Rezension

Holocaust und Staatsauflösung – eine einseitige Deutung

BONN. (hpd) Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder formuliert in seinem Buch "Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann" eine neue Deutung des Massenmordes an den Juden, wobei er diesen aus der Rahmensituation von Staatsauflösungen erklärt. Auch wenn dieser Faktor sicherlich mit eine bedeutende Rolle spielt, so erklärt er angesichts des Funktionierens eines totalitären Staates eben gerade nicht allein und überzeugend den Holocaust.

Warum und wie kam es zum Massenmord an den Juden? Über diese Frage diskutieren Historiker seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aufgrund der erklärten Absicht, die Angehörigen einer angeblich ethnisch definierbaren Gruppe komplett und systematisch auszurotten, handelte es sich um eine singuläres Massenverbrechen. Erklärt dies sich durch Antisemitismus oder Erlösungsvorstellungen, Gewaltfixierung oder Rahmenbedingungen, Totalitarismus oder Vernichtungsutopien?

Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder, Professor an der Yale University und Permanent Fellow am Institut für Wissenschaft vom Menschen in Wien, fügt solchen Deutungen eine weitere Interpretation hinzu. Sein Buch "Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann" macht das Fehlen von Staatlichkeit zur Ursache. Der Autor will damit auch gegen Fehldeutungen argumentieren und schreibt bereits im Prolog: "Wir geben dem Staat die Schuld, doch der Massenmord war nur dort möglich, wo staatliche Institutionen zerstört worden waren" (S. 12).

Der Ausgangspunkt für seine Argumentation bildet die Erörterung von Hitlers Denken, das als "Gesetz des Dschungels" (S. 15) gedeutet wird. Demnach sieht Snyder den Diktator nicht als Anhänger einer Staatskonzeption wenn auch totalitärer Natur. Er schreibt über Hitler: "Damit aus der Anarchie in seinem theoretischen Konzept eine Praxis der Auslösung werden konnte, musste der deutsche Staat umgestaltet und mussten die Nachbarstaaten zerschlagen werden. Damit man den Massenmord an den Juden Europas durchführen konnte, mussten die Staaten zerstört werden, in denen die Juden Bürgerrechte besaßen" (S. 45).

Ganz auf dieser Interpretationslinie rekonstruiert Snyder die Entwicklung des nationalsozialistischen Deutschlands und seiner aggressiven Politik gegenüber den anderen europäischen Staaten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs. So heißt es bezogen auf die Politik gegenüber Polen nach 1939: "Die Annullierung von Staatlichkeit und Recht war keine Formalität, sondern für Millionen von Menschen eine Sache von Leben und Tod" (S. 124).

Dies ist nach Snyder auch im Kontext der Planung des Holocaust von Bedeutung gewesen, heißt es doch bei ihm: "Auschwitz wurde in einer Zone der Staatszerstörung errichtet, nach dem Einmarsch in Polen und im Zuge des Versuchs, die politische Nation Polen auszulöschen" (S. 230). Demnach müsse auch ein anderes Bild von Hitler als Ideologe gezeichnet werden: Für den Autor war er "kein deutscher Nationalist, der sich des deutschen Sieges sicher war und nach einem größeren deutschen Staat strebte. Er war ein in zoologischen Kategorien denkender Anarchist, der an einen wahren Naturzustand glaubte" (S. 262). Nach Snyder hing die Wahrscheinlichkeit, mit der Juden in den Tod geschickt wurden, davon ab, ob die Institutionen staatlicher Souveränität weiterhin vorhanden waren und ob die Staatsbürgerschaft der Vorkriegszeit weiterhin galt. Denn: "Die Politik der Nationalsozialisten zielte bewusst darauf, künstlich einen Zustand der Staatszerstörung herbeizuführen und die Folgen dann gegen die Juden zu lenken" (S. 359).

Snyder legt eine provozierende und ungewöhnliche Deutung eines Menschheitsverbrechens vor. Die Auffassung, wonach eine Erosion der Staatlichkeit als Rahmenbedingung einen herausragenden Stellenwert für den Völkermord hat, bestätigen auch spätere Massenmorde. Gleichwohl kann gegenüber der Einseitigkeit und Pauschalisierung solcher Sichtweisen durchaus Kritik formuliert werden: Denn Snyder berücksichtigt nicht genügend, dass es keine einheitliche Ausrichtung des Staates gibt. So sehr diese Institution eine rationale Konstruktion von Menschen ist, so wenig muss diese notwendigerweise mit Grund- und Schutzrechten für Individuen einhergehen. Darüber hinaus berücksichtigt sein Ansatz nicht, dass gerade die formale Effizienz eines Staates den Völkermord umsetzte. Dass dies dann in einem staatenlosen Kontext geschah, darf nicht zur Blindheit gegenüber diesem Wirkungsfaktor führen. Der Autor ist allzu sehr von seiner eigenen Deutung fasziniert, was ihn anderslautende Gesichtspunkte ausblenden lässt. Mehr Differenzierung hätte der Studie gut getan.

Timothy Snyder, Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann, München 2015 (C. H. Beck-Verlag), 488 S., ISBN 978–3–406–68414–2, 29,95 Euro