„Europas christliche Wurzeln"

Von der kontinuierlichen Wirksamkeit eines Mythos.

Ein Beitrag von Johannes Neumann.

Wenn man durch manche Gegenden Frankreichs fährt, hat man oft den Eindruck, dieses Land habe eine durchaus christliche Tradition, denn Ortschaft um Ortschaft trägt die Namen von Heiligen: St. Malo, St. Breuc, St. Nazaire, St. Denis u.s.w.

Frankreich, das Kernland Europas, also ein christliches Land? Die Heiligennamen vermitteln einen falschen Eindruck – und zwar aus doppeltem Grund: Einmal sind viele dieser christlichen Gedenkstätten auf alten vorchristlichen Kultstätten errichtet, um deren historische Wirksamkeit und Erinnerung auszulöschen. Und zum anderen reichen die Namenswurzeln vieler anderer Städte - wie im übrigen Europa auch - in die Frühzeit keltischen, germanischen und slawischen Ursprungs zurück.

Die Christen haben die Auslöschung der Erinnerung an das, was vorher war, perfektioniert. So wurden nicht nur alte Kultstätten zerstört und ihre Schändung als rühmenswerte Heldentaten hingestellt, wie etwa das angebliche Fällen der Donarseiche durch Winfried Bonifatius, sondern auch die Repräsentanten der alten Kultur, etwa die Mathematikerin Hypathia, mit ihren Werken vernichtet.
Die Christen betrieben die Vernichtung aller vorchristlichen kulturellen Zeugnisse so gründlich, dass von vielen Schriften oft nicht einmal eine Ahnung mehr vorhanden war. Die großen europäischen Denkleistungen wären vergessen, hätten nicht islamische Gelehrte die wenigen Texte, die wir aus unserm griechisch-römischen Erbe kennen, überliefert. Von vielen alten Schriften wissen wir auch heute noch nur andeutungsweise etwas, weil christliche Apologeten daraus zitieren.

Zur gegenwärtigen Situation

Der Papst und seine Gefolgsleute fordern zwar unverdrossen weiterhin - auch nach dem vorläufigen Stillstand der Verfassungsfrage -, aber doch recht zahm die direkte Bezugnahme auf Gott. Von diesem vordergründigen Streit fast überdeckt hatte die Kirche jedoch - nahezu unbemerkt - erreicht, was rechtlich wesentlich mehr zählt als die bloße Erwähnung Gottes in der Präambel.

Der Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 lautet: Art. 6 (1): Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedstaaten gemeinsam.
(2) Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 04. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.
(3) Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliederstaaten ...". - Diese Formulierungen dürften in ihrer Unverbindlichkeit und Vagheit kaum zu überbieten sein.

Die Elfte Erklärung zur Schlussakte des Vertrags von Amsterdam vom 2. Oktober 1997 fügte unter Ziffer 11 eine „Erklärung" ein „zum Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise." Dadurch, dass die „weltanschaulichen Gemeinschaften" gesondert erwähnt werden, sind sie deutlich von der „Kirchen und Religionsgemeinschaften" abgesetzt und bilden so mit eine eigene Spezies.

Diese Texte relativieren aus Rücksicht auf die je eigenen Traditionen und die Identität der Mitgliedsstaaten die konkreten Rechte nicht unwesentlich: Sie statuieren oftmals kein unmittelbar anwendbares Recht für den einzelnen Menschen. - Was beinhaltet die Formulierung „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht." Bedeutet das, dass dort, wo noch Staatskirchen existieren, diese zur nationalen Identität der jeweiligen ihrer Mitgliederstaaten gehören?

Die Aussage, die Union „beeinträchtige den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, nicht", bedeutet, dass Macht und Einfluss religiöser Institutionen allein aus dem regionalen Herkommen zu bestimmen sind. Es ist zu hoffen, dass die Europäischen Gerichtshöfe aus den vorhandenen Andeutungen im konkreten Fall neues, weitergehendes, die Individuen schützendes Recht sprechen oder gar setzen werden.

