Ökonomische Plaudereien

Freihandel oder TTIP?

BERLIN. (hpd) Die Kritik an TTIP hat sich mittlerweile herumgesprochen. Beim Freihandel geht es um den Abbau von Handelshemmnissen - bei TTIP vermutlich in recht spezieller Weise. Rechtsprechung am Rechtsstaat vorbei, "Verbraucher"-Schutz als Schutz vor dem "Verbraucher", Datenschutz und Beschäftigtenrechte entsprechend - das sind Themenpakete, die da wohl viel weiter oben stehen als Einfuhrbürokratie und Zölle. Etwas verkürzt geht es um die Handelshemmnisse Staat, Freiheit und Demokratie. Aus Sicht der Wirtschaft ist das verständlich. Aber warum gerade jetzt?

Reden wir zunächst einmal über das Wetter. In der Karibik gibt es eine Hurricane-Saison. Das ist die Zeit von Anfang Juni bis Ende November. Im Äquatorgebiet des Atlantik entstehen Stürme und bewegen sich nach Westen und Norden. Einige Stürme ziehen nach Mittelamerika, andere in Richtung Florida, manche ziehen in den Golf von Mexico dazwischen. Manche werden sehr stark und richten schwere Schäden an, wenn sie auf bewohnte Gebiete treffen. Ursachen sind die großen Windgeschwindigkeiten und Niederschlagsmengen. Dies geschieht regelmäßig in der Karibik und den angrenzenden Regionen des amerikanischen Kontinents. Im Gegensatz zu den großen Windgeschwindigkeiten innerhalb des Hurricanes bewegt sich das ganze Sturmgebiet oft nur mit der Geschwindigkeit eines Fahrradfahrers. Das bietet den Meteorologen die Möglichkeit, diese Stürme manchmal wochenlang zu beobachten und ihre Wege vorherzusagen, um Menschen rechtzeitig zu warnen[1].

So ein Hurricane (Katrina) traf 2005, also gewissermaßen mit Ansage, auf die Stadt New Orleans (USA). Die Stadt wurde schwer zerstört und manche befürchteten damals, dass sie nicht mehr bewohnbar sei. Tausende Menschen saßen in einem Stadion fest und wurden tagelang nicht herausgeholt[2]. Es war keine Frage, ob jemals ein so schwerer Sturm New Orleans treffen würde. Die Frage war nur: wann?

Trotzdem war die Stadt schlecht vorbereitet. Die vielleicht potenteste Wirtschafts- und Militärmacht war anscheinend nicht in der Lage, die erforderlichen Dinge zum Schutz und zur Hilfe zu unternehmen. Dabei könnte man gerade bei Naturkatastrophen auf Handlungsfähigkeit und Logistik militärischer Einheiten hoffen. Und am Geld kann es doch wohl auch nicht gelegen haben? Die Fähigkeiten eines Managers erkennt man nicht, wenn der Laden läuft sondern dann, wenn es eine Havarie gibt und alles zusammenzubrechen droht. Vielleicht ist es hier ähnlich. Das Leben dümpelt so vor sich hin in Gottes eigenem Land und jeder darf glauben, dass die Vereinigten Staaten das Größte, Stärkste und Beste sind, was die menschliche Kultur hervorgebracht hat. Und dann wird das Wetter schlecht und das war´s dann?

Katrina vertrieb etwa 800 000 Menschen aus der Stadt und auch 2010 betrug die Bevölkerungszahl nur 76% des Wertes von 2005[3]. Die Zahl der öffentlichen Schulen lag 2010 bei etwa der Hälfte der Zahl vor Katrina[4]. Aber das bedeutet vielleicht nichts und ist vielleicht auch kein Symptom für irgend etwas.

Manche dieser Tropenstürme ziehen auch an Florida vorbei und weit nach Norden und treffen dort auf die Ostküste der USA, einer der am dichtesten besiedelten und wirtschaftlich stärksten Regionen des Landes. Das machen solche Stürme jedes Jahr. Das ist nichts Besonderes und für die Einheimischen sicher keine Überraschung. Im Herbst 2012 traf der Sturm Sandy auf die Ostküste Nordamerikas. Das Ergebnis war ein zeitweiliger Zusammenbruch wichtiger Teile der Infrastruktur. 8,1 Mio. Menschen waren von Stromausfällen betroffen. In New York und New Jersey gab es eine Woche nach dem Sturm noch 1,6 Mio. Häuser ohne Strom[5]. Manche Stromausfälle dauerten bis zu zwei Wochen[6], Mineralölgesellschaften waren nicht in der Lage, die Tankstellen zu beliefern und in Gang zu halten. Zeitweise war weniger als die Hälfte der Tankstellen in der betroffenen Region handlungsfähig. Deshalb befahl der Präsident zur Versorgung der Zivilbevölkerung Lieferungen durch das Militär[7].

