"… in der Ritterrüstung zur Olympiade"

(hpd) Mit dem Bild des geharnischten und deshalb sich selbst behindernden und auch sonst (mangelnde Sicht wie beschränkte Aussicht) benachteiligten Sportlers beschrieb Klaus von Dohnanyi in “Der Spiegel” vom 24. September 1990 (Ausgabe 39) die für ihn weitgehend aussichtslose Lage ostdeutscher Betriebe nach der deutsch-deutschen Wirtschafts- und Währungsunion Mitte 1990. Dieser Artikel “Das deutsche Wagnis. Die Risiken der deutsch-deutschen Vereinigung” des sozialdemokratischen Politikers gab in Inhalt wie Ton das Handeln der “Treuhandanstalt” von 1990 bis 1994 vor, deren Beauftragter für die Privatisierung ostdeutscher Kombinate – seine Thesen anwendend – Dohnanyi war. Dieser Artikel beschreibt Zweck und Ziel des “Aufbau Ost”.

Das vorliegende Buch ist eine Studie dieser Programmatik, vor allem des in weiten Teilen antihumanistischen Menschenbildes des Neoliberalismus in seiner Anwendung auf Ostdeutschland unmittelbar nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsgebiet des Grundgesetzes. In dessen Folge wurden bis 1994 etwa 15.000 volkseigene und 25.000 kleinere Betriebe sowie 50.000 Immobilien privatisiert und 4.400 Betriebe rückübertragen. Die Zahl der Arbeitsplätze sank in dieser Zeit von vier auf anderthalb Millionen. Diese radikale – wirkliche – Wende fand in Ostdeutschland statt.

Der Westteil blieb davon lange weitgehend unberührt, von Zuzügen, Steuererhöhungen und Sozialtransfers abgesehen, deren Folgen erst Ende der 1990er Jahre sichtbar wurden, das Konzept der “nachholenden Modernisierung” in Frage stellten und “Hartz IV” provozierten. In der gesellschaftlichen Situation nach der Währungs- und Sozialunion am 1. Juli 1990 wurde für Ost wie West eine öffentlich verständliche kulturelle Konstruktion und Begleitmusik nötig, die zentrifugale Kräfte einband, Proteste minimierte, moralische Aufwendungen erklärte, Kollatoralschäden entschuldigte und die DDR delegitimierte, ohne einer Umerziehung des Volkes das Wort zu reden. Dieses Programm hieß “Aufbau Ost” und versprach “blühende Landschaften” (Helmut Kohl).

Für die Individuen folgte aus dieser Strategie zum einen Geduld, das Ziel sei aber nah, zum anderen Leistung für dieses Ziel, verbunden mit Selbstoptimierung zu diesem Zweck und Einpassgenauigkeit in diesen Weg, eine Art permanente psychische Bereitstellung der Ressourcen des “unternehmerischen Selbst”, zugleich immer wieder die Überwindung der Angst an den zugewiesenen Aufgaben zu scheitern (S. 27 ff.).

Aus den Diskursen über diese Prozesse, die sich mit hohem Tempo und als “Gemeinschaftserlebnisse” vollzogen, ging das Deutungsmuster der “anderen Deutschen” hervor, das nicht einfach nur übergestülpt wurde, sondern – bei entsprechender Umdeutung – auch zur positiven Selbstdarstellung derjenigen Ostdeutschen taugte, die nun ihrerseits nach dem kulturellem Erbe der DDR fragten, plastisch ausgedrückt in dem Buchtitel “Befremdlich anders” (Hrsg. von Evemarie Badstübner, Berlin 2000, 703 S.).

Der vorliegende Band ist in Österreich entstanden. Auch Österreicher sprechen und schreiben deutsch, sind aber keine Deutschen, auch keine “anderen Deutschen”. Das sind die Ostdeutschen, aber nicht alle, die dort leben, sondern nur jene, die da geboren respektive sozialisiert wurden. Manche sagen sogar, sie seien eine Ethnie. Das Stuttgarter Arbeitsgericht hat dies aber 2010 abgelehnt. “Ostdeutsch” ist eine kulturelle Deutung.

