Philipp Blom zu Gast in Düsseldorf

"Die Aufklärung hat gerade erst begonnen!"

DÜSSELDORF. (hpd) Philipp Blom war vergangene Woche beim Düsseldorfer Aufklärungsdienst zu Gast. Der Philosoph und Historiker sprach dort über das vergessene und zugleich ambivalente Erbe der Aufklärung. 

Die Ahnengalerie der Aufklärung ist ebenso lang wie vielseitig. Doch ihr Facettenreichtum wird heute nur unzureichend nachgezeichnet und ihre Schattenseiten werden nur halbherzig problematisiert. Jean-Jaques Rousseau, Voltaire und Kant gelten als geniale Vordenker. Sie dominieren das Bild von der Aufklärungsepoche. Zu Unrecht, wie Philipp Blom in Düsseldorf erklärte. Denn sie vertraten ein lediglich säkular bezeichnetes, doch im Grunde noch in alten religiösen Mustern verhaftetes Denken. Christliche Konzepte – wie das Leben nach dem Tod, die Existenz Gottes oder das Postulat des freien Willens – wurden aus ihrem religiösen Kontext gerissen und in philosophische Gedanken verarbeitet. 

Anders als die "gemäßigten Aufklärer" sei das Erbe "radikaler Aufklärer" rund um den Salon des Baron d'Holbach und Philosophen wie Denis Diderot, David Hume und Julien Offray de La Mettrie in Vergessenheit geraten. Anders als die Leichname von Voltaire und Rousseau, wurden ihre Gebeine nicht in das Pariser Panthéon überführt, sondern teils anonym begraben. Die Radikalität, der Mut und die Originalität ihrer Argumentation haben keinen prominenten Platz im kollektiven Gedächtnis folgender Generationen gefunden. 

Laut Philipp Blom ist dies kein Zufall. Denn die gemäßigte Aufklärung machte es zum einen möglich, weiterhin den religiösen Instinkten einer christlich geprägten Kultur zu folgen. Zum anderen eignete sie sich – ähnlich wie die calvinistische Theologie – bestens als Überbau für die Werte eines kapitalistischen Bürgertums. Wer über Willensfreiheit verfüge, sei schließlich für seinen Reichtum oder seine Armut selbst verantwortlich. Insofern war auch die Philosophie Immanuel Kants weitaus kompatibler mit dem damaligen Gesellschaftssystem und den herrschenden Machtverhältnissen als gemeinhin angenommen wird. Sein Denken blieb theologisch fundiert und strukturiert. An die Stelle der Seele nach christlicher Vorstellung trat bei ihm bloß die Vernunft, ohne dass konsequent mit religiösen Konzepten gebrochen wurde. 
 

"Die Denkräume der Aufklärung sind noch immer zugenagelt."

Die alles umfassende Rationalität wurde letztlich selbst zur Gefahr. Der mit der gemäßigten Aufklärung verbundene rationalisierende Impuls führte zu einer immer weitreichenderen Kontrolle des gesellschaftlichen und persönlichen Lebens. Philipp Blom verdeutlichte das Gefahrenpotential exemplarisch an dem von Jeremy Bentham stammenden Konzept des Panopticons, das die gleichzeitige Überwachung vieler Menschen durch einen einzelnen Überwacher nach rationalen Kriterien ermöglicht. Die Nähe zur Vorstellung eines allwissenden, allsehenden Gottes sei, so Blom, offensichtlich.

Auch heute seien wir noch immer in theologischen Debatten befangen, ohne es zu merken. So trage der vemeintlich unideologische, freie Markt religiöse Züge. Er sei zu einer objektiven Realität, zu einer neuen Transzendenz geworden, dessen Gebote wir zum eigenen Wohl gehorchen müssen. Es wird geglaubt, dass Menschen rational handeln, obwohl eine der wichtigsten ökonomischen Entscheidungen nicht nach rationalen Kriterien getroffen wird – nämlich ob wir Kinder bekommen oder nicht. 

Der Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit sei weiterhin schwer zu vollziehen. Ein Blick auf die radikalen Aufklärer und auf ihr vergessenes Erbe könnte dabei jedoch behilflich sein. Denn sie traten für eine menschliche Gesellschaft fern von religiöser Unterdrückung ein und lieferten das dafür notwendige intellektuelle Rüstzeug. 

Philipp Blom veranschaulichte die intellektuelle Schärfe und Konsequenz damaliger Aufklärer. Sein Vortrag in Düsseldorf war zugleich eine Einladung zur ehrlichen Selbstreflexion und Kritik an Konventionen. Gemeinsam mit den zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern diskutierte er noch lange an diesem Abend in Düsseldorf.