Zur Ethik der Rechtsordnung

(hpd) Die komplexe, kenntnisreiche Abhandlung beginnt mit dem Satz des Vordenkers der Weimarer Reichsverfassung Hugo Preuß: „ubi societas, ibi ius; wo eine Gemeinschaft ist, da ist ein Recht“. Es endet mit dem Satz, der 1948 bei der Vorbereitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland an die Spitze gestellt worden ist: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“

Diese beiden Aussagen bilden den Rahmen des Spannungsfeldes, den der Rechtsethiker Kreß mit seinem Band abhandelt. Beide Aussagen sind richtig, beide Aussagen bilden einen Gegensatz.
 

Kreß hat seine Studie in vier große Kapitel unterteilt, die jeweils in zahlreiche Unterabschnitte aufgeteilt sind und informations- und detailreich sind. Kapitel A widmet sich dem Recht als Kulturgut. Der Autor beschreibt die historische Verbindung zwischen Recht und Religion: In der älteren Kulturgeschichte wurden Rechtsnormen und Gesetze religiös legitimiert, durch Berufung auf göttliche Autorität. Das Verhaftet-Bleiben in religiösen Denkmustern reicht bis ins 20. Jahrhundert hinein, doch einige relevante Begriffe der Staatslehre sind auf profane philosophische Lehren der griechischen und römischen Antike herzuleiten, besonders die Idee der Freiheit, der Menschenwürde oder das Konzept der Demokratie.

Religiöses Partikularrecht

Kapitel B behandelt das „Religionsrecht als Sonderfall der Rechtsordnung. Religiöses Partikularrecht im Verhältnis zum säkularen Rechtsstaat“. Kreß stellt die Problematik des römisch-katholischen Rechtsverständnisses am Beispiel von deren Selbstverständnis, dem Missbrauchsskandal 2010, sowie ausführlicher Erörterung der Problempunkte kirchlichen Arbeitsrechts dar, das die Verrechtlichung von Moral als Sonderrecht beansprucht und damit in die Privatsphäre des Individuums eingreift, was eine Verletzung von Grundrechten darstellt.

Sehr kompetent erscheinen die Ausführungen zum Islamischen Recht, dessen Konfliktlinien Kreß (S. 107ff.) konkret zusammenfasst und im Verhältnis zum säkularen deutschen Rechtssystem darstellt. An einem Praxisbeispiel der multikulturellen Gesellschaft erörtert er weiter hinten (S. 197-199) die Rechtskonflikte um die Einführung von Islam-Studiengängen, abgesegnet vom Wissenschaftsrat am 29.01.2010, die allerdings inhaltliche Problempunkte vollständig ausgeklammert haben. Dies führte zur Entlassung des Professors für Islamische Theologie, Muhammad Sven Kalisch, in dem Moment, als er die historische Existenz des Propheten Muhammad kritisch hinterfragte – eine Kündigung, die nach Kreß jeglicher geltenden Rechtsgrundlage entbehrt, das Postulat der Lehr- und Forschungsfreiheit antastet und sich stattdessen am römisch-katholischen Modell der Erteilung von Lehrbefugnissen orientiere, die inzwischen von den Islam-Verbänden imitiert wird, da es ihren Interessen und Zielen entgegenkommt! Juristisch bewegen sich nach Kreß diese aktuellen Vorhaben, die derzeit umgesetzt werden, „auf dünnem Eis zwischen zwei Einbruchstellen“ (S. 199). Der Konflikt berührt nicht zuletzt die Wissenschaftsfreiheit, die von ihm ausführlich einschließlich neuer Konfliktlinien quer durch wissenschaftliche Disziplinen dargestellt werden.

Mit der islamischen Zuwanderung zeigen sich überwunden geglaubte Konflikte neu, unerwartet und teilweise in verschärfter Form. (Offen bleibt zur Zeit nur, unter wem irgendwann dieses dünne Eis einbricht und wen und was es untergehen lässt; es bleibt zu hoffen, dass es nicht der säkulare zivile Rechtsstaat sein wird, dessen Bürger diese Entscheidungen und Unterfangen ungefragt aus ihren Steuerabgaben bezahlen).

Grundrechte

Kapitel C erörtert den „Normativer Kern der Rechtsethik: Grundrechte“. Teil I widmet sich der „Menschenwürde als normativer Leitbegriff der Rechtskultur“ in der Definition dieses schwammigen Begriffs, der zugleich die Grundlage unserer Ethik und Rechtskultur seit 1949 (Artikel 1 des Grundgesetztes) darstellt (auch wenn Ansätze dazu schon früher, 1919, formuliert wurden), der Problematik desselben, Begründungsalternativen, naturrechtlichen, subjektivitätstheoretischen lebensphilosophischen, phänomenologischen, kulturgeschichtlich-rechtsphilosophischen und pragmatisch-konsensuellen Begründungsoptionen. Klare Konturen erhält der Begriff der Menschenwürde erst durch die konkrete Verknüpfung mit den Menschenrechten als Basis einer gerechten Gesellschaftsordnung. Der Seitenblick auf Christentum und Menschenwürde erläutert ideengeschichtliche Zusammenhänge, darunter auch den anthropomorphen Begriff der „Gottebenbildlichkeit“ in seinem religionsgeschichtlichen Hintergrund. Daran schließt sich die Darstellung der Funktionen des Begriffs „Menschenwürde“ für die heutige Rechtskultur an, im Positiven wie im Negativen. Dies wird ausgiebig, erhellend und umfassend erörtert.

