Sebastian Lotzkat über die "Landflucht der Wildtiere"

Die Stadt - Neue Heimat für Dachs und Igel

Hyänen streunen neuerdings öfter durch die Straßen von Addis Abeba. Pumas wurden in den Vorgärten von Los Angeles gesichtet. Leoparden sehen sich in Mumbay um. Wir sind längst nicht mehr unter uns in den Städten. Die "Landflucht der Wildtiere" beschäftigt Sebastian Lotzkat. In seinem jüngsten Buch macht er klar: Ausgelöst haben wir sie selbst.

Mit der wachsenden Migration der Menschen nahm auch die Migration der Tiere zu. Schon Spatz und Ratte gelangten erst durch die Menschen zusammen mit dem Ackerbau von Vorderasien nach Europa und von da aus in die ganze Welt. Mit den heimkehrenden Touristen reiste neuerdings auch die Tigermücke im Reisegepäck bei uns ein und hielt sich in den wärmeren Regionen Europas. Wenn uns von diesen tierischen Migranten einige gefährlich werden können, dann wegen der von ihnen übertragenen Tropenkrankheiten - eher letztere als die Wölfe, obwohl von denen schon zwei in niedersächsischen Kleinstädten gesehen wurden und zwei kurz vor Berlin, so der Tenor bei Lotzkat.

Angriffslustig können dagegen sogar Möwen werden. 2014 attackierten sie vor den Augen des Papstes und der Gläubigen die weißen Tauben, die man über dem Vorplatz des Petersdoms zum Himmel aufsteigen ließ, derartig, dass einige der friedfertigen Vögel das nicht überlebten. Seither lässt Franziskus nur noch Luftballons aufsteigen.

151 Vogelarten wurden allein in Berlin gesichtet. Hier finden sie mittlerweile eine größere Vielfalt an Biotopen als auf dem flurbereinigten Land, wo Hecken beseitigt wurden, Bachufer begradigt, Tümpel trockengelegt, und alte Alleen der Motorsäge zum Opfer fielen und Brutplätze und Nahrung knapp werden. Außerdem wachsen unsre Städte immer noch. Ein Zehntel der Fläche unseres Landes sind mittlerweile überbaut. Wir vereinnahmen also den Lebensraum von Wildschwein, Fuchs und Mäusebussard, nicht umgekehrt.

Entlang der Grüntrassen der Böschungen von Autobahnen und Bahn gelangen die Vierbeiner in die Stadt. Auch bei den Populationen auf Pfoten und Klauen wachsen Ost und West zusammen. Der Biber kam von selbst von Osten her zurück und machte vor den Toren Berlins nicht halt. Der aus den USA importierte Waschbär – das erste Pärchen wurde bei Kassel ausgesetzt – wird unterdes ebenfalls nicht selten in Berlin gesichtet.

Im Plauderton rät Lotzkat zum unaufgeregten Umgang mit diesen gefiederten und haarigen Mitbürgern. Für tierische Überbevölkerung sind wir meist selbst verantwortlich, durch Füttern etwa. Er rät generell davon ab. Stilles Beobachten macht genauso Freude, und jeder kann da selbst zum Citizen Scientist werden. Lotzkat gibt Tipps.

Wer sich umtut, wird schnell feststellen, dass es zwei Typen von Viechern gibt, die unsere Städte bevölkern: einstige Felsbewohner und die Generalisten, die mit allem zurecht kommen. Höchst spezialisierte Überflieger sind zum Beispiel die Mauersegler, Verwandte der Kolibris, die über unseren Städten durch die Luft schießen und Mücken jagen, wenn sie sich nicht sogar in der Luft paaren, und meist für Schwalben gehalten werden, die selbst wiederum für ihre Lehmnester längst keinen Lehm mehr finden in unseren asphaltierten Straßen. Felsbewohner waren auch die Tauben. Aus den Felstauben entstand schließlich die Haustaube. Die Wanderfalken, die in Frankfurt hoch oben über den gleißenden Hochhaustürmen der Banken nisten, nehmen wohl unsere Städte nur als zerklüftete Steingebirge war.

Manche Tiere hingegen sind bloß standhaft geblieben, auch wenn alles um sie herum sich änderte. Wer hätte gedacht, dass in den Städten die Regenwürmer immer noch nach dem Menschen den zweitgrößten Anteil der Biomasse ausmachen?

Andere kamen, weil es wohl ein Prinzip des Lebens ist, nicht nur immer weiterzumachen, sondern ebenso Grenzen auszuloten, selbst wenn man dabei umkommt. Wiederum andere zogen mit dem Klimawandel zu uns. Die Taubenschwänzchen, kolibrigroße Nachtfalter, tauchen immer öfter in den Vorgärten und auf den Balkonen im Süden Deutschlands auf.

Neben Prinzipiellem wartet Lozkat mit überraschenden Anekdoten auf. Dem Reptilienspezialisten ist es gelungen, selbst am Stadtrand von Frankfurt die von ihm so geliebte kleine Schlingnatter zu finden, absolut harmlos, aber mit je einem Flecken-Band auf den beiden Flanken der gefährlichen Aspis-Viper nicht unähnlich, falls doch einmal ein potentieller Fressfeind oder Schlangenjäger auf sie stoßen sollte. Meist aber wird sie übersehen, wie die meisten der Wildtiere in unseren Städten. Dazu, dass das sich ändert, kann Lotzkats Büchlein beitragen.

Sebastian Lotzkat: "Landflucht der Wildtiere. Wie Wildschwein, Waschbär, Wolf und Co. unsere Städte erobern", Rowohlt Taschenbuch Verlag Hamburg, 2016, 303 S. 10,99 Euro