Humanitäre Arbeit

Was Menschen tun in Zeiten großer Krisen

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Muhip Ege Çağlıdil in einem Lager für Binnengeflüchtete (Dezember 2014).
Muhip Ege Çağlıdil in einem Lager für Binnengeflüchtete

Muhip Ege Çağlıdil arbeitet in einer Menschenrechtsorganisation, die seit 2003 in Irak tätig ist. Dort leistet er hervorragende humanitäre Arbeit als Menschenrechtsaktivist. Sein Arbeitsvertrag verpflichtet ihn, zurückhaltend mit Informationen über seine Organisation zu sein, um deren Arbeit zu schützen. Für den hpd machte er eine Ausnahme und stand Rede und Antwort.

Muhip Ege Çağlıdil hat bereits in verschiedenen Projekten gearbeitet, unter anderem in von deutscher und internationaler Seite gegründeten bzw. unterstützen Organisationen, wie die GIZ und UNHCR. Seine Aufgaben sind humanitäre Arbeit und Forschungen, bzw. Dokumentationen. Diese Arbeiten betreffen Gruppen von Vertriebenen, Flüchtlinge in der Türkei und kurdischen Regionen Iraks. Jenen, die schutzlos den Aggressionen und Machtgelüsten verschiedener Seiten ausgeliefert sind.

hpd: Betrachten Sie sich als Menschenrechtsaktivist?

Muhip Ege Çağlıdil: Ich habe bereits in diversen Menschenrechtsorganisationen mitgearbeitet, unter anderem bei Amnesty International, die in der Türkei aktiv sind.

Bereits in der Oberschule habe ich mich politisch engagiert und dadurch schon früh erfahren, wie der Umgang mit politischen Oppositonellen und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei aussieht.

Flüchtlingslager beherbergen nur die Hälfte der Vertriebenen Gemeinschaften in der kurdischen Region in Irak (autonome Gebiete), Foto: © M.E. Çağlıdil

Flüchtlingslager beherbergen nur die Hälfte der Vertriebenen Gemeinschaften in der kurdischen Region in Irak (autonome Gebiete), Foto: © M.E. Çağlıdil


2012, während meines Studiums, arbeitete ich als Forschungsassistent an der Ozyegin Universität im Institut für Migrationswissenschaften. Ich hatte dort Gelegenheit, Feldstudien zu leiten, die sich mit den dringendsten Bedürfnissen von Gemeinschaften Geflüchteter (displaced communities) in Kiliz, Mardin und Kayseri befassten. Hauptsächlich hielten sich dort Geflüchtete aus Iran, Syrien und Irak auf. Als die Türkei etwa um 2010 sowohl Aufnahmeland für Geflüchtete wurde als auch ein Land, das Geflüchtete produzierte, bekam die Türkei eine Art Brücken- und Gastgeberfunktion für Geflüchtete aus MENA.

Im Jahr 2012 war das Thema Flucht und Geflüchtete jedoch noch nicht so interessant für westliche Medien, daher konnte ich zunächst keine geeigneten Unterstützer für weitere Forschungen über dringend benötigte Hilfeleistungen bzw. grundlegende Bedürfnisse für Flüchtlingsgruppen in der Türkei finden.

Als ein Land, in dem zwar viele Geflüchtete ankommen, das jedoch zu dem Zeitpunkt keine Gesetze und politischen Strukturen hatte, um den Geflüchteten den notwendigen Schutz sowie Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung zu ermöglichen ist der Leidensdruck der Menschen natürlich immens.

Besonders die Verletzlichsten in den Gruppen, Frauen und Kinder, leiden enorm unter der fehlenden Gesundheitsfürsorge.

Als Mensch, der kompromisslos an die Menschenrechte glaubt, die allen Menschen gleichermaßen zustehen, habe ich mich entschlossen, nach meinem Universitätsabschluss in genau diesem Bereich zu arbeiten und Kampagnen zu organisieren, die die Situation dieser schwächsten und schutzbedürftigsten der Geflüchteten in der Türkei thematisiert.

