Roland Kipke zur aktuellen Sterbehilfedebatte

Alles oder Nichts!?

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GIESSEN. (hpd) In einem Artikel in der FAZ hat der Tübinger Philosoph Roland Kipke den Befürwortern einer Liberalisierung der Sterbehilfe vorgeworfen, inkonsequent zu sein. Sie würden sich in ihren Plädoyers für den ärztlich-assistierten Suizid auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten berufen, nur um es sogleich wieder zu beschneiden. Was meint er damit?

Er meint, dass die beispielsweise von Peter Hintze und Jochen Taupitz eingebrachten Gesetzesvorschläge zu kurz greifen, indem sie die Hilfe zur Selbsttötung auf tödlich erkrankte Patienten beschränken. Wenn allein das Selbstbestimmungsrecht zählt, sollten konsequenterweise alle Menschen von der Möglichkeit eines ärztlich-assistierten Suizids Gebrauch machen können.

Tatsächlich sehen die genannten Gesetzesvorschläge zur Regelung der Hilfe bei der Selbsttötung strenge Beschränkungen vor. Um einen ärztlich-assistierten Suizid in Anspruch nehmen zu können, müssen Patienten nach dem Gesetzesvorschlag von Taupitz etwa "an einer unheilbaren, zum Tode führenden Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung" leiden.

Um zu sehen, wie restriktiv dieser Gesetzesvorschlag ist, muss man nur ein aktuelles Beispiel aufgreifen. Kürzlich hat der an Parkinson leidende Theologe Hans Küng angekündigt, dass er seinem Leben ein Ende setzen wolle, wenn seine Erkrankung so weit fortschreite, dass er nicht mehr zu Schreiben in der Lage ist. Er habe ein sinnvolles und erfülltes Leben gehabt. Er sei nicht lebensmüde, aber doch "lebenssatt".

Da Parkinson keine zum Tode führende Erkrankung ist, wäre es nach dem Gesetzentwurf von Taupitz einem Arzt bei Strafe verboten, Hans Küng bei seiner geplanten Selbsttötung zu helfen. Denn nach dem von Taupitz vorgeschlagenen Gesetz steht die Möglichkeit eines ärztlich-assistierten Suizids, wie gesagt, nur Patienten mit einer Lebenserwartung von wenigen Wochen oder Monaten offen.

Hat Roland Kipke nicht also Recht, wenn er sagt, dass "die beschränkte Zulassung" des ärztlich-assistierten Suizids "ethisch inkonsequent" ist? Wenn sich die Verfechter der Sterbehilfe allein auf das Selbstbestimmungsrecht berufen, müssten sie sie dann nicht wirklich allen Leidenden zugänglich machen? "Schwerkranke", schreibt Kipke daher auch, "sind nicht die einzigen, die selbstbestimmt aus dem Leben scheiden wollen. Was ist mit den vielen alten Menschen, die ohne schwere Krankheit einfach 'lebensmüde' sind? Was ist mit denen, die mit ihrem Lebensplan gescheitert sind und keinen neuen Sinn mehr finden können? Was ist mit den Strafgefangenen oder Sicherheitsverwahrten, die an ihrem erbärmlichen Dasein zerbrechen?" Kurz: "Wer A sagt, muss auch B sagen!"

Wer das Selbstbestimmungsrecht ernst nimmt, darf die Hilfe beim Suizid nicht auf tödlich Erkrankte beschränken, sondern muss sie auch anderen sterbewilligen Menschen gewähren.

Obgleich man durchaus über die von Hintze und Taupitz vorgeschlagenen Restriktionen streiten kann, lässt sich doch leicht zeigen, dass es keineswegs "ethisch inkonsequent" ist, Grenzen bei der Zulassung zur Sterbehilfe zu ziehen.

Eine ausschließlich auf dem Selbstbestimmungsrecht beruhende Politik der Sterbehilfe würde nämlich noch viel weiter gehen als Kipke denkt. In einer wahrhaft liberalen Gesellschaft müssten nicht nur der assistierte Suizid und die aktive Euthanasie legal sein – es müsste sogar legal sein, sich jederzeit ein tödliches Medikament wie Natriumpentobarbital in der Apotheke kaufen zu können.

