Kommentar

Die Ereignisse im Flüchtlingsheim in Suhl

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TRIER. (hpd) In einem Flüchtlingsheim in Suhl kam es nach einem Religionsstreit unter 20 Bewohnern zu Auschreitungen gegen einen Mann aus Afghanistan. Dieser soll Seiten aus dem Koran gerissen und die Toilette herunter gespült haben. Mehrere muslimische Bewohner des Heims versuchten, den Mann aus Afghanistan zu lynchen. In die darauf folgenden Unruhen sollen mehr als 100 Hausbewohner verwickelt gewesen sein. Wie ist der Vorfall juristisch zu bewerten?

Der Thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) verurteilte zwar die Gewalt, erklärte jedoch zugleich auch folgendes: Bei den Flüchtlingen handele es sich um hochtraumatisierte Menschen, die aus Kriegssituationen kämen und alle Opfer seien. Er könne verstehen, dass die Emotionen hochkochten, wenn verschiedene Ethnien und religiöse Gruppen aufeinander träfen. Er toleriere aber überhaupt nicht, "dass man einen Koran zerreißt und in eine Toilette schmeißt". 

Wenn Bodo Ramelow meint, dass die Handlung des Mannes aus Afghanistan nicht tolerabel sei, stellt sich die Frage, worauf er sich bei diesem Urteil bezieht und warum das so sein soll. Verstößt es gegen Umgangsformen oder ist es ein strafwürdiges Verhalten, oder sogar beides? Ist es nicht tolerabel, weil der Koran ein religiöses Buch ist und in dieser Eigenschaft geschützt ist, oder weil Menschen in ihm ein heiliges Buch sehen und durch eine solche Handlung in ihrem religiösen Empfinden gestört werden? Es geht also um das, was man tun sollte und um das, was man tun darf. 

Dass es notwendig ist, diese Fragen zu stellen, wird umso deutlicher, wenn man sich Ramelows Interview bei der ARD anhört. Dort sagt er, dass es für niemanden, der hierherkommt und Schutz sucht, das Recht gibt, Gewalt anzuwenden. "Es gibt kein Recht, einen Koran zu zerreißen und in eine Toilette zu schmeißen. Es gibt kein Recht, die Bibel zu beschmutzen. Es gibt aber auch kein Recht, dass der, der sich verletzt fühlt, meint, er könnte einfach den anderen lynchen." Mit derartigen Aussagen wird alles zum "nicht dürfen" deklariert.

Papst Franziskus meinte nach dem Attentat auf Charlie Hebdo, dass jede Religion ihre Würde habe und man sich nicht über sie lustig machen dürfe. Die Meinungsfreiheit habe dort ihre Grenzen, wo sie religiöse Gefühle anderer verletzt. 

Es ist jedoch ernsthaft zu bezweifeln, dass eine Religion Würde besitzen kann. Denn Würde bedeutet, einen "Achtungsanspruch" zu haben. Religionen sind "Anschauungen zum Weltganzen, zur Herkunft und zum Ziel menschlichen Lebens, mit einem transzedenten Bezug." In einer Anschauung "über etwas", kann man innerhalb der Anschauung so etwas wie "Würde" allerdings nur "etwas" zuordnen. Dadurch schafft man "ideele Werte", die "Anschauung" selber wird jedoch nicht zum "Träger der Würde". Oder anders formuliert: Als Anschauungen sind Religionen gedankliche Konstrukte. Wie können diese daher Würde besitzen?

Die rechtliche Lage

Es gibt in den deutschen Gesetzen keine Norm, die ein religiöses Bekenntnis davor schützt, in den Schmutz gezogen zu werden. Etwas juristischer ausgedrückt: der Glaubensinhalt einer Religion ist nirgends – in keinem Gesetz – ein Rechtsgut (Schutzgut). Es gibt einen Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch dessen Überschrift anderes vermuten lässt: Der Paragraph 166 StGB. Liest man allerdings den ersten Absatz des Paragraphen, wird ersichtlich, dass das zu schützende Gut der "öffentliche Friede" ist. Der öffentliche Friede umfasst nach der "herrschenden Meinung" in der Rechtslehre den Zustand allgemeiner Rechtssicherheit (also die Sicherheit der rechtlichen Ordnung im Staat und Schutz der Rechtsgüter der Bürger) sowie das Gefühl der Bürger, dass diese Umstände gegeben sind. Also: das friedliche, von Angst, Gewalt und Selbstjustiz freie Zusammenleben von Gruppen der Bevölkerung in einer fairen, menschenwürdigen Rechtsordnung sowie das Bewusstsein davon.