Binnengeflüchtete leben in halbfertigen Behausungen, manchmal leben 3 Familien in einem Zimmer, Foto: © M.E. Çağlıdil

Binnengeflüchtete leben in halbfertigen Behausungen, manchmal leben 3 Familien in einem Zimmer, Foto: © M.E. Çağlıdil

Was hat Sie bewogen, in diesem herausfordernden Bereich zu arbeiten und was sind die größten Herausforderungen für die Kinder, die aus den Kriegsgebieten geflohen sind?

Viele AktivistInnen und WissenschaftlerInnen wie ich, mit denen ich in den Flüchtlingscamps gearbeitet habe, beschlossen, im Ausland zu studieren oder in der Türkei ihre Studien fortzusetzen. Es gab für mich viele Gründe, die Türkei nicht zu verlassen oder sofort zu promovieren.

Eine Geschichte, die ich erlebte und die Teil meiner Entscheidung war, möchte ich hier erzählen: Es war der Beginn des Jahres 2013, ich leitete eine Forschungsarbeit zum Thema "Minderheiten in Flüchtlingsgruppen" (Gruppen wird hier als Gemeinschaft verstanden, z.B. BewohnerInnen eines Flüchtlingslagers). Dort, in Kayseri, traf ich zwei LGBTI-AktivistInnen aus dem Iran. Als Minderheit einer Minderheit hatten sie mit erschwerten Bedingungen zu kämpfen. Sie hatten kein Einkommen, konnten die Stadt nicht verlassen und konnten nicht einmal unbehelligt auf die Strasse gehen, ohne sexuelle Übergriffe und Angriffe aufgrund der sexuellen Identität zu fürchten. Kayseri ist eine der konservativsten Städte im Südosten der Türkei.

Nachdem wir auf diese bedrohliche Situation aufmerksam machten und mit Hilfe einiger solidarischer Organisationen erreichen konnten, dass diese beiden jungen Menschen in Sicherheit gebracht werden konnten, wurde mir klar, dass diese Fähigkeit, das Leben anderer Menschen positiv zu berühren und Einigen zu ermöglichen, zu leben, sich sicher(er) zu fühlen und ihre Umstände zu verbessern mir momentan wichtiger ist, als an meiner Karriere zu arbeiten. So habe ich mich entscheiden, mit Geflüchteten zu arbeiten und speziell mit den besonders Verletzlichen der inzwischen sehr großen Gruppen von Geflüchteten.

Foto: © M.E. Çağlıdil
Foto: © M.E. Çağlıdil

Den Minderheiten der Minderheiten, die so oft noch unsichtbarer sind und Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind, sowohl von den jeweiligen Gastgeberländern als auch der eigenen Gemeinschaft von Geflüchteten.

Später dann, als ich in länderübergreifenden Projekten arbeitete, in verschiedenen humanitären Nichtregierungsorganisationen, fand ich meinen Platz in der kurdischen Region von Irak, wo ich vor allem mit kriegsbetroffenen Geflüchteten arbeite.

Dies habe ich die letzten 2 Jahre gemacht, Schwerpunkt meiner Arbeit sind hier Binnengeflüchtete (innerhalb des eigenen Landes Vertriebene), besonders Kinder und Frauen, die aus von der IS besetzen Gebieten fliehen konnten. Menschen, die Opfer von schweren Traumata, Gewalt und unaussprechlichen Erfahrungen geworden sind.

Ein wichtiges Thema sind die Kinder in Irak. Es gibt mittlerweile ein gewisses Interesse an der Situation in Irak, vor allem seit der Ausbreitung des islamischen Staates in der Region. Fakt ist leider aber auch, dass seit 2003 Hunderttausende von Kindern abgeschnitten sind von Gesundheitsversorgung, Bildung und Schutz. Diese katastrophale Situation entstand jedoch nicht über Nacht. Nur das Interesse der westlichen Medien erwachte über Nacht, als die die Truppen des IS sich ausbreiteten und für Schlagzeilen sorgten.

