Rezension

Barmherzigkeit und Nächstenliebe sollen am Lebensende nicht mehr gelten

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Edgar Dahl hat ein Plädoyer für den ärztlich assistierten Suizid verfasst. Das Buch ist nicht sehr umfangreich, aber voll mit Informationen und guten Argumenten. Uwe Lehnert hat es gelesen.

Unsere Verfassung definiert schon in Artikel 2: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt." Auch die weiteren Artikel der Grundrechte erläutern sehr klar, was wir heute unter persönlicher Selbstbestimmung verstehen.

Was "gegen das Sittengesetz verstößt", das allerdings legen in Deutschland immer noch die Kirchen fest. Nicht nur direkt, auch über ungezählte ihnen ergebene Vertreter in der Politik und im Bundestag, wo die Gesetze beschlossen werden. Es zählt offenbar nicht, dass unser Grundgesetz den weltanschaulich neutralen Staat vorschreibt, es zählt auch nicht, dass etwa 40 Prozent der Bevölkerung sich inzwischen als konfessionsfrei bezeichnen, und dass darüber hinaus nachweislich deutlich mehr als die Hälfte auch der Kirchenmitglieder ihr Leben eher nach säkular-humanistischen Werten ausrichten als nach jenen der christlichen Lehre. So passt es auch ins Bild, wenn ein katholischer Bundesminister sich über ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Vergabe von Medikamenten an sterbenskranke Menschen souverän hinwegsetzt.

Cover

Papst Franziskus hat sich in diesen Tagen gegen "Zugeständnisse an wie auch immer geartete Formen der Euthanasie, des assistierten Selbstmordes oder der Beendigung des Lebens" gewandt. Euthanasie meint Erleichterung des gewollten Sterbens durch Medikamente, insbesondere bei unheilbar Kranken. Papst und Kirche stellen aber mit dem Begriff Euthanasie wohl ganz bewusst, aber in unredlicher Absicht die Assoziation her zum nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm angeblich unwerten Lebens.

Edgar Dahl legt hier ein absolut lesenswertes Buch zur Problematik der assistierten Sterbehilfe vor. Lesenswert einerseits des bedeutsamen und aktuellen Themas wegen, der zwingenden Logik der Argumentation, auch der Klarheit des Aufbaus und der Sprache und schließlich der Überzeugungskraft des vorgestellten Vorschlags wegen für das Problem, ein nicht mehr als lebenswert empfundenes Leben in Würde abzuschließen.

Das Buch beginnt mit einer kurzen Geschichte des Freitods. Man erfährt, dass schon die Griechen und Römer offen über das Thema Sterbehilfe im Alter sprachen und dafür auch Lösungen diskutierten und in Anspruch nahmen. Mit dem Aufkommen des Christentums wandte sich allerdings die Kirche recht bald gegen "Selbstmörder" und verweigerte ihnen ein kirchliches Begräbnis und sogenannte Fürbitte-Gebete. Aufgrund der schon damals engen Beziehung zwischen Kirche und Staat übernahm dieser die kirchlichen Regeln und machte sie zu allgemein gültigen Gesetzen. Widerspruch kam über die Jahrhunderte von Seiten vieler bekannter, diesbezüglich fast immer ignorierter Philosophen. Lediglich Voltaire war es gelungen, Friedrich den Großen zu veranlassen, die Selbsttötung als Straftat aus dem Gesetzbuch zu streichen.

Der Autor berichtet sodann über die Erfahrungen des ärztlich assistierten Suizids im US-Staat Oregon. Das dieser Praxis zugrunde liegende Gesetz ist 1997, also vor 22 Jahren, gegen den erbitterten Widerstand des Weißen Hauses eingeführt worden. Die Bedenken in Bezug auf den befürchteten Missbrauch, die seinerzeit von politischer, religiöser und medizinischer Seite geäußert wurden, sind sämtlich nicht eingetreten. Die positiven Erfahrungen mit dem Gesetz führten im Gegenteil dazu, dass eine ganze Reihe weiterer US-Bundesstaaten solche Gesetze erließen.

Oft genannte Gründe, wenn sterbenskranke Menschen den Wunsch nach ärztlicher Sterbehilfe äußerten, lauteten: "Verlust der Selbstständigkeit", "Verlust der Würde" und "Verlust der Fähigkeit, Dinge zu tun, die das Leben lebenswert machen".

Der Autor weist der Kirche anhand ihrer eigenen Aussagen im Katechismus der Katholischen Kirche nach, dass sie gegen ihre eigene offizielle Lehrmeinung verstößt. Nach dieser Lehre hat Gott den Menschen als freies, selbstbestimmtes Wesen nach seinem Bild erschaffen. Dieser Gott wiederum wird als barmherzig und verzeihend bezeichnet. Zusammen mit der geforderten Nächstenliebe ergäbe sich daraus – so der Autor – ein christliches Argument für den ärztlich assistierten Suizid eines sterbenskranken, an unerträglichen Schmerzen und am Verlust seiner Würde leidenden Menschen. Aufgrund vieler Umfragen ist bekannt, dass auch die große Mehrheit der in Deutschland lebenden Christen Sterbehilfe befürwortet. Die Kirchen und ihre Bischöfe dagegen verweisen darauf, dass nur Gott zu entscheiden habe, wann ein Leben beendet sei und verlangen von ihren Gläubigen, strikt auf jede Form der Sterbehilfe zu verzichten. Nicht selten wird von streng Gläubigen die Auffassung vertreten, dass ein Sterbender wie Jesus am Kreuz zu leiden habe.