Das geschah nicht etwa in einer weit abgelegenen Ecke sondern im wirtschaftlichen, militärischen und politischen Zentrum der Welt. Vielleicht war es ein besonders schwerer Sturm. Vielleicht ist das betroffene Land aber auch nicht ganz das als was manche es wahrgenommen wissen wollen - als Nabel der Zivilisation. Die Stürme sind nur zwei Episoden. Treten wir etwas zurück und werfen einen Blick auf das ganze Bild:

USA: Anspruch und Wirklichkeit

Die USA entstanden an der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents aus britischen Kolonien. 1776 erklärten die USA ihre Unabhängigkeit vom Britischen Königreich. Die Unabhängigkeitserklärung beginnt mit den Worten: "Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit."[8]

So spricht heute vermutlich niemand mehr und vermutlich war es auch damals nicht so gemeint. Denn nach der Unabhängigkeitserklärung breiteten sich die Vereinigten Staaten von Amerika über den nordamerikanischen Kontinent aus. Wer dabei im Weg stand, dessen "Leben, Freyheit und Bestreben nach Glückseligkeit" galten wenig. Sie rotteten Ureinwohner aus, hielten Sklaven und nahmen sich von anderen, was sie wollten.

Die USA führten seit ihrer Gründung bis heute praktisch ständig Krieg oder waren mit "Militäroperationen", die nicht allgemein als Krieg bezeichnet werden, irgendwo auf der Welt befaßt, steckten in der Vorbereitung darauf oder in der Nachbereitung[9], manchmal sogar in mehreren Angelegenheiten gleichzeitig. Die USA agierten dabei militärisch geschickt. In den zweiten Weltkrieg (1939–1945) traten sie ein, als sie mutmaßlich nicht mehr verlieren konnten - weder in Europa noch im Fernen Osten. Danach standen sie als wirtschaftliche und militärische Sieger da und festigten ihre ökonomische, militärische und politische Führungsposition in der Welt für einige Zeit. Dann änderten sich die Dinge.

Das Kolonialsystem (Großbritannien, Frankreich, Portugal) brach zusammen. Es entstanden neue Staaten und die USA konnten nicht überall gleichzeitig die Dinge in ihrem Sinne steuern, obgleich sie sich sehr darum bemühten. Ende der 1980er endete der Kalte Krieg mit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Das Bretton-Woods-System, eine Währungsordnung mit dem US$ als Leitwährung, geschaffen 1944, und nachfolgende finanzpolitische Entwicklungen halfen den USA, diese Einschnitte ohne Aufgabe ihres Führungsanspruchs zu überstehen.

Allerdings veränderten sich die Kriege der USA. Sie gewannen nicht mehr, nicht einmal mit mehr als 500 000 Mann in Vietnam[10]. Das bedeutet, dass die Kriege für die militärischen Ausrüster zwar nach wie vor ein lukratives Geschäft sind, aber volkswirtschaftlich für die USA zu einer enormen Belastung wurden. Die wirtschaftliche Situation der USA veränderte sich.

Staatsverschuldung: Jahrzehntelang lief es mit der Verschuldung nicht schlecht, selbst der zweite Weltkrieg brachte keine ernsten Probleme. Die Verschuldung lag bei 3 Billionen Dollar und blieb bis Mitte der 1980er bemerkenswert konstant in dieser Größenordnung. Aber seit Ende der 1980er wachsen die Schulden beträchtlich an. Im Februar 2015 waren es 18,8 Billionen $[11][12].

Staatshaushalt: Die USA haben also enorme Schulden. Was macht der Staat mit dem zur Verfügung stehenden Geld, also den Steuereinnahmen? Unternimmt man etwas gegen die Schulden? Der Staatshaushalt der USA ist sehr verschieden von den Haushalten europäischer Länder. Fast ein Viertel (23%) des Staatshaushalts verbraucht das Militär[13]. Das Militär erwirtschaftet aber nichts, stellt auch keine Weichen für die Zukunft wie etwa das Bildungswesen. Der gesellschaftliche "Return on Investment" des Militärs ist nahe Null. Es verbraucht nur Ressourcen. Das belastet die Volkswirtschaft.

Innovation: Wenn die Schulden riesig sind und viel Geld für das Militär ausgegeben wird, wie steht es mit den Innovationen, den neuen Ideen in der Wirtschaft? Patentanmeldungen können als Indikator für die Erneuerungskraft der Wirtschaft gesehen werden. Bezogen auf die Welt gab es 2011 24,4% der Patentanmeldungen in den USA und 34,4% in Europa[14]. Zweiter Platz für die USA - nicht schlecht, aber in der Wirtschaft ist die Nr.2 oft der erste Verlierer.