An diesem Beispiel zeigt sich jedoch schon, dass gerade ethische Überlegungen uns zu einer Beschränkung des Zugangs führen würden. Aus ethischen Überlegungen heraus würden wir beispielsweise den Zugang zu Natriumpentobarbital auf Volljährige beschränken. Zudem würden wir vernünftigerweise verlangen, dass dieses Medikament ausschließlich an Menschen verkauft werden darf, die urteilsfähig sind. Und schließlich würden wir darauf drängen, dass die Abgabe des Barbiturats zumindest mit einer Bedenkzeit verknüpft wird. Immerhin ist es nachweislich in unser aller Interesse, dass sich etwa unsere an Liebeskummer leidende 18jährige Tochter nicht aus einem bloßen Impuls heraus das Leben nehmen kann!

Selbst in einer wahrhaft liberalen Gesellschaft wäre es also alles andere als "ethisch inkonsequent", die Möglichkeiten des selbstbestimmten Sterbens rechtlich zu beschränken.

Im Unterschied zu Holland, Belgien und Luxemburg hat Deutschland keinerlei Erfahrung mit einer klinischen Praxis der aktiven Euthanasie. Angesichts der viel beschworenen Gefahren eines Missbrauchs ist es daher durchaus vernünftig, sich zunächst einmal auf die Einführung des ärztlich-assistierten Suizids zu beschränken. Denn die Gefahr eines Missbrauchs ist beim assistierten Suizid schon dadurch weit geringer als bei der aktiven Euthanasie, als es hier der Patient selbst ist, der die letzte zu seinem Tode führende Handlung ausführt. Juristisch ausgedrückt: Bei der Selbsttötung liegt die "Tatherrschaft" allein beim betroffenen Patienten.

Da es bei der geplanten Gesetzgebung buchstäblich um Leben und Tod geht, ist es schließlich auch rational, zunächst einmal Vorsicht walten zu lassen und vorerst lediglich terminal erkrankten Menschen die Option des ärztlich-assistierten Suizids zur Verfügung zu stellen. Gesetze sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn eine, sagen wir, zehnjährige Praxis zeigt, dass die Missbrauchsängste vollkommen unbegründet waren, kann man das Gesetz immer noch nachbessern und auch nicht terminal erkrankten Menschen den Zugang zum ärztlich-assistierten Suizid ermöglichen.

Kipke irrt also, wenn er die von Hintze und Taupitz eingebrachten Gesetzesvorschläge als "ethisch inkonsequent" bezeichnet. Es lässt sich durchaus rechtfertigen, die Hilfe bei der Selbsttötung zunächst einmal auf diejenigen Patienten zu beschränken, die dieser Hilfe am meisten bedürfen.

Angesichts seiner Forderung nach größerer Konsequenz, möchte man meinen, dass Kipke ein Verfechter einer Liberalisierung der Sterbehilfe ist, der sich lediglich über die vermeintliche Halbherzigkeit der von Hintze und Taupitz vorgelegten Gesetzentwürfe beklagt. Doch das ist nicht der Fall. Ganz im Gegenteil! Er ist ein entschiedener Gegner einer Liberalisierung der Sterbehilfe. Seiner Auffassung nach sollten wir am standesrechtlichen Verbot des ärztlich-assistierten Suizids festhalten, weil wir sonst "das Tor zur aktiven Sterbehilfe" aufstoßen würden.

Offenbar entgeht es Kipke, dass er sich mit seiner Verteidigung des Status quo selbst dem Vorwurf der logischen Inkonsistenz aussetzt. Denn auch die von ihm verteidigte passive Sterbehilfe beruht letztlich auf dem Selbstbestimmungsrecht. Weshalb sollte es Patienten sonst erlaubt sein, lebenserhaltende medizinische Maßnahmen jederzeit ablehnen oder lebenserhaltende medizinische Maßnahmen jederzeit abbrechen zu können? Natürlich allein auf Grund ihres Selbstbestimmungsrechts! Wenn er das Selbstbestimmungsrecht aber ernst nimmt, sollte er auch den mit großer Vorsicht entworfenen und vor allen Missbrauchsgefahren schützenden Gesetzesvorschlag von Hintze und Taupitz begrüßen – anderenfalls fällt der Vorwurf der "ethischen Inkonsequenz" auf ihn selbst zurück.