Michael Ingber antwortet auf Volker Beck

Es fehlt der Mut, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen

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Michael Ingber
Michael Ingber

BERLIN. (hpd) Zum 3. Jahrestag des Kölner Landgerichtsurteils zu Knabenbeschneidungen sind - wie schon in den vergangenen Jahren - Aktivitäten zum Schutz von Kindern geplant. Der hpd sprach mit dem Historiker, Politikwissenschaftler und Judaisten Michael Ingber über die Reaktionen auf diese Ankündigung.

In Köln soll am 7. Mai - mittlerweile der "Weltweite Tag der genitalen Autonomie" - eine Demonstration mit Kundgebungen stattfinden, die vor dem Landgerichtsgebäude beginnt. Ein breites Bündnis ruft zu dieser Manifestation zum "Schutz aller Kinder weltweit vor jeglicher Verletzung ihrer körperlichen und sexuellen Integrität" auf. Offenbar Grund genug für die Jüdische Allgemeine, sich hiermit zu befassen.

Die Jüdische Allgemeine erwähnt den Anlass der geplanten Kölner Aktivitäten und verweist darauf, dass das Bündnis "in dem Kölner Urteil bis heute ein Symbol für die Selbstbestimmungsrechte des Kindes, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion und Tradition" sehe, das "auch Jungen das Recht auf genitale Selbstbestimmung zugesprochen" habe. In dem Artikel wird darauf verwiesen, dass "neben obskuren Kleingruppen" u.a. auch Terre des Femmes Deutschland, pro familia Nordrhein-Westfalen, die Giordano-Bruno-Stiftung und die Piratenpartei Deutschland den Aufruf unterstützten.

Verschwiegen wird den Lesern allerdings, dass auch die jüdisch-israelische Organisation "Protect the Child" ("Gonnen Al Hayeled") den Aufruf unterstützt. Es handelt sich dabei um eine Organisation, die seit mehreren Jahren in Israel tätig ist, sich gegen die Knabenbeschneidung im Säuglings- und Kindesalter ausspricht, jüdische Eltern berät und für symbolische Rituale plädiert. Ihr Vorsitzender, der jüdische Israeli Eran Sadeh, hatte anlässlich der Beschneidungsdebatte des Jahres 2012 wiederholt deutlich gemacht, dass die Debatte über Beschneidung in Deutschland nicht mit Hinweis auf das Leiden der Juden in der Shoah unterdrückt werden dürfe.

Dass die Jüdische Allgemeine diese jüdische Stimme aus Israel - die nicht die einzige aus der jüdischen Community weltweit ist, die sich gegen Beschneidungen von Minderjährigen einsetzt – unerwähnt lässt, ist offensichtlich ein Zeichen der Schwäche der Beschneidungsbefürworter. Denn in der jüdischen Community wird diese Thematik – entgegen den Wünschen der Traditionsbewahrer – weiterhin lebhaft diskutiert. Gegen Kinderrechtler lässt sich wohl besser polemisieren, wenn verschwiegen wird, dass es auch im "eigenen Lager" Stimmen gibt, die von der Tradition abweichen wollen.

Kritik am Aufruf lässt der Artikel in der Jüdischen Allgemeinen den Bundestagsabgeordneten Volker Beck (Grüne) üben, der bereits 2012 dem Beschneidungsgesetzentwurf der Bundesregierung zugestimmt hat. Womöglich erschien es den Verfassern bedeutsam, Volker Beck (als quasi offizielle Stimme der Grünen) zu erwähnen, nachdem der "Bundesweite Arbeitskreis Säkularer Grüner" Anfang März einen Beschluss zur Unterstützung des Kölner Aufrufs gefasst hatte. Bis heute haben es die Grünen vermieden, sich mit dem Thema "Knabenbeschneidung aus religiösen und traditionellen Gründen" auseinander zu setzen (obwohl 2012 der damalige grüne Bundesvorstand um Claudia Roth entsprechende Zusagen gemacht hatte). In der Öffentlichkeit treten zu diesem Thema nur noch solche Grüne wie Volker Beck auf, die religiösen Ritualen aufgeschlossen gegenüber stehen und die Frage der Menschenrechte von Kindern (in der Abwägung mit religiösem Brauchtum) negieren.