Folgt man den Aussagen des Buches, dann sind die “anderen Deutschen” mit der Wiedervereinigung 1990, dem Programm “Aufbau Ost” und den ihm inhärenten “Figuren des kolonialen Diskurses” folgend, zu den “minderwertigen ‘Anderen’” erklärt worden (vgl. Vorwort von Thomas Slunecko, S. 9); zugespitzt 2005 durch Robert Böhmer: Die unter “mentalen Diktaturschäden” leidenden Menschen müssen für den Kapitalismus fit gemacht werden (vgl. S. 13). Die Arbeitskräfte selbst waren aber, wie sich herausstellte, gut qualifiziert, weitgehend flexibel und anpassungswillig, woraus sich die Frage ergibt, was sie in der DDR so disponierte.

Behält man die Logik des Buches bei, so werden diese “anderen Deutschen”, gehen sie nach Westdeutschland, zu Deutschen, während diejenigen, die von dort kommen und im “Beitrittsgebiet” siedeln, Deutsche bleiben und nicht zu Ostdeutschen mutieren. Das ist für Österreicher unverständlich. Aber sie haben ja auch keinen “Einigungsvertrag” mit akribischen Übersetzungen und Regelungen alles in der DDR Gewesenen ins korrekte Bundesrepublikanische. Das hatte biografisch mitunter fallbeilartige Folgen und betrifft auch die Folgegeneration, etwa bei den Renten, lange nach dem Ende der DDR.

Von Wien aus schaut man weniger verkrampft und schon gar nicht rosarot auf den “semantischen Smog”, wie die “Propaganda [!] zur deutschen Wiedervereinigung” im Vorwort bezeichnet wird, die dem “neoliberalen high-jack-Manöver” zur Einverleibung der “anderen Deutschen” im “Namen der Freiheit” parallel ging. Es sind die “anderen Deutschen”, die, um dem “Aufbau Ost” gerecht zu werden, “sich selbst endlich ‘richtig’ an die Kandare nehmen” sollten (Vorwort).

Diese These war Kern einer einflussreichen Ideologie bundesdeutscher Herkunft und keine Abschrift aus finsteren SED-Altbeständen der Imperialismuskritik. Das Buch bringt stringente Ableitungen der Autorin aus ihrer Analyse und nachvollziehbare Interpretationen der von ihr studierten zeitgenössischen politischen Texte, das Material weitgehend beschränkt auf die Zeit 1990/91. Struktur der Studie und Präsentation des Stoffs erfolgen eher “trocken” und entsprechen den akademisch üblichen Regeln. Es ist dabei mehr herausgekommen als eine einfache Diplomarbeit.

Sandra Katzer studierte in Leipzig Kunstgeschichte, dann in Wien Psychologie und arbeitet seit 2009 für einen Verein, der sich der Bindungsanalyse widmet, verstanden als Vertiefung der vorgeburtlichen Mutter-Kind-Beziehungen. Die Autorin wäre, wohnte sie nicht in Österreich, selbst eine “andere Deutsche”, da sie geburtlich aus Ostdeutschland stammt. Sie ist 1976 in Zwickau auf die Welt gekommen, damals DDR, ja sicher Deutschland, aber nun einmal dessen “anderer” Teil. Man kann nun schlecht schreiben, der Geburtsort läge in der “ehemaligen DDR”. Österreich kennt glücklicherweise nur Deutsche.

Thomas Slunecko, der Betreuer der Studie, Fakultät für Psychologie, Wiener kulturpsychologische Denkschule, stellt die Arbeit von Sandra Kutzer auf seiner Homepage in einer Kurzfassung vor. Die Untersuchung gliedert sich in drei “klassische” Teile, einen zu den – wesentlich auf Michel Foucaults Subjektivierungsthesen sich stützenden – theoretischen Voraussetzungen (S.17–36), einen zum methodischen Herangehen (S. 37–43) und einen empirischen Teil (S. 44–80), der sich an Siegfried Jägers Analyseschritten orientiert und der mit “Zusammenfassung und Ausblick” abschließt.