Auf jeden Fall sind damit die Kirchen erstmals in einem europäischen Vertragswerk genannt. Darin sehen kirchliche Juristen einen ersten Ansatz für ein „Europäisches Staatskirchenrecht". Die Kirchen haben mit dieser Erwähnung ein erstes Etappenziel erreicht. Sie sind in Europa angekommen. In diese Richtung geht auch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 26.10.2000, die erstmals die korporative Religionsfreiheit ausdrücklich anerkennt. Damit sind die Religionsgesellschaften nicht nur als Zusammenschlüsse von Individuen, sondern als Institutionen grundrechtlich geschützt.

Diese weithin unbemerkte rechtliche Festschreibung der Position der Kirchen ist diesen wichtiger als die Nennung Gottes in der Präambel. Damit haben sie mehr erreicht, als sie anfänglich zu hoffen wagten. Das ist die Frucht höchst effizienter Lobbyarbeit der Europäischen Bischofskonferenz und der verschiedenen akkreditierten Katholischen Büros und der Regierungen einiger Länder, allen voran Deutschlands. Das religiöse, vor allem katholische Gewicht in Europa, wird durch das Hinzukommen der Beitrittsländer vom 01. Mai 2004 noch verstärkt.

Zusammenfassung und Ausblick

Seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 sind deren Grundsätze und Gedanken Gemeingut aller zivilisierten Staaten geworden. Die meisten Verfassungen haben heute deren wesentlichste Aussagen übernommen. Art. 1 der Charta geht aus von der allen Menschen eigenen gleichen Würde, ihrer Vernunft und ihrem Gewissen. Daraus folgert Art. 2, dass jeder Mensch ohne Rücksicht auf Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte habe. Art. 18 sichert den Anspruch auf Gedanken, Gewissens-, Religions- und Bekenntnisfreiheit.

Allerdings sind diese Grundsätze und Rechte weithin schöne Anmutungen geblieben. Wenn wir uns klar machen, dass die Welt seit jener Zeit keineswegs besser, sicherer oder gerechter geworden ist, dass im Gegenteil trotz dieser Erklärung in fast allen Teilen der Welt das große Morden erst richtig begann, dann wissen wir, dass noch so gut gemeinte Erklärungen und Verfassungen allein die Welt nicht zum Guten zu verändern vermögen. Gleichwohl sind sie die Voraussetzung dafür.

Auch die Beitrittsländer haben nach dem Ende sowjetischer Hegemonie diese Rechte in ihre Verfassungen aufgenommen. Doch das sagt, wie wir andeutungsweise (Polen und Slowakei) gezeigt haben, wenig aus über die tatsächliche Handhabung des Rechts. Es zeigt aber, dass auch, wenn die Rechtstradition zeitweilig unterbrochen war, die Grundrechte - wenigstens dem Prinzip nach - allgemein anerkannt werden.

Der Wunsch, in die EU aufgenommen zu werden, hat in manchen Ländern zu einem beachtlichen Schub an Ergänzungen und Konkretisierungen geführt. Was in diesem Überblick nicht gezeigt werden konnte, das sind die vielen - oft notwendigen - unterverfassungsrechtlichen Gesetze zur Regelung besonderer Verhältnisse z.B. Eheschließungs- und Scheidungsrechte, die Ordnung des Religionsunterrichts, der Militär- und Anstaltsseelsorge, die Regelung des Umgangs mit sprachlichen Minderheiten und deren positive Förderung.

Die religiösen Kräfte, vor allem die katholische Kirche, aber auch die Orthodoxie und das Luthertum, dort, wo sie eine gesellschaftliche Rolle spielen, wollen den christlichen Gottesstaat, die Einheit von Kirche und Staat wieder herstellen.

