50 Jahre Vatikanum Zwei

second_vatican_council_by_lothar_wolleh.jpg

Foto: Lothar Wolleh (Wikipedia)

BERLIN. (hpd) Ein halbes Jahrhundert ist es nun her, dass sich die Katholische Kirche mit dem Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils auf das Wagnis des „Aggiornamento“ einließ. Ein Wagnis, vor dem viele in der Kirche gleich wieder zurückgeschreckt sind.

von Alan Posener

Der prominenteste Renegat ist der gegenwärtige Papst Benedikt XVI, der als Theologe Joseph Ratzinger zusammen mit Karl Rahner und Hans Küng zu den jungen Wilden des Konzils zählte, der aber seit seiner Flucht aus Tübingen im Revolutionsjahr 1968 mit der ganzen Emphase des Renegaten die von ihm selbst mitformulierten Beschlüsse des Konzils rückgängig machen will.

Erstaunlicherweise wird diese Agenda von Ratzinger und seinen Anhängern immer noch und immer wieder geleugnet. Dabei finden sich in Ratzingers Werken viele Passagen, die sich explizit gegen das Konzil wenden, wie etwa die folgende, in der dem Konzil eine geradezu teuflische Wirkung zugeschrieben wird: „Das Erlöschen der Kirchen würde einen geistigen Erdrutsch bedeuten, dessen Ausmaße wir uns noch nicht vorzustellen vermögen. In welche Richtung das gehen könnte, ist nach meinem Dafürhalten in den Ereignissen von 1968 und in der daran anschließenden Entwicklung deutlich geworden. Denn (sic!) die Pariser Studentenrevolution, die das 68er-Phänomen ins Rollen brachte, ist nicht von außen auf die Kirche geprallt, sondern aus den nachkonzilaren Gärungen des Katholizismus und aus vorangehenden Strömungen revolutionärer amerikanischer protestantischer Theologie hervorgebrochen … Diese theologische Implikation ist auch im deutschen und italienischen Terrorismus der siebziger Jahre unverkennbar. Die Gestaltwerdung des italienischen Terrorismus der frühen siebziger Jahre ist ohne die inneren Krisen und Gärungen des nachkonziliaren Katholizismus nicht zu verstehen“.

Nun, die These ist gewagt. Der Berliner sagt: Hamse’s nich ne Nummer kleener? Denn erstens brachte der Pariser Mai, der nicht nur eine „Studentenrevolution“ war, keineswegs „das 68er Phänomen ins Rollen“, wie Ratzinger behauptet. Vielmehr bildeten die Ereignisse des Jahres 1968, zu denen neben dem Pariser Mai der Prager Frühling, die Tet-Offensive und Demonstrationen in Ost und West ebenso gehörten wie die Mordanschläge auf Robert Kennedy, Martin Luther King und Rudi Dutschke, der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CSSR, die Auflösung der Roten Garden in China, die Wiederwahl Charles de Gaulles in Frankreich und die Wahl Richard Nixons in den USA, den Höhepunkt, aber auch das Ende jener revolutionären „Gärungen“, die bereits wirksam waren, als das Konzil am 11. Oktober 1962 eröffnet wurde und auf die das Konzil – zweitens – eher reagierte als dass es sie ausgelöst hätte.

Und wenn – drittens – womöglich im italienischen Terrorismus der 1970er Jahre (gemeint ist der Linksterrorismus, Ratzinger beachtet erst gar nicht den gefährlicheren und blutigeren Rechtsterrorismus jener Jahre, etwa jenen der Geheimloge „P2“) auch katholische Motive wirksam waren, so war im deutschen Linksterrorismus der gleichen Zeit eher der Einfluss des protestantischen Pfarrhauses bestimmend. Allenfalls beweisen diese Spurenelemente, dass Religion und Terrorismus auch im Vorzeichen des Christentums Verbindungen eingehen können, was aber nicht wirklich verwundert.

Ratzinger reflektiert jedoch nicht diesen Zusammenhang, weil er ihm nicht passt; er benutzt vielmehr die behauptete Verbindung zwischen „nachkonzilaren Gärungen“ und Terrorismus zur Diskreditierung jenes gewagten Versuchs, einen Katholizismus zu schaffen, der mit der Moderne kompatibel ist.

Es wird Zeit, dass dieser historische Taschenspielertrick auch in der Kirche hinterfragt und als das entlarvt wird, was er ist, nämlich Geschichtsklitterung. Denn das Konzil endete erst 1965. Seine Ergebnisse wurden in der Kirche erst langsam  rezipiert. (Ich erinnere mich, wie wir uns im katholischen Religionsunterricht anno 68 durch Rahners „Kleines Konzilskompendium“ quälten.) Es ist undenkbar, dass die Ereignisse von 1968, geschweige denn der „geistige Erdrutsch“ und das „Erlöschen der Kirchen“, den Ratzinger in den Aufgeregtheiten der Tübinger Studenten, vor denen er 1968 Reißaus nahm, präfiguriert sieht, vom Konzil ausgelöst wurden. Eher waren sie eine Reaktion auf die erstarrten Verhältnisse der Zeit vor dem Konzil und vor dem großen Reformer Johannes XXIII; dass diese Reaktion übers Ziel hinaus schoss, ist nicht verwunderlich. Daran aber war aber bestimmt nicht das Konzil schuld. Nach der Ära Ratzinger wird die Kirche sich dankbar des Konzils erinnern; und die Welt wird es der Kirche danken.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.