Ökonomische Plaudereien

Wachstum - und kein Ende?

BERLIN. (hpd) In der Schule erfährt mancher von einem Experiment, bei dem sich die Zahl gewisser Einzeller in einer Petrischale in 20 Minuten verdoppelt. Dann wird eine schaurige Vision entwickelt, wonach diese Spezies in erstaunlich kurzer Zeit die Erdoberfläche kniehoch besiedelt. Analog dazu hat schon mancher Mathelehrer Schüler dazu angeregt, einen Zeitungsbogen 40 mal zu falten, verbunden mit der Frage, wie oft das Ergebnis dann um die Erde reichen würde. Geht beides nicht? Aber mit dem Wirtschaftswachstum ist das etwas anderes. Sicher.

Es geht jetzt nicht um pastoralgrüne Verzichtsentwürfe. Eher um das Gegenteil. Aber der Reihe nach. Die Idee des exponentiellen Wachstums wird in der Ökonomie gern mit Beispielen zum Zinseszins illustriert. Im 18. Jh. wies Richard Price [1] darauf hin, wozu das Konzept Zinseszins führt, wenn man zum Zeitpunkt der Geburt “unseres Retters” einen Penny zu 5 % jährlich anlegt und lange genug wartet. Mit Euro und Cent nachvollzogen, ergibt sich dies: Am Beginn beläuft sich das Vermögen auf 0,01 Euro. Nach 100 Jahren würden aus diesem Cent 131 Euro, nach 200 Jahren mehr als 17.000 Euro, nach 500 Jahren wären es reichlich 39 Milliarden Euro und nach 1000 Jahren etwa 1,5 * 1.021 Euro.

Man sieht augenblicklich das Unsinnige an der Sache. Die Einzeller treffen bei der Vermehrung auf Wachstumsbeschränkungen, etwa durch Nahrungsangebot und Konkurrenz. Auch die Sache mit dem Zeitungsbogen stößt recht bald an praktische Grenzen. Beim Zinseszins ist die Verführungskraft der Idee jedoch so groß, dass mancher es nicht recht wahrhaben mag, dass es nicht so gehen kann. Der Bankier Mayer Amschel Rothschild soll gesagt haben: “Der Zinseszinseffekt ist das achte Weltwunder.”

Andere ordnen die Bemerkung Einstein zu. Obgleich es vielleicht schwer vorstellbar ist, dass Einstein mit so schlichter Mathematik zu beeindrucken war, und dieser Satz vielleicht auch hundert anderen Leuten über die Lippen kam, so illustriert er doch die erste Überraschung, die man erleben kann, wenn man sich damit befaßt. Wenn man dann zugesteht, dass es mit dem exponentiellen Wachstum in der Wirtschaft nicht auf Dauer so gehen kann, so steckt darin auch ein wenig von der Ansicht, dass es aber ein Stückchen Wegs vielleicht doch geht. Aber wo will man die Grenze ziehen? Sind 3 Jahre in Ordnung oder 17? Und vom 18. Jahr an ist die Idee abzulehnen? Sicher kann man das von Fall zu Fall untersuchen. Ein unbegrenztes Wachstum ist aber einfach nicht realistisch.

Im Alltag stellt sich das bisweilen anders da. Da wird das exponentielle Wachstum eher leise unterstellt. Dabei läßt man Fragen nach der Dauer des Vorgangs einfach weg und vergleicht nur eine Periode mit einer vorangegangenen. Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) teilt dazu mit: “Wenn das BIP, also der Wert aller Dienstleistungen und Sachgüter, im Vergleich zum Vormonat oder zum Vorjahr größer geworden ist, dann ist die Wirtschaft gewachsen. In Deutschland ist das stetige Wachsen der Wirtschaft ein wirtschaftspolitisches Ziel.” [2] Oft kommt das Wachstum dann in einer prozentualen Steigerung zum Vorjahr daher. [3] Darin steckt das “exponentielle”, also das, was mathematisch auch den Zinseszins ausmacht.

Wirtschaftswachstum ist gut. Warum?

“Man geht nämlich davon aus, dass Wirtschaftswachstum mehr Arbeitsplätze bringt und damit auch ein höheres Einkommen für die Bevölkerung bedeutet. Und damit dann auch mehr Zufriedenheit.” [4]

Wer wagt da zu widersprechen? Wer will schon Arbeitsplätze gefährden und Zufriedenheit und Einkommen? Wenn aber nach kurzem Nachdenken klar ist, dass es so auf Dauer nicht funktioniert, und bereits jetzt genug von allem für alle erzeugt werden kann und jede zahlungsfähige Nachfrage befriedigt wird, wie generiert man dann Wirtschaftswachstum? Wirtschaftswachstum ist im Sinne der bpb das Anwachsen des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Das kann man steigern, indem man die Nachfrage steigert. Eine Möglichkeit dafür ist, das Erzeugte einfach wieder zu vernichten - aber erst nach dem Verkauf. Dann hat jemand dafür gearbeitet, es hat Umsatz gegeben und es wurden Steuern gezahlt.

