsche Modell der kooperativen Trennung" von Staat und Kirche als "das beste" erweisen.

"Religionsunterricht schleifen."

Warum aber, so konnte sich der kritische Hörer fragen, kann ein Austausch über verschiedene Lebensentwürfe, diverse "Weltsichten" oder über die genannten "persönlichen Wahrheiten" nicht in einem allgemeinen, wissenschaftlich-fundierten Religionskunde-Unterricht erfolgen?

Eine Antwort blieben die Experten schuldig. Die Abschaffung des konfessionellen Unterrichts, so wiederholte Schweitzer, "könne niemand wollen".

Verständlich: Schließlich findet dieser unter der Luft- und Deutungshoheit der Kirchen statt. Der Ministerpräsident beruhigte denn sogleich: Man benötige "ohnehin 2/3 des Bundestages, um das Grundgesetz zu ändern" und den "Religionsunterricht zu schleifen." Dazu, dass "Glaubende ihren Glauben lehren" gebe es keine Alternative. Der Katholik Kretschmann begründetet dies mit dem Umstand, dass Religion gerade nicht im Verschwinden begriffen sei, sondern sich "mit dem Islam" wieder zu Wort gemeldet habe.

An dieser Stelle wollte der Moderator wissen, warum es den Kirchen angesichts dieses Trends nicht gelänge, ihre Positionen zu vermitteln.

Landesbischof July gab zu bedenken, dass "bis zu 80% der Menschen in Baden-Württemberg" einer christliche Kirche angehören würden. Zudem müsse die Kirche Religion, diese "Mischung aus Tradition, Spiritualität und kritischer Reflexion" besser vermitteln. Die Kirche könne hier noch besser werden.

Für Frau Theune sind die Fragen heute andere: Schülerinnen und Schüler sähen sich heute nicht einem "zürnenden Gott" ausgesetzt, wie einst Luther. Vielmehr seien sie mehr und mehr gezwungen, sich in Szene zu setzen, schlechte Noten zu rechtfertigen, etwas zu leisten und bei Trends mitzuhalten. Man müsse Schülern vermitteln, dass sie unabhängig davon wertvoll seien.

Die Frage aus dem Off sei erlaubt: Benötigen Schülerinnen und Schüler dafür diese Kirche? Schließlich hat der Mensch seine Würde unabhängig von der Existenz eines unsichtbaren Wesen oder des Glaubens daran. Seine Würde liegt in ihm selbst begründet. Bisweilen ist man sich, wenn man kirchlichen Theologen zuhört, nicht sicher, ob die Menschenwürde nicht irgendwie doch an Gott hängt und vom Glauben abhängig ist (das wäre übrigens gut islamisch gedacht).

Muslime können von Kirche viel lernen.

Zum Abschluss warb Bischof Otfried July für den Glauben. Er sei wichtig in einer "orientierungslosen Gesellschaft". Laut Winfried Kretschmann müssen Religionen "anschlussfähig sein an eine moderne Gesellschaft." Gerade am Beispiel des Islam könne man dies erkennen: Der Islam müsse lernen, wie einst das Christentum, mit seiner heiligen Schrift "hermeneutisch kreativ" umgehen, um "Anschluss zu finden". Natürlich könnten Muslime auch andere Wege beschreiten, beispielsweise "eigene Schulen errichten, in denen sie den koedukativen Unterricht abschaffen". Das würde er, Kretschmann, zwar nicht begrüßen, aber verwehren könne man das einer Religionsgemeinschaft nicht.

Podium ohne Diskussion: Worum ging es?

Für einen Menschen, der an Fragen zu dem Verhältnis von Bildung und Reformation interessiert war, brachte der Abend kaum Einsichten. Denn was die Reformatoren, etwa Luther (gest. 1546) und Calvin (gest. 1564), unter Bildung verstanden – nämlich in erster Linie Unterrichtung (man mag dies Indoktrination nennen) und Kontrolle des Kirchenvolkes ("Katechismuswissen") – das kam nicht zur Sprache. Die reformatorische Bewegung, so "breit aufgestellt" sie letztlich war, musste ihren Einfluss mit Hilfe der Bildung erst einmal konsolidieren. Damit war Bildung auch ein Machtinstrument und die Kirche wies den Weg hin zur Instrumentalisierung der Bildung.

Es fiel auf, wie sehr Religion, Reformation und Bildung an diesem Abend durch eine seltsam unbestimmte, liberal-protestantische Brille gedeutet wurden.

Und einzig der Katholik Kretschmann kam gleich mehrfach auf Luther zu sprechen: "Was war denn das Knackige an Luther?", so fragte er. "Du sollst selber lesen und selber die Bibel auslegen." Ein Lutherbild, wie es auch Luther-Filme oder die Luther-Botschafterin Käßmann zeichnen.

Dass dem Reformator an nichts weniger gelegen war, als an einem mündigen Kirchenvolk, das sich mit der Bibel unterm Arm eigene Gedanken zur Bibel, womöglich noch zu Inhalten des Glaubens macht und diese dann öffentlich vertritt, offenbart ein Blick in die Schriften Luthers: Jede abweichende Ansicht ertrug Luther nur schwer. Da war Luther so päpstlich wie der Papst: abweichende Ansichten verketzerte er, und wo es ihm möglich war, rief er dazu auf, die Abweichler zu vertreiben. Wenn er nicht zu schlimmeren Maßnahmen aufrief.

Aber es ging nicht um Theologie an diesem Abend. Auch nicht um Wissenschaft. Und nicht um Luther. Dafür um "Religion", "gefühlte Wahrheiten", das, was "persönlich wahr" sei, um "Spiritualität" und wie man all dies im kirchlichen Religionsunterricht vermittle, weil dies für "die multireligiöse Gesellschaft" wichtiger denn je sei.

Es war jedoch schön anzuschauen, wie angenehm es sich in einer Blase plaudern lässt. So schnell, wie alles klar und gut war an diesem Abend, so schnell war das Podium auch vorbei. Publikumsfragen waren gar nicht erst vorgesehen. Damit nicht jemand auf den reformatorischen Gedanken kommt, die Blase zu stören.