(hpd) Der französische Historiker Pierre Rosanvallon schildert die ideen- und realgeschichtliche Entwicklung der Gleichheitsvorstellungen in den westlichen Demokratien. Seine Warnungen vor einem Auseinanderdriften der politischen und sozialen Ebene von Demokratie verdienen Beachtung, mitunter fehlt es aber an der notwendigen Klarheit und Präzisierung.
„Als System gedeiht die Demokratie in dem Augenblick, da es mit ihr als Gesellschaftsform bergab geht“ (S. 9). Mit diesem Satz beginnt Pierre Rosanvallon, Professor für Neuere und Neueste Politische Geschichte am Collège de France, sein Buch „Die Gesellschaft der Gleichen“. Er geht damit von einem Auseinanderdriften von einerseits der Anerkennung gleicher Grundrechte für die Bürger und andererseits der Erosion der sozialen Gleichheit der Bürger aus: „Während die politische Bürgerschaft sich auf dem Vormarsch befindet, schwindet sie als soziale Körperschaft dahin. Dieser Riss, der durch die Demokratie geht, ist das herausragende Faktum unserer Zeit und birgt die größten Gefahren. Sollte er sich vergrößern, könnte das demokratische System selbst am Ende ins Wanken geraten. Die Zunahme der Ungleichheiten ist zugleich Indikator und treibende Kraft dieser Entwicklung“ (S. 9). Demokratie kann in der Tat nicht nur von außen, sondern auch von innen heraus einem Auflösungsprozess seiner sozialen Grundlagen ausgesetzt sein.
Genau diese Problemwahrnehmung macht Rosanvallons Arbeit bedeutsam. Entsprechend seines beruflichen Hintergrundes als Historiker nähert er sich dem Thema nicht über eine aktuelle, sondern über eine geschichtliche Perspektive. Dabei fällt sein Blick zunächst auf „Die Erfindung der Gleichheit“ (S. 21), wofür vor allem Entwicklungen im Kontext der Amerikanischen und Französischen Revolution verantwortlich gemacht werden. Sie hätten in Fortsetzung von aufklärerischen und christlichen Prägungen den Weg für eine gesellschaftliche Umsetzung egalitärer Prinzipien auch über die Grundsätze Ähnlichkeit, Staatsbürgerschaft und Unabhängigkeit gesorgt. Der Autor idealisiert hier nicht und verweist sehr wohl auf die Koexistenz von Gleichheit und Rassismus in den damaligen USA. In den beiden folgenden Jahrhunderten habe es dann „vier große Entwürfe zur Neubestimmung des Gleichheitsideals“ (S. 107) gegeben: die liberal-konservative Ideologie, den utopischen Kommunismus, den Nationalprotektionismus und den konstitutiven Rassismus.
Das 20. Jahrhundert deutet Rosanvallon dann als „Das Jahrhundert der Umverteilung“, wofür etwa der Aufbau von Versicherungsmechanismen, die Errichtung von Verfahren kollektiver Vertretung von Arbeiterinteressen und die Einführung der progressiven Steuer stünden. Er meint in diesem Kapitel aber auch: „ ... das NS-Regime legitimierte sein Handeln im Namen einer zwar pervertierten, aber theoretisch exakt begründeten Auffassung von Gleichheit“ (S. 234). Hier arbeit der Autor mit einem Gleichheitsverständnis, das mehr an der ethnischen und politischen Homogenität und weniger an der sozialen und wirtschaftlichen Verteilungsregelung orientiert ist. Dabei geraten ihm aber die Dimensionen durcheinander. Danach vollzieht Rosanvallon den Sprung in die Gegenwart, wofür er eine „Gesellschaft der Singularität“ (S. 259) und eine „totale Konkurrenzgesellschaft“ (S. 286) konstatiert. Die Idee der radikalen Chancengleichheit trage - und diese Argumentation verdient genaue Beachtung - nicht zur „Erneuerung des Gleichheitsgedankens“ (S. 299) bei.
Am Ende skizziert der Autor im Sinne eines Entwurfs die theoretischen Grundlagen einer Gesellschaft der Gleichen: „ ... ist aufgekündigte Reziprozität die Ursache sozialen Misstrauens und folglich des Widerstandes gegen eine solidarische Entwicklung, so ist ihre Wiederherstellung die vordringlichste Aufgabe ...“ (S. 326). Er macht in diesem Kontext auch darauf aufmerksam, dass keinesfalls einen Gegensatz von Freiheit und Gleichheit bestehe, es handele sich eher um den Ausdruck „einer notwendigen Gegenseitigkeit“ (S. 349). Allgemein sei eine „Renationalisierung der Demokratien (verstanden als Stärkung des Zusammenhalts ihrer Angehörigen in Verbindung mit ihrer Wiederaneignung des Politischen)“ (S. 354) notwendig. Diese Formulierung darf man nicht im Sinne einer Ethnisierung des Politischen falsch verstehen. Gleichwohl verdient schon Kritik, dass je näher der Historiker Rosanvallon in seiner Darstellung der Gegenwart kommt, je mehr mangelt es an Klarheit und Präzisierung. Sein Problemaufriss und seine Reflexionen bleiben indessen aktuell und lesenswert.
Armin Pfahl-Traughber
Pierre Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen. Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt, Hamburg 2013 (Hamburger Edition), 384 S., 33 €.