Darauf folgen ein Literaturverzeichnis (S. 81–84), ein Anhang, der den folgenreichen Grundsatzartikel von Klaus von Dohnanyi in “Der Spiegel” mit fortlaufender Zeilenzählung nachdruckt. Ebenfalls dort entnommen sind elf erhellende Illustrationen: der graue, verfallende Osten … der blühende Westen, das Ideal des “Aufbau Ost”.

Unter Berufung auf Stuart Hall, Anita Moser, Aram Ziai und andere kritisiert die Autorin kolonialen Strategien entnommene Muster (S. 31 ff.), die dem Konzept “Aufbau Ost” Pate gestanden haben. So sehr dies in der Theorie und nach dem Empfinden der Betroffenen stichhaltig scheint, so sehr sind doch Forschungen nach Öffnung der entsprechenden Archive nötig, welche Beispiele tatsächlich herangezogen wurden. Die Vermutung liegt nahe, dass eher Erfahrungen der Besetzung Österreichs und des Sudentenlandes in den 1930er Jahren bemüht wurden.

Die Konzentration auf “Der Spiegel” bei der Beweisführung ist hinreichend angesichts des öffentlichen Diskursmonopols in der Politik, den die Wochenschrift damals noch besaß. Wenn es aber um den Beleg der Wirkmächtigkeit bestimmter Thesen auf die ostdeutsche Bevölkerung geht, müssten künftig zur Erhärtung oder Modifikation zwei Medienvorgänge und ihre “Botschaften” herangezogen werden. Da ist zum einen die Besetzung und Schließung (31.12.1991) des “Deutschen Fernsehfunk” (der DDR) mit der Zwischenstufe, dass 1991 auf DFF 1 zwischen 17.25 und 20.00 Uhr regionale Landesprogramme ausgestrahlt wurden, die schon weitgehend unter bundesdeutscher Leitung standen. Zum anderen wurden von der Treuhand frühzeitig Zeitungen samt ihren Abonnenten an Westmedien geradezu verschenkt. Das ist ein Kapitel für sich. Aber ohne diese neue Medienlandschaft wäre der Diskurs, der sowieso kein offener, dafür aber zwischen Predigt und Agitation angesiedelt war, weniger normativ gewesen.

Katzer geht im Hauptteil ihrer Studie den Themen Transformation (“Aufholjagd”), wirtschaftliche Einheit (Wiederholung des “Wirtschaftswunders”), Identitäten (Ostdeutsche als Mängelwesen), nationale Identität (“Neuverortung”), rückständiges Ostdeutschland (veraltete Lebenswelten) nach. Die Feinanalyse wird dann am schon oben erwähnten Dohnanyi-Aufsatz vorgenommen und zwar geradezu philologisch, inklusive Betrachtung der graphischen Gestaltung (S. 58–61). Erstaunlich an der sprachlichen Aufschlüsselung des alten “Spiegel”-Textes ist, wie dort nahezu alle Losungen vorfindlich sind, die in den folgenden Jahren und teilweise bis heute als unhinterfragbare Wahrheiten gelten, bis hin zu der Behauptung, es gäbe keine Alternative.

Schon für diese Aufklärung darf man der Autorin dankbar sein und ihr Werk der Lektüre empfehlen. Selbstverständlich wird es Zeit für eine “Untersuchung der Verhaltensweisen oder [es müsste hier “und” heißen, HG] der Veränderung der Selbstwahrnehmung der BewohnerInnen der neuen Bundesländer auf subjektiver Ebene” (S. 79).

 


Sandra Katzer: Die “anderen Deutschen”. Eine kritische Diskursanalyse, Wien / Münster: LIT-Verlag 2014, 113 S., 11 Abb. (Politikwissenschaft, Bd. 201), 29,80 Euro, ISBN 978–3–643–50633–7