In den letzten 10 Jahren endete die Kindheit für irakische Kinder sehr früh durch Kinderarbeit, durch fehlende Schulen und somit fehlende Bildung. Nur Kinder, deren Eltern einen gewissen ökonomischen Status haben, ist es vergönnt, zur Schule zu gehen. Obwohl Millionen von Dollar aus dem Ausland in die neue Regierung in Irak und in die kurdische Region investiert wurden, hauptsächlich in Rahmen des europäischen und US amerikanischen Mission, sind keine nennenswerten Verbesserungen für die Kinder in Irak zu sehen.

Heute ist das Bild von Irak und der Region Kurdistan in Irak nahezu unverändert. Es gibt minimale Verbessserungen für Kinder und andere, besonders schutzbedürftige Gruppen. Die Debatten in Europa drehen sich hauptsächlich um Geflüchtete aus Syrien, während die katastrophale Situation der Binnenflüchtlinge unerwähnt bleiben.

Seit 2014 sind etwa 1 Million Irakis mit Gewalt aus ihren Häusern und Wohnorten vertrieben worden. Es wird geschätzt, dass etwa 10 Millionen Menschen humanitäre Hilfe brauchen, als direkte Folge der Gewalt der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den IS Truppen und den eingesetzten irakischen Regierungstruppen.

Eine Gemeinschaftsküche für 4 Familien während des Winters sind eine große Herausforderung für die Geflüchteten. Foto: © M.E. Çağlıdil

Eine Gemeinschaftsküche für 4 Familien während des Winters sind eine große Herausforderung für die Geflüchteten. Foto: © M.E. Çağlıdil


Nordirak beherbergt eine der größten Gemeinschaften von irakischen Binnengeflüchteten. Die meisten der Geflüchteten wurden von den Truppen des IS vertrieben. Oft befinden sich die Binnengeflüchteten in einer schwierigen Position, weil sie die richtigen Papiere brauchen oder aber weil es zu chaotische Bedingungen sind, um sich ordnungsgemäß anmelden zu können.

Somit können sie keine Unterstützung beantragen, haben keinen Anspruch Gesundheitsleistungen oder bekommen ihre Rente nicht. Auch andere soziale Schutzprogramme kommen für sie nicht in Frage, da sie sich nicht ausweisen können. So ist Nordirak einer großen, komplexen und bisher nicht dagewesenen humanitären Krise ausgesetzt. Abhängig vom Ausmaß der Gewalt und der Intensität der Kriegseinsätze in den kommenden Monaten werden bis zu 13 Millionen Menschen in Irak bis zum Ende 2017 humanitäre Hilfe benötigen.

In Anbetracht dessen ist und bleibt der Zugang zu jenen, die extrem schutzbedürftig sind, eines der wichtigsten Anliegen und auch eine der schwierigsten Aufgaben.

Für viele Irakis wird das Vertrieben-Sein im eigenen Land fortbestehen, sie sind ohne Unterstützung oder grundlegende Hilfsstrukturen. Menschen werden ihre Ersparnisse und Ressourcen erschöpfen. In ihrer Hilf- und Aussichtslosigkeit werden sie gezwungen sein, sich auf den Weg machen, in die Türkei und weiter, nach Europa.

Gibt es etwas, dass die LeserInnen in Deutschland ihrer Meinung nach wissen sollten?

Im August 2014 wurden mehr als 300 jezidische Familien in Sinjar, im Norden von Irak bedroht und gezwungen, sich zwischen Tod und Konvertieren zum sunnitischen Islam zu entscheiden.

Tausende von jezidischen Kindern und Frauen wurden getötet und in Massengräbern verscharrt. Obwohl es Berichte über die Massentötungen gab, scheint es mir, dass nicht genug darüber informiert wird. Es ist wie mit anderen Minderheiten, die oftmals auch innerhalb der Gemeinschaft der geflüchteten Zielscheiben von Isolation und Diskriminierungen sind.

Foto: © M.E. Çağlıdil
Foto: © M.E. Çağlıdil

Da ich die Möglichkeit habe, die Stimmen jener Minderheiten in Irak zu hören, die keine öffentliche Stimme haben, vor allem jene der jezidischen Frauen, die die sexuellen Übergriffe, Vergewaltigungen, die Versklavung und Folter durch ISIS erlebt haben – möchte ich ihre Geschichten erzählen, die von unaussprechlichem Leid und großer Qual berichten.

