Mariam geht fort. Warum? Wohin? Mit wem?

WEIMAR. (hpd) Simon Petrus sprach zu ihnen: ‘Mariam soll von uns weggehen! Denn Frauen sind des Lebens nicht würdig.’ Jeschua sprach: ‘Seht, ich werde sie erziehen, um sie männlich zu machen (…) denn jede Frau, die sich männlich macht, wird in das Reich der Himmel eintreten.’ Der Vers 114 des Thomas-Evangeliums war es, der Lena Naumann zum Schreiben veranlasste. Als die Autorin auf dieses Zitat stieß, war sie zunächst schockiert ob solch überaus deutlichen Frauenfeindlichkeit der christlichen Kirche, speziell des Katholizismus, der vorgeblichen Religion der Liebe.

Dann aber ging sie an die Recherchearbeit und verarbeitete ihre Quellenstudien zu einer Erzählung im Stil eines Evangeliums, allerdings geschrieben aus religionskritischer und humanistischer Perspektive. Lena Naumann entrümpelte dabei den Ursprungsmythos des “christlichen Abendlandes” von allem Magischen und stellte ihn mit literarischen Mitteln auf eine psychologische und naturwissenschaftliche Grundlage. Aber nicht nur darum geht es der Autorin. Sie wendet sich bezugnehmend auf die Frauenfeindlichkeit z.B. des Apostels Simon Petrus eingehend den inneren Entstehungsbedingungen für Doppelmoral und sexuellen Missbrauch innerhalb christlicher Kirchen zu.

Lena Naumann stellt in den Mittelpunkt ihrer Geschichte Mariam aus Magdala, die Tochter – und einziges Kind – einer jüdischen Mutter und eines griechischen Vaters. Der Vater, ein reicher Händler lässt sie wie einen Sohn erziehen und ihr eine gediegene Bildung angedeihen. Insbesondere Platons Schriften prägen Mariams geistigen Horizont; das führt schon bald zum Hinterfragen des “Gesetzes”, also der religiösen jüdischen Dogmen. Und sie weigert sich auch, ihre Unabhängigkeit aufzugeben und ihr Leben als brave Ehefrau irgendeines Mannes zu beschließen. Es sind die Zeit und der Raum, die von der Autorin historisch konkret so beschrieben werden: “…im stickigen Jerusalem, in dem an vielen Ecken Männer, die sich für Propheten halten, ihre Heilslehren oder das baldige Kommen des Messias verkünden.” (S. 9)

Eines Tages begegnet sie Jeschua aus Nazareth und vergleicht diesen Zimmermannssohn mit dem Täufer Ioannes, den sie als einen solchen Propheten hat wahrgenommen: “Ioannes liebte es, mit der Angst der Anderen zu arbeiten, um Herrschaft über sie auszuüben. Viele, die sich, wie er berufen fühlten, gingen ähnlich vor. Ich hielt mich von ihnen fern. Der Zimmermannssohn war anders…” (S. 11) Jeschua ist für sie ein Mensch, “der auf eine schwer zu beschreibende Art eine andere Klasse besaß als die vielen selbsternannten Erlöser, die zu jener Zeit in Judäa und Galiläa herumliefen.” (S. 13)

Dieser Jeschua beeindruckt Mariam so stark, dass sie das Haus ihres Vaters verlässt, um Jeschua zu suchen und sich ihm anzuschließen. Das fällt mit Jeschuas Vorhaben zusammen, eine Gruppe von Männern um sich zu scharen. Ihm folgen aber nicht nur Männer, sondern gar nicht wenige Frauen. Eines Tages nun treffen Jeschua und auch Mariam auf den Fischer, Simon Petrus. Mariam mag ihn auf Anhieb nicht beschreibt diesen Mann so: “Es war nicht zu übersehen, wie sehr er zu herrschen liebte. (…) Wenn man ihn bei der Gier packte, tat er, was immer ein anderer von ihm verlangte. (…) Simon Petrus, der zwar kräftig war, aber dumm…” (S. 20/21)

Und damit beginnt die Schilderung der Feindschaft zwischen der hochgebildeten Frau aus Magdala und dem analphabetischen Fischer Simon, welches die eigentlich Schlüsselgeschichte in Naumanns Erzählung darstellt: "Die im Laufe der Zeit entstandene kleine Gemeinschaft von Menschen, die Jeschua umgab, entwickelte sich zu einem wandernden Dorf aus unterschiedlichen Menschen und Schicksalen. (…) Jeschua lebte bei den Männern, ich bei den Frauen. [Also war die erste urchristliche Gemeinschaft noch keine Gemeinschaft von gleichen Menschen, sondern wie damals üblich nach ungleichen Geschlechtern separiert; SRK]. Doch mitten unter uns lebte die Schlange, Simon Petrus, die nicht ruhte, das Gift des Diabolos zu verspritzen. Er war der schlechte Baum, der schlechte Früchte bringen würde." (S. 24)