Der hpd hat mit Michael Ingber über den Artikel in der Jüdischen Allgemeinen und die Äußerungen von Volker Beck gesprochen. Der Historiker, Politikwissenschaftler und Judaist ist - aus einer jüdischen Familie stammend und selber beschnitten - im Zusammenhang mit der Beschneidungsdebatte zur Ablehnung von Beschneidungen an Minderjährigen gelangt. Ingber, der etwa 35 Jahre in Israel und Palästina gelebt hat, gehört zur jüdischen Community; er kennt Beschneidungen, er kennt die jüdische Tradition, die Argumente der Traditionsbewahrer und die Reformlinien in der jüdischen Geschichte, er weiß somit (im Gegensatz zu den Beschneidungsbefürwortern in der deutschen Politik) genau, wovon er spricht.

Michael Ingber hat sechs Enkelsöhne, von denen vier beschnitten sind, zwei - aufgrund der Entscheidung von Ingbers Tochter und deren Mann - jedoch nicht. Als diese Tochter den ersten Sohn nicht beschneiden ließ, war Ingber noch der Auffassung, was das denn für ein Jude sein solle, der nicht beschnitten sei, beim zweiten Enkel hat er seiner Tochter uneingeschränkt zustimmen können, als die diese die Beschneidung ablehnte aus der Erkenntnis: “Wie könnte ich als Mutter meinem Kind so etwas antun”.

Auf der Tagung des Bundesforums Männer im Juni 2013 hat Michael Ingber über sich als jemandem, der seine Ansicht zu Beschneidungen nach gründlicher Prüfung und Analyse (historischer und religiöser Aspekte sowie der Ansichten von Maimonides) radikal geändert hat, gesagt: "In meinem Leben habe ich einen langen Weg gemacht, und zwar von einer sehr jüdisch-ethnozentrischen Position in meiner Einstellung oder Weltanschauung, zu was ich eine offenere, universelle Weltanschauung nennen würde. Und ich bin noch auf dem Weg…" Ein Weg, der - verfolgt man die Äußerungen Michael Ingbers auch bei anderen Gelegenheiten - an den Menschenrechten und nicht an Formalem, an Ritualen orientiert ist.


 

hpd: Herr Ingber, die Jüdische Allgemeine hat vor wenigen Tagen Kritik an der geplanten Demonstration von Kinderrechtlern am Jahrestag des Kölner Landgerichtsurteils von 2012 geübt. Wie stehen Sie zu den Aktivitäten zum Jahrestag des Urteils?

Michael Ingber: Es ist aus meiner Sicht selbstverständlich wichtig, dass solche Aktivitäten stattfinden, um das Thema, die Problematik der Beschneidung, ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen.

Deshalb: je mehr Aktivitäten stattfinden und je größer die Teilnahme daran – mit einem entsprechenden Echo in den Medien (wenn es nicht absichtlich totgeschwiegen oder unterdrückt wird) – desto besser. Ich kann dieses Jahr leider nicht daran teilnehmen, wie im vorigen Jahr, aber die eingeladenen RednerInnen werden sicher auch meine Position vertreten bzw. meine Argumente zum Ausdruck bringen.

 

Stimmen Sie Herrn Sadeh (aus Israel) zu, der sagt, dass eine Beschneidungsdebatte in Deutschland nicht mit Hinweis auf die Verbrechen der Nazis an Juden unterdrückt werden dürfe - oder sollte aus historischen Gründen eine solche Debatte in Deutschland nicht geführt werden?