Da jedoch Worte versagen, wenn es um die Beschreibung solcher Erlebnisse geht, weil es dafür keine Wörter gibt oder nur Andeutungen, bleibt es den Lesern überlassen, zu verstehen, was passiert ist und immer noch passiert, einige 1000 Kilometer entfernt.

Wenn also Worte das wichtigste Instrument sind um etwas zu berichten, und ich bin sicher, dass es so ist, da doch die Mehrheit der Gedanken artikuliert ist durch Sprache so wie auch der Großteil der Interaktion mit der materiellen Welt und allem um uns herum durch Worte ausgedrückt wird, - so war es mir dennoch nicht möglich, die richtigen Worte zu finden, um respektvoll genug und ohne die Schwere der grauenhaften Erlebnisse der Realität der Yeziden zu reduzieren das zu erzählen, was ihnen angetan wurde.

Meiner Meinung nach wird diese Realität, diese Traumata der Menschen, die so eine Gewalt erleben mussten, Auswirkungen auf die Gesellschaft haben.

Vielleicht würde verstärkte humanitäre Hilfe das Leiden in Irak heute lindern und die menschliche Würde erhalten für die Vielen, die darauf angewiesen sind.

Langfristig jedoch brauchen wir dauerhafte Maßnahmen und Lösungen für Kinder und Frauen aus Krisengebieten, auch für Binnengeflüchtete, da für diese die großen Hilfsprogramme der UNHCR schwer zu erreichen sind.

Besonderes Augenmerk sollte auf die Minderheiten der Minderheiten, die Verletzlichsten der Gemeinschaften gerichtet werden, da diese of Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt sind.

Bildung und Schutz für Kinder und Frauen sind die drängendsten Ziele bei der Arbeit in Krisengebieten, um die Würde jener zu bewahren, die die Zukunft sind.

Viele Klassenräume werden für Geflüchtete genutzt, so dass der Unterricht in den kurdischen Gebieten des Nordirak zum Erliegen kommt, ähnlich wie bei der "Turnhallenpolitik" in Deutschland im vergangenen Jahr. Foto: © M.E. Çağlıdil

Viele Klassenräume werden für Geflüchtete genutzt, so dass der Unterricht in den kurdischen Gebieten des Nordirak zum Erliegen kommt, ähnlich wie bei der "Turnhallenpolitik" in Deutschland im vergangenen Jahr. Foto: © M.E. Çağlıdil


Kurzfristige humanitäre Hilfe und Bewaffnung von kurdischen und irakischen Armeen kann für hier und heute Sicherheit gewährleisten, langfristig jedoch brauchen wir Zugang zu Bildung und einer Zukunft, die auf Bildung und Stabilität beruht. Genau das Gegenteil von dem, was Menschen in Irak seit 2003, seit 14 Jahren, erleben.

In den letzten Jahren gelang es einigen sehr engagierten Menschen in Rahmen der humanitären Arbeit, zuständige EntscheidungsträgerInnen zu überzeugen, den Anteil der Investitionen für Bildung zu erhöhen. Besonders das Deutsche Auswärtige Amt hat hier einen entscheidenden Beitrag geleistet, indem der Schwerpunkt nicht in der weiteren Ausstattung mit Waffen (wie es andere Staaten vorzogen) lag sondern im Initiieren von Bildungsprogrammen.

Politische EntscheidungsträgerInnen müssen diese Tatsache einfach erkennen. Wir können nicht den Blick abwenden von der unabdingbaren Notwendigkeit der Bildung für alle Kinder.

Die Fotos, die zu sehen sind, zeigen Kinder, die ihre Einwilligung gegeben haben zur Veröffentlichung und die auch immer wieder fröhliche Gesichter haben, trotz der Dinge, die sie erleben. Ich halte nichts von Fotos, die die geflüchteten Kinder in Irak als rein bemitleidenswerte Opfer zeigen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Interview und Übersetzung: Susan Navissi

Muhip Ege Çağlıdil bei Twitter: https://twitter.com/EgeMuhip