Richard Evans’ Kritik der Frage "Was wäre gewesen wenn…"

(hpd) Der britische Historiker Richard Evans kritisiert in seinem Buch „Veränderte Vergangenheiten. Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte“ die auch unter Historikern zunehmende Tendenz zur Spekulation über alternative Geschichtsverläufe. Der Autor macht an einer Fülle von Beispielen nicht nur, aber auch von britischen Historikern überzeugend die Problematik der nicht nur dort wachsenden Bereitschaft zur Fixierung auf historische Spekulationen deutlich.

Was wäre gewesen, wenn … – diese Frage wird im Kontext historisch-politischer Ereignisse nicht selten gestellt: Was wäre gewesen, wenn die Schüsse in Sarajewo Franz Ferdinand verfehlt hätten, wenn Rosa Luxemburg nicht ermordet worden wäre, wenn ein Anschlag auf Adolf Hitler geklappt hätte, wenn Al Gore statt George W. Bush die Präsidentschaftswahl gewonnen hätte?

Derartige Fragen bewegen Romanautoren und Stammtischgespräche. Mittlerweile haben aber auch angesehene Historiker – allerdings nicht in Deutschland, sondern in Großbritannien – ihre Faszination für einschlägige Diskussionen und Überlegungen entdeckt. Davon ist indessen Richard J. Evans, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Cambridge und Autor einer voluminösen Gesamtdarstellung zum Dritten Reich, nicht begeistert. In seinem Buch “Veränderte Vergangenheiten. Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte” geht er einschlägigen Spekulationen nach, um deren Inhalt und Methode einer kritischen Betrachtung zu unterziehen.

Die vier Kapitel seines Buchs gehen auf die Menahem Stern Jerusalem Lectures, die Evans 2013 auf Einladung der Historical Society of Israel hielt, zurück. So erklärt sich auch der formale Charakter des Bandes mit seinen vier Kapiteln, bestehen sie doch aus dem durch bibliographische Angaben ergänzten Manuskript zu besagter Vortragsreihe.

Der Autor definiert zunächst, er verstehe unter kontrafaktischen Szenarien “alternative Versionen der Vergangenheit, bei denen die Änderung eines einzelnen Ereignisses auf der Zeitachse zu einem anderen Ergebnis als dem führt, das sich tatsächlich ereignet hat” (S. 11). Danach geht er auf frühere Formen derartiger Geschichtsspekulationen ein, wobei die historische Beschreibung verschiedener Beispiele dominiert. Gleichwohl lässt Evans hier bereits seine Skepsis erkennen, handele es sich doch allzu häufig um das Ergebnis von politischen Absichten oder schlichtem Wunschdenken. Beliebigkeit und Oberflächlichkeit prägten darüber hinaus die inhaltliche und methodische Anlage der Szenarien.

Für Evans, der sich häufig an seinem Kollegen Niall Ferguson “abarbeitet”, stehen die einschlägigen Autoren vor einem Paradox: “Betrachten sie Zufall und Kontingenz als Schlüsselfaktoren in der Geschichte, so können sie die Plausibilität oder den Nutzen kontrafaktischer Szenarien vor diesem Hintergrund nicht akzeptieren; sind sie Anhänger von Teleologie und Determinismus, so werden sie ohnehin keine Notwendigkeit sehen, solche Szenarien zu entwerfen” (S. 103f.).

Darüber hinaus seien derartigen Auffassungen noch andere Denkfehler eigen: Man wäre jeweils fixiert auf das Agieren einer einzelnen Personen, meist den “großen Männern” in der Geschichte, und ignoriere dabei deren Einbettung in ökonomische Gegebenheiten oder politische Strukturen. Diese Perspektive erkläre auch, warum kontrafaktische Szenarien eher bei den Konservativen zu finden seien.

Einschlägige Ausgangssituationen, ideologische Grundpositionen, einseitige Personenfixierungen kritikwürdige Vorgehensweisen und romantisches Wunschdenken prägten deren Schrifttum. Insofern kann Evans auch eine Fülle an Beispielen für seine Grundauffassung vorbringen, “dass langfristige kontrafaktische Spekulationen wenig Überzeugungskraft besitzen und dem Historiker keinen Nutzen bringen, weil sie nach dem veränderten Ausgangsereignis zu viele Glieder der imaginären Kausalkette unter den Tisch fallen lassen” (S. 194).

Etwas unklar bleibt indessen, ob nicht ein methodisch eingeschränkteres Spekulieren einen gewissen Erkenntnisgewinn “abwerfen” kann. Denn Evans’ Einwände richten sich gegen ein Überschreiten dieser Schwelle. Was aber wenn man hier differenzierter und seriöser arbeitet? Dies kann dann mehr erkenntnisfördernd, wenn auch weniger spannend sein. Denn ansonsten geht wohlmöglich das Bewusstsein für Alternativwege in Geschichte und Politik verloren. Für deren jeweilige Ergebnisse gibt es keine unveränderbaren Vorgaben. Hierzu hätte man sich vom Autor, der ansonsten seine Skepsis gegenüber dem kontrafaktischen Erzählen gut begründet, noch einige Reflexionen gewünscht.

 


Richard J. Evans, Veränderte Vergangenheiten. Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte, München 2014 (Deutsche Verlagsanstalt), 220 S.