Viele Probleme, die in den Beitrittsländern nicht gelöst sind, werden auch zu uns kommen:
Die Hilflosigkeit etwa im Umgang mit Minderheiten und deren andersartigen Mentalitäten: man denke nur an die Roma; an religions-, arbeits- und wirtschaftsrechtliche Regelungen und dgl. mehr. Das sind keineswegs Randbereiche, sondern sie zielen ins Zentrum des Verständnisses eines freien und egalitären Europa. Dabei wird offenkundig, dass kirchenfreundliche Gesetze - wie in Polen, Slowakei oder auch Litauen - keineswegs eine friedliche, korruptions- und gewaltfreie Gesellschaft schaffen. Im Gegenteil, dadurch, dass sie bestimmte Gruppen privilegieren, säen sie Zwietracht, Machtkämpfe und Korruption. Das veranlasst zu fragen, welche Faktoren wirklich das Klima einer Gesellschaft prägen. Das aber wären weitere Themen.

Die religionspolitische und religionsrechtliche Lage, wie sie sich in den Verfassungen der 25 Mitgliedstaaten widerspiegelt und in den Ausführungen zum Grundrecht der Glaubens- und Religionsfreiheit, das Schulwesen und die Zuordnung von Staat und Kirche niederschlägt, zeigt ein höchst uneinheitliches Bild. Dieses Bild würde noch verwirrender, wenn wir die einfachen Gesetze, Verordnung und Üblichkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten, die dem Außenstehenden oft nur schwer zugänglich sind, in unsere Erwägungen einbeziehen würden.

Noch verwirrender würde es, wenn wir die emotionalen, demografischen und auf Anhieb schwer durchschaubaren soziologischen und politischen Zusammenhänge berücksichtigen wollten. Hier laufen formale Norm, lautstarke Forderung, politische Proklamation, unbeachtete Volksmeinung, tatsächliches Verhalten und öffentliche Wahrnehmung oftmals nicht nur durcheinander, sondern auch gegeneinander.

Insgesamt hat sich die juristische und finanzielle Position der Kirchen in den zehn Beitrittsländern verbessert. Da Geld politischen wie gesellschaftlichen Einfluss bedeutet, bleibt die weitere religionspolitische Entwicklung dort abzuwarten. Ich fürchte jedoch, dass die rechtliche Absicherung - vor allem der Katholischen Kirche - den notwendigen gesellschaftlichen Wandel in diesen Ländern verzögern und die religiösen Institutionen von einer - auch - dort zu erwartenden Dechristianisierung unabhängig werden lassen. Ähnlich wie in Deutschland.

Dabei zeichnet sich gegenwärtig in allen Gesellschaften ab, dass die unsichere wirtschaftliche Lage Ängste schürt, die ihrerseits der Religion zuarbeiten. Allerdings muss das nicht unbedingt die christlich-kirchliche sein!

Der Mythos vom „christlichen Europa" lebt davon, dass Viele gedankenlos diese Formel nachplappern. Mythen, einmal ausgesprochen und geglaubt, entfalten eine eigene Dynamik. Sie schaffen sich ihre Realität. Wohin Europa jedoch kommen sollte, hat Michel Rocard, ehemaliger französischer Premier und Abgeordneter im Europäischen Parlament, auf den Punkt gebracht. Er sagte: „In Europa ist die Freiheit der Gedanken und der Religion unantastbar. Die Werte der Aufklärung und des politischen Pluralismus sind institutionelle Säulen der EU. Daraus erwächst die Stärke des europäischen Modells. ... In Europa ist das Volk der Souverän, keine transzendentale Macht." - Lassen sie uns an diese „säkulare Mission Europas" glauben, damit auch sie zum gestaltenden Mythos eines freiheitlichen und humanistischen Europa werde.

 

(Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung des gleichnamigen Aufsatzes von Prof. Dr. Johannes Neumann aus dem Jahre 2004, der nach wie vor aktuell ist. Er ist in Vollversion im Archiv der Humanistischen Akademie vorhanden und kann von dort herunter geladen werden.)