Der zweite Teil widmet sich den Grundrechten im Pluralismus, wobei die Diskussion der Religionsfreiheit und der Wissenschaftsfreiheit einen breiten Raum einnimmt. Ein traditionelles Problem stellt die Relativierung der Wissenschaftsfreiheit durch Kirchen und Religionen dar. Kreß erläutert die Vorbehalte auf römisch-katholischer, evangelischer und islamischer Seite und beschreibt neue Konfliktlinien quer durch die wissenschaftlichen Disziplinen: Durch zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit von Sponsoren, durch politische Abhängigkeiten, durch wissenschaftsinterne Faktoren (z. B. durch das Renommee von Wissenschaftlern von der Anzahl ihrer Publikationen in Ranking-gelisteten Zeitschriften) und durch das Einzelproblem der Patentierbarkeit von Forschungsergebnissen (199ff.).

Anschaulich lässt sich der Konflikt um Rechtsunsicherheiten durch gesetzliche Vorgaben anhand des deutschen Stammzellgesetzes aufzeigen: Die Forschung an humanen embryonalen Stammzellen ist in der BRD nur unter restriktiven Bedingungen zulässig, wozu die Stichtagsregelung gehört. In Deutschland dürfen Stammzelllinien in der Forschung nicht aus dem Inland stammen, sondern müssen aus dem Ausland importiert und dort aus überzähligen Frühembryonen vor einem bestimmten zurückliegenden Stichtag gewonnen werden (202). Damit wird wichtige Grundlagenforschung für toxikologische, medizinische pharmakologische und reproduktionstoxikologische Zwecke beeinträchtigt, obwohl sie hochrangige gesundheitsbezogene Zwecke anstrebt. (Dass dadurch zugleich der Importmarkt – auch der halb- oder nicht-legale – gestärkt wird, verschweigt der Autor: Fehlende Stammzellen für die biologische Grundlagenforschung werden z. B. aus Israel importiert, da dort keine ethisch-religiösen Bedenken zur Nutzung von Embryonalzellen bestehen, was mit dem religiös begründeten Beseelungsgedanken im Judentum zusammenhängt; Anm. d. Autorin). 

Funktionen der Rechtsordnung

Kapitel D beschreibt die „Funktionen der Rechtsordnung“. Dies schließt einen weiten Spielraum des Einzelnen zur Wahlfreiheit in weltanschaulichen Dingen, aber auch medizinischen, bioethischen und sonstigen Bereichen mit ein. Primär geht es jedoch um die Wahrung und Stabilisierung von Gerechtigkeit, wobei die Rechtsordnung folglich primär eine Schutzfunktion für Grundrechte hat.

Kreß fügt eine ausführliche Diskussion des Toleranzbegriffs unter verschiedenen Gesichtspunkten ein, was zur Verhältnisbestimmung zwischen rechtlicher Normsetzung und individuellen wie kollektiven Spielräumen sehr hilfreich erscheint. Sehr wichtig sind die Erläuterungen zur medizinischen Versorgung von Zugewanderten, wo sich eine staatliche Versorgungslücke auftut, da die Mehrheit der deutschen niedergelassenen Ärzte nicht in der Lage ist, eine muttersprachliche oder kulturell-verständnisvolle Begleitung und Versorgung durchzuführen (269f.). Hier tut sich, neben der Versorgungslücke, ein eingeschränkter Toleranzspielraum für unterschiedliche Heilsysteme und möglicherweise ein Berufsfeld für entsprechend Ausgebildete (einschließlich einheimischer Spezialisten, wie z. B. Medizinanthropologen und Kulturanthropologen) auf. Zugleich wirft es die dringende Frage nach standardisierter Qualitätsprüfung im Medizin- und Gesundheitssektor als staatlicher Verantwortung auf.

Grundrechte des Individuums

Das Resümee am Ende fasst zusammen, dass der säkulare Rechtsstaat kein Obrigkeitsstaat ist und keine gottgewollte Ordnung vertritt, sondern die persönlichen Grundrechte des Individuums als Fokus hat. Damit endet Kreß bei der Vorbereitung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland 1948, die nach der Erfahrung mit der Rechtsordnung des Dritten Reiches und dessen Vorgeschichte nun eindeutig Position für eine säkular-zivile Rechtsordnung bezieht, in dem der größtmögliche Spielraum des Einzelnen einer Gesellschaft als hohes Ziel den größten Schutz genießt. Er schließt damit den eingangs begonnenen Kreis wieder mit dem Fazit, dass die Rechtsgüter der größtmöglichen individuellen Freiheit und des dazugehörigen Spielraums das schützenswerteste Gut unserer Gesellschaft ist, an dem sich andere Güter messen lassen und an ihm abgewogen werden müssen. Auch wenn eine Gemeinschaft, insbesondere eine neue oder zugewanderte, ein Recht schafft, hat sie nicht dasselbe, das bestehende abzuschaffen. Genau hier liegen die Grenzen, die ausgelotet werden müssen.

Trotz der komplexen Thematiken liest sich diese Studie insgesamt recht verständlich und ist daher äußerst empfehlenswert, zur eigenen Orientierung ebenso wie zur eigenen und übergeordneten Positionsbestimmung in entsprechenden Wissenschafts- und Lebensbereichen.

Assia Maria Harwazinski

 

Hartmut Kreß, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart, 2012, ISBN 978-3-17-018670-5, Preis: 29,90 EURO.