Im Zweifel schuldig

GRAZ/WIEN. (hpd) Philippe Lorre von der Organisation „Die Konfessionsfreien“ ist vom Bezirksgericht Graz der Misshandlung an zwei Zeugen Jehovas schuldig gesprochen geworden. Das Urteil ist nicht rechtskräftig, Lorre wird in Berufung gehen. Das Urteil der Einzelrichterin wirft zahlreiche Fragen auf. Beweise gibt es keine.

Für Richterin Magdalena Leitner vom Bezirksgericht Ost in Graz bestehen keine Zweifel. Philippe Lorre von den „Konfessionsfreien“ hat im März des Vorjahres zwei Zeugen Jehovas misshandelt, die ungebetenerweise an seiner Tür angeläutet hatten. Das hat sie in einem Urteil am zweiten Prozesstag verkündet. (Reportage vom ersten Prozesstag siehe hier.)

Bezirksgericht Ost in Graz / Foto: Christoph Baumgarten
Bezirksgericht Ost in Graz, Foto: © Christoph Baumgarten

Worauf sie dieses Urteil stützt, bleibt unklar. Neue Beweise sind nicht dazu gekommen. Eher im Gegenteil, wie Lorres Anwalt Matthias Strampfer gegenüber dem hpd sagt. Ein Gutachter, der nach dem ersten Prozesstermin beauftragt worden war, konnte nur wenig Licht in die Sache bringen. Objektive Beweise, die beiden Zeugen Jehovas seien auch nur vorübergehend verletzt worden, als Lorre sie aus seiner Wohnung auf den Gang seines Mietshauses drängte, gibt es nach wie vor nicht.

Niemand weiß, wem der Arm mit blauen Flecken gehört

Auf einem der angeblichen Beweisfotos, das die angeblich Geschädigten nach dem Vorfall gemacht haben wollen, ist laut Gutachter nichts zu sehen, was er eindeutig als Verletzung bezeichnen könnte. Auf dem Foto, das angeblich den Arm des zweiten Geschädigten zeigt, seien Hämatome in der Größe von Fingerkuppen zu sehen. Allein, wem der Arm gehört, weiß niemand. Das hat auch der Gutachter vor Gericht eingestanden. Es gibt nicht einmal Belege, wann die fraglichen Fotos überhaupt gemacht wurden.

Verteidiger kündigt volle Berufung an

„Es gibt also keine objektiven Beweise“, sagt Strampfer. „Wir haben eine Anzeige, die knapp eine Woche nach dem Vorfall erstattet wurde, und das nicht einmal von den Betroffenen direkt sondern über die Zentrale der Zeugen Jehovas. Eine Jacke, die angeblich beschädigt wurde, gibt es nicht. Wir haben keine Arztberichte, weil keiner der Betroffenen beim Arzt war. Und die Fotos zeigen nichts, was den Schuldspruch rechtfertigen würde.“ Noch dazu widersprechen einander die Zeugen in wesentlichen Details. Niemand könne mit Sicherheit sagen, ob bei dem Vorfall überhaupt irgendjemand misshandelt worden sei.

In Österreich sei es Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Schuld eines Angeklagten zu beweisen. „Diesen Beweis hat sie nicht erbracht“, sagt Strampfer. „Wir müssen jetzt das schriftliche Urteil abwarten und gehen dann vor dem Landesgericht Graz in volle Berufung.“ Bis dahin bleibt auch die Strafe, 1.280 Euro, ausgesetzt.

Im Zweifel gegen den Angeklagten?

Lorre zeigt sich zuversichtlich, dass er bei einer Berufung freigesprochen wird. „Ich hab ein ruhiges Gewissen. Ich habe nichts getan.“

Unklar bleibt, was die Richterin dazu bewogen hat, keine begründeten Zweifel an der Schuld des Angeklagten zu haben. Der (neue) Anwalt der Zeugen Jehovas hatte sich vor dem Urteilsspruch vehement für die Verurteilung Lorres ausgesprochen. Unter anderem mit der Begründung, dass Lorre bei den „Konfessionsfreien“ aktiv sei. Auch Lorre hält die Verurteilung für möglicherweise politisch motiviert.

Andererseits wäre es nicht das erste Mal, dass es vor einem österreichischen Einzelrichter heißt: Im Zweifel gegen den Angeklagten. Frei nach dem Motto: „Irgendetwas wird er schon gemacht haben“. Mit den angeblichen Opfern muss das gar nichts zu tun haben.