Mariam lernt in dieser Schar, “dass es zwei Gruppen von Menschen gibt. Die einen, die Jeschuas Botschaft vom Reich verstehen und nach ihr zu leben versuchen. Und die anderen, denen sie letztlich gleichgültig ist und die sie für ihre eigenen Zwecke missbrauchen.” (S. 24)

Im Weiteren erzählt Lena Naumann den Lebensweg Jeschuas bis hin zu dessen Kreuzigung und das Auffinden seines leeren Grabes. Die Autorin stellt hierbei aber nicht nur einige vorgebliche Ereignisse anders da als in den kanonisierten Evangelien, sie findet vielmehr für die diversen Jesus-Wunder verblüffend einfache und in sich logische Erklärungen. Das gilt selbst für die Jungfrauen-Geburt oder für Auferstehung und Himmelfahrt. Des Weiteren wird geschildert, wie sich Simon Petrus, der “Menschenfischer” in all diesen Situationen verhielt.

Auch wie dieser phantastische Geschichten um die angeblichen Wunder, wie z.B. die Speisung der 5.000, erfand und damit Jeschua vergottete und sich selbst erhöhte, als neuer Führer aufbaute: “Was erlaubte sich Simon Petrus, die Dinge derart zu verdrehen! Den guten Glauben schlichter Menschen zu missbrauchen, damit sie ihn mit großen Augen staunend ansehen. Schon lange vor Jerusalem und lange vor der Kreuzigung begann der Fischer sehr geschickt, Jeschuas besondere Talente für sich auszuschlachten. Zu seiner eigenen Bereicherung. Von Heilungen und Wundern wußte er zu berichten, wie Tote auferstanden, Lahme gingen und das Brot sich mehrte. So machte er die Leute willig und gefügig. (…) Wir ahnten schon in Galiläa, dass Petrus und die Fischer aus einem Menschen namens Jeschua, in dem viel Liebe war, aber auch Irrtum wie in jedem Menschen, dereinst ein einträgliches Geschäft zu machen wussten. Ehrbare Menschen – waren diese Männer nicht!” (S. 73) Auf Seite 147 heißt es dann noch: “Thomas erzählte außerdem: Überall verkünde Simon Petrus, der Rabbi sei tatsächlich von den Toten auferstanden. Ich lachte schallend. Simon Petrus? Wer war noch Simon Petrus?”

Simon der Fischer, der zum Menschenfischer wurde…

Ja, auf diesen Simon Petrus baute die Kirche auf, baute die Priesterkaste ihre Herrschaft über Menschen, Staat und Gesellschaft auf. Wie – das kann man auch schon diesem etwas anderen Evangelium entnehmen. Der Weg Simons und der anderer Jünger, das war nicht der Weg Mariams. Sie konnte von dieser auf Lug und Trug bauenden Gemeinschaft, Gemeinde, nur fortgehen. Sich dadurch also als mündiges Individuum von jeder Religion emanzipierend.

Lena Naumanns Geschichte über Mariam und Jeschua ist aber nicht nur eine Erzählung über die Feindschaft zwischen einer emanzipierten Frau und einem herrschsüchtigen religiösen Eiferer. Es ist zugleich eine feinfühlige Erzählung über eine Liebe, die am Ende stärker ist als der Tod. Eine Liebe, die zwischen ihr und Jeschua zwar langsam keimt, die aber auf Gleichberechtigung baut.

Dieses “Evangelium” berichtet daher nicht bloß über von Klerikern erst Jahrhunderte später festgeschriebene Legenden. Sie beinhaltet neben anderen Sichten – und Erkenntnissen – vielmehr eingehende Reflexionen der fiktiven Ich-Erzählerin zu Personen und Ereignissen. Ihre weibliche Sicht ist dabei aber keinesfalls eine eng-feministische, sondern eine allgemein-menschliche.

Mariam geht fort, so hat Lena Naumann ihre Erzählung genannt. Warum sie fortgeht, wohin und mit wem, das ist und bleibt bis zur letzten Seite das Spannende.

Herausgekommen ist auf diese Weise eine vorzügliche Religions- und Kirchenkritik; eine tiefgründige Betrachtung, die mit leichter Hand geschrieben ist und sich überaus flüssig liest. Und, obwohl vor 2000 Jahren angesiedelt, so ist Lena Naumanns Buch völlig zeitlos: Sind doch religiöse Eiferer, Heilsbringer-Propheten und machtgierige Priesterkasten bis auf den heutigen Tag nicht ausgestorben.

 


Die Autorin, geboren 1963, hat Klassische Philologie und Germanistik studiert und arbeitet als Freie Journalistin. Sie ist Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs).



Lena Naumann: Mariam geht fort. Erzählung. München 2014. Gryphon. 148 S. Klappenbroschur. Euro 12,80. ISBN 978–3–9815426–1–5