Wenn die Realität schon nicht mehr ganz so ist wie gewünscht und gewohnt, so kann man noch ein wenig so tun als wären die Dinge anders. Vielleicht fällt ja jemand darauf herein. Medial und hinsichtlich ihres Anspruchs machen die USA immer noch den ganz breiten Auftritt. Sie führen sich in vielfacher Hinsicht als "Leitkultur" auf und es gibt immer noch viele Menschen, die, bewußt oder unbewußt, jede kleinste Regung dieser "Leitkultur" sklavisch nachahmen. Aber das ist ein anderes Thema.

Politisch und wirtschaftlich bewegen sich die USA ungeachtet der angedeuteten Entwicklungen weiter so, als ob sie der Dreh- und Angelpunkt des Weltgeschehens seien. Vielleicht hofft da mancher, dass nicht offenbar wird, wie sehr das amerikanische Sein dem Schein hinterherläuft. Dazu schafft man jede Menge neuer Ablenkungen, schürt Ängste aller Art, von Krankheiten über Terrorismus bis zur Wasserknappheit und bringt faszinierende Reizworte wie "Globalisierung". Der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger sagte angeblich einmal, Globalisierung sei nur ein anderes Wort für US-Herrschaft[15]. Deutlicher geht es kaum. Aber wie realisiert man einen solchen Anspruch: "US-Herrschaft"? Besonders naheliegend scheinen Methoden wie militärischer Zwang (Invasionen, Drohungen, "Bündnisse") sowie juristischer, diplomatischer und wirtschaftlicher Druck zur Sicherung der Absatzmärkte und des Zugriffs auf Rohstoffe.

Die Sache mit den Absatzmärkten ist derzeit anscheinend von besonderem Interesse. Jedenfalls kann man die Bemühungen um TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) so deuten. Man versucht, besonders vorteilhafte Bedingungen dafür zu schaffen, die eigenen Waren zu verkaufen. Mit dem Export haben manche Anbieter in den USA vermutlich so ihre Schwierigkeiten (Importüberschuß USA, 2011: 982,1 Mrd. $). Da ist ein im deutschen Sprachgebrauch zuweilen als "Freihandelsabkommen" verklärtes Vertragswerk eine hervorragende Möglichkeit.

Würde man diesseits des Atlantiks die tönernen Füße des Imperiums auf der anderen Seite bemerken wollen und die Möglichkeiten erkennen, die ein Europa hat, wenn es sich nicht vor den USA auf den Bauch wirft sondern den realen Verhältnissen entsprechend den aufrechten Gang pflegt, so wären Dinge wie TTIP nur Anlass für ein kurzes Anheben einer Augenbraue. Aber so lange manchen die Dominanz auf dem Hühnerhof für eine Wahlperiode wichtiger ist als eine Zukunftsvision für einen ganzen Kontinent, ist das kaum zu erwarten.


  1. Wikipedia, en, "Atlantic hurricane season", "Tropical cyclone", "Landfall"  ↩

  2. Spiegel online, http://www.spiegel.de/panorama/gefangen-im-superdome-nur-noch-raus-aus-d...  ↩

  3. Wikipedia, en, "New Orleans"  ↩

  4. National Geographic, http://news.nationalgeographic.com/2015/08/150828-data-points-how-hurric...  ↩

  5. Spiegel online, http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/sturm-sandy-kaelte-bedroht-o...  ↩

  6. TIME, http://nation.time.com/2012/11/26/hurricane-sandy-one-month-later/  ↩

  7. New York Times, http://www.nytimes.com/2012/11/03/business/military-to-deliver-fuel-to-s...  ↩

  8. wikipedia, de, "Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten"  ↩

  9. Wikipedia, de, "Militäroperationen der Vereinigten Staaten"  ↩

  10. http://www.americanet.de/html/wirtschaft__aussenhandel.html  ↩

  11. Wikipedia, de, "Staatsverschuldung der Vereinigten Staaten"  ↩

  12. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/1975/umfrage/staatsverschu...  ↩

  13. Wikipedia, de, "Haushaltsplan der Vereinigten Staaten"  ↩

  14. Focus, http://www.focus.de/finanzen/news/unternehmen/tid–25519/rennen-um-erfi...  ↩

  15. zitiert in: Werner Biermann / Arno Klönne: Globale Spiele. Imperialismus heute – Das letzte Stadium des Kapitalismus? PapyRossa-Verlag, Köln 2001, ISBN 3–89438–227–9, nach : https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_Kissinger  ↩