Ja, ich stimme der Meinung von Herr Sadeh ganz zu, und nicht nur im Zusammenhang mit dem Thema Beschneidung, sondern auch was den / die Israel-Palästina-Araber-Iran Konflikt(e) betrifft. Das heißt, Tradition oder "die Geschichte" darf nicht als Grund benutzt werden, Unrecht und Verletzung der Menschen- und Völkerrechte zu ignorieren, zu rechtfertigen oder zu relativieren. Lehren aus der Vergangenheit sollten wir doch ziehen, und zwar um zu verstehen, wie und warum solche Phänomene stattfinden und wohin sie führen können.

Es fehlt leider bei den meisten Menschen der Mut, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen, zu hinterfragen und sich von alten Weltanschauungen zu befreien – was u.a. auch eine Auseinandersetzung mit den Medien, der Politik, traditioneller Erziehung und eigenen Selbstverständlichkeiten bedeutet. Ich habe selber einen solchen Prozess durchgemacht, deshalb verstehe ich, wie schwierig es ist, wie psychologisch verunsichernd. Aber ohne vieles Grundsätzliches in Frage zu stellen, kommen wir nie weiter.

Übrigens, es geht nicht nur um die individuellen Menschen, es gibt auch etablierte Interessen, die dagegen sind, dass die Menschen nachdenken und "vernünftig" werden, wie Sartre in seinem Essay zum Thema "Antisemitismus" das formuliert.

 

Der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck, ein unbedingter Verteidiger der Knabenbeschneidung (auch schon im Säuglingsalter) wird in der jüdischen Allgemeinen dahingehend zitiert, es gäbe kein Drumherum reden, wer die Brit Mila verbieten wolle, greife jüdisches Leben in seinem Kern an. Hat Herr Beck aus jüdischer Sicht Recht?

Erstens ist es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, somit auch nicht legitim, heute von einer "jüdischen" Sicht zu reden. Das Judentum, wie Christentum und Islam (über asiatische Religionen weiß ich nicht genug, um etwas Fundiertes darüber zu sagen) hat mehrere, unterschiedliche und manchmal sogar gegensätzliche Sichten: sie – die Religionen und ihre Quellen – sind wie Kataloge, für fast jede Verhaltensweise, ja Ideologie, kann man eine Bestätigung finden. Dazu gibt es heute im Judentum verschiedene Strömungen, die unterschiedliche Positionen bezüglich der Autorität dieser Quellen haben – in wie weit sie verpflichtend sind, oder lediglich Grundlinien markieren und wie historisch begrenzt sie sind? Damit habe ich nichts Aufklärendes gesagt…

Aber auch das, was wir normatives, traditionelles Judentum nennen (auch "orthodox", genannt, obwohl der Begriff ein moderner ist) – und ich meine hier nicht das ultra-orthodoxe Judentum, das erst als Reaktion gegen die Aufklärung, die Modernisierung und Säkularisierung entstanden ist - hat schon sehr früh in seiner Entwicklung, schon vor der Zeit Jesu, angefangen, große Änderungen zu machen, durch Interpretation, Ignorieren und sogar Verbieten von “zentralen” biblischen Geboten. Diese Änderungen wurden zum Teil historisch bedingt (alles, was den Tempeldienst betrifft), andere durch den Einfluss anderer Religionen (der Glaube an eine Auferstehung nach dem Tod), andere aus praktischen Gründen (der jüdische Kalender), und andere – und in unserem Fall am Relevantesten – aufgrund dessen, was man heute aus humanistischer Sicht als fortschrittlicher Entwicklungen innerhalb der jüdischen Religion nennen würde (z.B. die fast völlige Abschaffung der Todesstrafe). Und wer hat das Recht zu entscheiden, was ein "Kern-Gebot" des Judentums sei? Ist das Gebot der Beschneidung an der Stelle im (babylonischen) Talmud zu finden, wo die Weisen eine ausführliche Diskussion führen, welche sind die Kern-Gebote des Judentums (Traktat Makkkot, 23b)? Warum sollte eine physische Beschneidung für wichtiger als die im 5. Buch Moses, 30,6 genannte "Beschneidung des Herzens" gehalten werden?