Wann die Gefährdung vorliegt, entscheidet allein der Richter. Da der säkulare Rechtsstaat die Strafen nicht nach Maßgabe subjektiver Glaubensinhalte und individueller Empörung verhängen kann, ist das geschützte Gut des Paragraphen 166 StGB auch nicht das bloße "Gefühl" der Gläubigen. Selbst wenn dies das Schutzgut wäre, so müsste man dennoch fragen, wovor ihr Emotionshaushalt denn genau geschützt werden soll. Vor Äußerungen und Handlungen, die verletzen, schockieren, provozieren? Wenn dem so wäre, dürfte man im Bezug auf Religionen nur wohlwollende Handlungen und Äußerungen vornehmen. Religionen als ein Sakrileg, das nicht entweiht werden darf?  

Der öffentliche Friede kommt als Schutzgut in mehreren Strafgesetzen vor. So zum Beispiel auch in den Tatbeständen des Paragraphen 130 StGB (Volksverhetzung). Gemäß dieses Pargraphen wird unter anderem bestraft, wer zu Hass oder Gewalt gegen "Teile der Bevölkerung" aufruft. Darunter fällt jede abgrenzbare, durch bestimmte Eigenschaften verbundene Gruppe der Bevölkerung, wenn sie ausreichend bestimmt ist: "die Katholiken", "die Muslime",  "die Buddhisten", "die Juden", "die Schwulen", "die Lesben", "die Asylbewerber" und zahllose weitere. Die Berufszugehörigkeit, die Religionszugehörigkeit, der Wohnort und anderes sind Eigenschaften im Sinne des Paragraphen 130 StGB, die "Teile der Bevölkerung" kennzeichnen können. Da aus der Bevölkerung jede erdenkbare, hinreichend bestimmbare und abgrenzbare Gruppe als "Teil der Bevölkerung" im Rahmen des Paragraphen 130 StGB annerkannt wird, ist es fraglich, ob es einen privilegierten Sonderschutz für diejenigen "Teile" bedarf, die sich inhaltlich oder organisatorisch auf "religiösen" Glauben beziehen. 

Was bedeutet das alles für den Vorfall im Erstaufnahmelager in Suhl?

Wenn nun das öffentliche Schutzgut nicht der Glaube oder ein sonstiges weltanschauliches Bekenntnis ist, kann keine Rede davon sein, dass eine "Beschmutzung" oder ein "Zereißen" eines Bekenntnisses an sich eine nicht zu tolerierende Handlung sei. 

Das Herausreißen von Koranseiten mag für manche Menschen eine schändliche Tat darstellen, aber als eine allgemeine Maxime kann eine subjektive Einstellung zur Heiligkeit eines Buches und seiner Unantastbarkeit nicht dienen. Die richtige Formulierung wäre deswegen gewesen: Die Tat des Mannes war zwar nicht nett, aber dies gibt niemanden das Recht, mit Gewalt gegen ihn vorzugehen. 

Zur Verdeutlichung, stellen Sie sich einmal folgende Situation vor:

Ein Zeuge Jehova drückt Ihnen nach einem Gespräch in der Einkaufsmeile der Stadt sein Glaubensbuch in die Hand. Sie lehnen dankend ab und wollen es ihm zurückgeben. Er beharrt und sagt nein! Nehmen Sie doch! Genervt nehmen Sie das Buch an sich und werfen es nach nur ein paar Schritten achtlos in den nächsten Mülleimer. Erst weiß der Zeuge Jehova gar nicht, wie er darauf reagieren soll, doch nachdem der erste Schock vorbei ist, wirft er sich Ihnen in den Rücken und prügelt auf Sie ein. Frage: Hätten Sie die Handlung nicht tun sollen? Durften Sie es tun? Ist seine Reaktion verständlich? Ist seine Reaktion gerechtfertigt?

Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, bringt es auf den Punkt: "Die Religiösen in unserer Gesellschaft könnten sich daran gewöhnen, dass ihr Glaube Privatsache und kein öffentliches Schutzgut und dass die Beleidigung von religiösen Gefühlen und Überzeugungen zwar eine Unverschämtheit ist, in einer freien Gesellschaft aber bis an die Grenze zur Volksverhetzung oder der individuellen Beleidigung hingenommen werden kann und muss – wie jede andere Gefühlsverletzung auch."