Auch die Vertreter der Bundesärztekammer fordern und verlangen in ihren Richtlinien, den ärztlich assistierten Suizid zu verbieten. Er sei mit dem ärztlichen Ethos, insbesondere mit dem Eid des Hippokrates, nicht vereinbar. Der Autor weist aber darauf hin, dass dieser Eid nicht nur Tausende von Jahren alt ist, sondern auch aus Gründen der Entwicklung der Medizin schlicht überholt ist. Auch das sogenannte Genfer Gelöbnis von 1948 befriedigt unter anderem wegen begrifflicher Unschärfe nicht. Der Autor schlägt eine andere Formulierung für ein ärztliches Gelübde vor und geht dazu zunächst von den Aufgaben des Arztes aus. Diese seien herkömmlicher Weise Prävention, Diagnostik und Therapie. Damit allerdings sei das Problem der Hilfe am Lebensende wiederum nicht erfasst. Deshalb erscheint es ihm viel angemessener, die Aufgabe des Arztes beziehungsweise der Medizin ganz generell "in der Linderung menschlichen Leids" zu sehen. "Denn" – so der Autor – "ein Arzt, der einem terminal erkrankten Patienten die Bitte erfüllt, auf eine weitere Therapie zu verzichten und ihm ein tödliches Medikament zu verschreiben, lindert seine Leiden und achtet seine Selbstbestimmung."

Schließlich befasst sich der Autor eingehend mit einer Reihe üblicher sozialethischer Einwände, die von Bedenkenträgern regelmäßig vorgebracht werden. Zum Beispiel, dass sich ein "Recht zu sterben in eine Pflicht zu sterben verwandeln" könnte oder dass es zu einem "Dammbruch missbräuchlicher Anwendungen" kommen könnte, wenn der assistierte Suizid zugelassen würde. Alle diese Bedenken werden überzeugend entkräftet und widerlegt, nicht zuletzt aufgrund der jahrelang gemachten Erfahrungen im US-Staat Oregon. Im Gegenteil – es lässt sich belegen, dass die verschiedenen Formen illegaler Sterbehilfen zum Verschwinden gebracht wurden, dort nämlich, wo Sterbehilfe erlaubt, aber gesetzlich geregelt ist. Erwähnenswert ist, dass die Diskussion um die Sterbehilfe generell zu einer Verbesserung der Palliativversorgung geführt hat. Dies deshalb, weil die Gegner der Sterbehilfe behaupteten und nachweisen wollten, dass eine angepasste medizinische Versorgung mit Schmerzmitteln am Lebensende völlig ausreichen würde. Das stimmt zwar nicht, weil erstens nicht alle Arten von Schmerzen tatsächlich befriedigend bekämpft werden können, zweitens der Wunsch nach Beendigung eines nicht mehr als lebenswert und als unwürdig empfundenen Lebens dennoch bestehen kann. Immerhin ist aufgrund dieser Auseinandersetzung die Schmerzversorgung weiter vervollkommnet worden.

Zum Schluss hält der Autor ein überzeugendes Plädoyer zunächst für die Abschaffung des derzeit noch bestehenden Paragrafen 217, der die sogenannte geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe stellt. Ein Gesetz, das das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen am Lebensende eindeutig missachtet. Das Gesetz ist, wie der Autor argumentiert, auch in sich unlogisch. Wenn Selbsttötung erlaubt ist, warum ist dann Hilfe zur Selbsttötung verboten. Und weiter: Wenn eine einmalige Beihilfe zum assistierten Suizid noch akzeptiert wird, warum ist dann die wiederholte Beihilfe strafbar.

Das Buch schließt mit einem detaillierten und kommentierten Vorschlag zur Beihilfe zum Freitod. In Anlehnung an die zwei Jahrzehnte Erfahrung des US-Bundesstaates Oregon formuliert der Autor sieben Bedingungen, die zu beachten sind und alle Einwände gegen die missbräuchliche Inanspruchnahme dieses Gesetzes berücksichtigen. Zu diesen Bedingungen gehören zum Beispiel die Volljährigkeit und Urteilsfähigkeit des Patienten, Gutachten von zwei unabhängigen Ärzten über die tatsächlich vorliegende schwere, unheilbare und bald zum Tode führende Krankheit, eine zwischenzeitliche Bedenkzeit für den Patienten von 15 Tagen. Es handelt sich um einen Gesetzesvorschlag, der das Selbstbestimmungsrecht eines Bürgers in einem freiheitlichen Rechtsstaat im Sinne unseres Grundgesetzes ernstnimmt und dem Gedanken einer Trennung von Staat und Kirche endlich Rechnung trägt. Denn der maßgebliche Widerspruch gegen die Beihilfe zur Lebensbeendigung in solchen dramatischen Lebenssituationen kommt von den Kirchen. Die Mehrheit der Bevölkerung dagegen, das zeigen alle Umfragen, denkt viel humaner als jene, die zwar Barmherzigkeit und Nächstenliebe predigen, aber diese in entscheidenden Lebenssituationen aus dogmatischen und weltfremden Gründen dem leidenden Menschen kaltherzig verwehren.

Fünf Sterne für dieses hoch informative und für ein würdevolles Lebensende argumentierende Buch!

Edgar Dahl: Mein Leben, mein Tod, meine Entscheidung – Ein Plädoyer für den ärztlich-assistierten Suizid. NIBE Media Alsdorf 2019, 150 S., ISBN 978-3-96607-043-0, 14,95 Euro

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