Da sich viele Menschen aber von etlichen Dingen, für die sie Geld ausgegeben haben, nur ungern einfach so trennen, könnte man dabei behilflich sein. Man könnte Ersatzteile und Reparaturen so teuer anbieten, dass sie keiner will und man lieber das ganze Ding neu kauft. Die Hilfe könnte auch darin bestehen, die Qualität der Waren zu verringern, so dass die Lebensdauer kleiner ist als es nach dem Stand der Technik möglich wäre. Wenn das genug Hersteller machen, ist keiner schuld. Es ist einfach “der Markt”. Da muß man mit oder man ist weg vom Fenster. Ein Resultat wäre, dass die fragwürdigen Dinge in kurzen Intervallen ersetzt werden müssen. Am besten kurz nach Ablauf der Garantiezeit. Dinge als Müll herstellen - das ist, als würde man nicht essen, um satt zu werden, sondern um sich möglichst oft zu übergeben. Manche meinen, dass das schon ganz gut funktioniert. Aber steigert das Einkommen und Zufriedenheit? Oder deuten so eingebaute Sollbruchstellen nicht schon auf die Sollbruchstelle des Wirtschaftskonzepts?

Ressourcen schont man nicht so sehr dadurch, dass man sich in protestantisch-asketischer Anwandlung deren Verwendung verkneift. Man schont sie weit mehr, wenn man die Dinge daraus so macht, dass es die Mühe wert war und zwar nicht nur im buchhalterischen Sinne.

Vielleicht zielt die Frage nach dem Wachstum einfach in die falsche Richtung. Möglicherweise wäre es besser, sich um Wohlstand, Arbeit und Zufriedenheit zu kümmern, ohne den gedanklichen Umweg über das Wirtschaftswachstum zu wählen, denn: “Wir alle leben nicht vom Geld, sondern von Gütern.” (Götz Werner, Gründer dm-Drogerie).

Es gibt eine ganze Menge Dinge und Dienstleistungen, bei denen man sich gar nicht wünscht, sie mögen dauerhaft wie die ägyptischen Pyramiden sein. Das betrifft nicht nur Sachen, die raschen modischen oder technologischen Veränderungen unterliegen. Auch Einkaufstüten, die sich bald nach Gebrauch in Luft auflösen, wären so schlecht nicht. Aber einmal angenommen, man würde sich bei allem anderen mit Dingen umgeben können, die man nur einmal im Leben erwerben muß oder sie in manchen Fällen gar von den Vorfahren übernimmt. Auch wenn der Gedanke im ersten Moment fremd wirkt: es beträfe viel mehr Dinge als man im ersten Moment für möglich hält.

Man kann Geschirrtücher machen, die Jahrzehnte halten und dabei gut aussehen. Man kann auch Schuhe machen, die nicht zerfallen, wenn man anfängt, sie zu mögen. Radiergummiweiche Motorradreifen unterliegen enormen Belastungen und halten Tausende Kilometer. Manche Schuhsohlen hingegen sind schon nach einem Wandersommer hin. Wie kann das sein? Und eine Kaffeemaschine kann so lange halten wie ein Gullydeckel. Auch ein Sofapolster muß nicht durchgesessen sein, wenn man sich gerade an die Farbe gewöhnt hat. Es kann länger knackig sein als der Hintern darauf. Würde man also da, wo es der Sache entspricht, auf Langlebigkeit und Qualität Wert legen, so würden die Dinge nicht ständig wie Eis in der Sonne vergehen sondern dauerhaften Wert und Wohlstand darstellen - vielleicht auch ein wenig Zufriedenheit. Ein Haus zerfällt doch auch nicht in 5 Jahren. Mittelfristig hätte man mehr Mittel frei, um sich seine Wünsche zu erfüllen. Die Hersteller würden geringere Stückzahlen machen, dabei aber langlebige Dinge. Da die Menschen, die diese Unternehmen ausmachen, auch weniger und seltener Ersatz für alles mögliche benötigten, wäre das ständige “mehr” nicht nötig. Was gewünscht wird, ist da - für lange Zeit - und fängt nicht ab Ladenkasse an zu zerbröseln. Die Arbeitswelt würde dadurch tiefe Veränderungen erfahren. Unterm Strich stünde dann erheblich mehr Wohlstand.

Wenn man das wollte: wie wäre es zu erreichen? Sicher wären viele gute Ideen zu verwirklichen, um auf diesen Weg voranzukommen. Ein wichtiger Punkt darunter ist die Aufklärung. Statt in den Schulen “Verbraucher” zu erziehen, sollte dort die nächste Generation von Schöpfern anzutreffen sein. Wer hinter die Werbung schauen und gute von schlechten Waren unterscheiden kann, lebt besser. Das wäre ein Anfang. Und sonst? Man könnte die Garantiepflicht der Hersteller nach und nach erhöhen.


  1. Richard Price, An appeal to the public, on the subject of the national debt. (1772), S. 19, https://macsphere.mcmaster.ca/handle/11375/14773, auch bekannt als Josephspfennig  ↩

  2. Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-junge-politik-lexikon/187508/w...  ↩

  3. Münchener Gesellschaft zur Förderung der Wirtschaftswissenschaft, die Prognosen finden sich auf der Website unter “Fakten” [sic], http://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/facts/Forecasts.html  ↩

  4. siehe Anm. 2  ↩