Differenzierung ist sicher Sache des Artikels in der Jüdischen Allgemeinen nicht, mich stimmt neben anderem bedenklich, dass Herr Beck hier so zitiert wird, als ginge es um ein allgemeines Verbot der Brit Mila und nicht um die Diskussion von Regelungen für Minderjährige

Warum sollte es kein allgemeines Verbot der rituellen Beschneidung bei Minderjährigen geben?

 

In dem Artikel wird Herr Beck mit einer Polemik zitiert. Er wirft den Gegnern der Beschneidung Minderjähriger vor, die Beschneidung der männlichen Vorhaut mit der weiblichen Genitalverstümmelung gleichzusetzen und damit eine "eine grausame Relativierung eines furchtbaren Verbrechen an jungen Mädchen und Frauen" zu betreiben. Was erwidern Sie hierauf?

Auch dazu braucht man nicht viel zu sagen. Nur: Erstens, Genitalverstümmelung bei Minderjährigen aus rituellen Gründen - oder auch bei Erwachsenen mit Zwang - ist Genitalverstümmelung, die weder bei Frauen noch Männern zu rechtfertigen sei. Und zweitens, ist es nicht absurd, die aus seiner (Herr Becks) Sicht behauptete Relativierung "grausam" zu nennen, und/aber den Akt der (männlichen) Beschneidung nicht?

 

Ist der Relativierungsvorwurf von Beck nicht unter dem Gesichtspunkt, dass Organisationen wie Terres des Femmes, der Deutsche Frauenring, der Verein Tabu e.V. (Verein zur Verhinderung der FGM, der weiblichen Genitalverstümmelung) den Aufruf unterstützen, als völlig absurd zu bezeichnen?

Dazu kann ich nur auf meine vorherige Antwort verweisen.

 

Herr Ingber, Sie überblicken auch die Beschneidungsdebatten in anderen Ländern. Werden die Debatten dort auch auf einem ähnlich substanzlosem Niveau geführt wie von Herrn Beck hier in Deutschland?

Ich kenne wirklich nur die Debatten in Deutschland und in Israel. Meine Meinung bezüglich der hiesigen Debatte habe ich hier und an anderen Stellen geäußert.

In Israel kommt das Thema viel weniger in die Öffentlichkeit, erstens weil bei der überwiegenden Mehrheit der Juden – und der muslimischen Araber – die Beschneidung etwas Selbstverständliches ist (unter Juden werden mehr als 95 Prozent beschnitten); zweitens, weil die Organisationen der Beschneidungsgegner in Israel mehr als Beratungsstellen agieren, und nicht mit großen Kampagnen.

Es gab in Israel schon Fälle, wo Auseinandersetzungen unter den Eltern bezüglich der Beschneidung des Kindes die rabbinischen und staatlichen Gerichthöfe erreicht haben, aber ich kenne die Berichterstattung über diese Fälle nur aus einer Zeitung, Haaretz. Und bei keinem Fall war der Höchste Gerichtshof Israels bereit, eine klare, eindeutige Position zu beziehen bzgl. der Frage, ob die Beschneidung eine Verletzung der Menschenrechte des Kindes bedeutet.

 

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Debatte in Deutschland nicht anhand von Daten und Fakten, sondern aufgrund von Ideologien und mittels primitiver Zuspitzungen geführt wird?

Die Gründe dafür habe ich schon oben erwähnt im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, Einstellungsänderungen herbei zu bringen. Und in Deutschland gibt es dazu den “Schatten der Vergangenheit”, der viele Menschen verblendet und - noch problematischer – instrumentalisiert wird, um notwendige Änderungen zu blockieren.

 

Herr Ingber, vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Das Interview für den hpd führte Walter Otte.

 


Weitere Äußerungen von Michael Ingber zur rituellen Knabenbeschneidung:
Vortrag beim Bundesforum Männer in Berlin am 24.06.2013
Vortrag auf dem Wissenschaftlichen Symposium „Genitale Autonomie: Körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung – von der Theorie zur Praxis“ in Köln am 06.05.2014

 

Webseite über Michael Ingber bei der Akademie für politische Bildung Tutzing