Interview

"Dinge, die wir früher diskutiert haben, sind nicht mehr relevant"

In den Medien wird derzeit viel über die Kämpfe im Gaza-Streifen und die Situation der Palästinenser berichtet. Doch auch die Menschen in Israel stehen nach den Hamas-Massakern vom 7. Oktober nach wie vor unter Beschuss aus dem Gaza-Streifen und dem Libanon. Dani R. erlebt die Situation in Israel in einem Vorort von Tel Aviv, wo der Krieg Horror und Alltag zugleich ist. Im Interview mit dem hpd gibt er einen Einblick in das Leben mit seiner Frau und den fünf Kindern seit dem 7. Oktober. Er ist überzeugt: Israels Gesellschaft wird auch diese Krise überstehen und gestärkt aus ihr hervorgehen. 

hpd: Wie hast du den 7. Oktober erlebt, Dani?

Dani R.: Um 6:30 Uhr am Morgen wurden wir von einem Raketenalarm geweckt. Innerhalb von Sekunden holten meine Frau und ich unsere fünf Kinder aus dem Bett und rannten in den Luftschutzkeller. Zum Glück waren wir beide zuhause. Kürzlich musste ich das mit den Kindern alleine bewältigen, was nicht ganz einfach war. 

Gab es schon oft Raketenalarme?

Nein, dieses Jahr war der erste Alarm am 7. Oktober bei uns. In den Dörfern neben dem Gazastreifen ist das anders, dort gibt es immer wieder Raketenalarm, das gehört dort leider zum Alltag. Doch Sirenen in Zentralisrael kommen eigentlich nie ganz überraschend, es ist jeweils eine Entwicklung. Erst eine Rakete im Süden und dann ein Angriff der Luftwaffe, es war immer eine Abfolge von kriegerischen Ereignissen, die wir beobachten konnten. Es hat sich also immer abgezeichnet, wenn etwas auf uns zukam. Am 7. Oktober war sofort klar, dass es nicht "normal" war.

Die Hamas regiert seit 2007 im Gazastreifen und es gab immer wieder kurze Kriege, zuletzt 2022 gegen den Islamischen Djihad. Diesmal, am 7. Oktober, wurde Israel total überrascht. Als Täuschungsmanöver schickte die Hamas in den letzten Monaten immer wieder zahlreiche Kämpfer zum Zaun zwischen Israel und Gaza, so dass Israel keine Warnsignale mehr aussendete, als es dann tatsächlich zum Angriff kam. Es war ein bisschen wie in der Fabel "Der Schäfer und der Wolf". Die israelischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste waren überzeugt, dass die Hamas kein Interesse an einer Eskalation des Konflikts hat. Sie haben sich schwer getäuscht. 

Dani R. (Name ist der Redaktion bekannt, aus Sicherheitsgründen geändert), 36, ist im Kanton Zürich geboren und aufgewachsen. Er hat in der Schweiz Kommunikation studiert und ist im Alter von 24 Jahren nach Israel ausgewandert. Er wohnt heute in Raanana, 20 Minuten nördlich von Tel Aviv, ist verheiratet und Vater von fünf kleinen Kindern. Beruflich ist er als Unternehmer tätig und arbeitet von Israel aus unter anderem für eine Schweizer Firma. 

Mit fünf Kindern in den Luftschutzbunker – wie lange braucht ihr dafür?

Dort, wo wir wohnen, nördlich von Tel Aviv, haben wir 90 Sekunden, bis die Raketen einschlagen beziehungsweise abgeschossen werden vom Iron Dome-Raketenabwehrsystem. Wir müssen aber mit allen Kindern jeweils zwei Stockwerke nach unten rennen. Gleich neben dem Gazastreifen sind es lediglich 15 Sekunden, bis die Raketen oder sonstige Geschosse einschlagen. In unserem Luftschutzbunker haben wir 50 Liter Wasser, Nahrung für ein paar Tage, eine Taschenapotheke etc. deponiert, so dass wir einige Zeit da unten überleben könnten.

Was geschah am 7. Oktober nach dem Raketenalarm?

Anschließend an die Raketenwarnung und den Aufenthalt im Bunker gingen wir als Familie trotz allem in die Synagoge, wir feierten das Simchat Tora-Fest. Langsam erreichten uns via Medien und Freunde die ersten Schreckensmeldungen von einem brutalen Lynch an einem Soldaten und Berichte von Hamas-Terroristen, die auf Geländewagen in israelische Dörfer eingedrungen sind. Kurz darauf hörten wir davonbrausende Autos – Soldaten im Urlaub, die in Windeseile Richtung Süden fuhren. Aber niemand hatte eine Ahnung davon, dass in diesen Stunden über 1.000 Israelis bestialisch ermordet, gefoltert und vergewaltigt wurden und dass auch eine große Anzahl von Kindern und Babies getötet und 240 israelische Geiseln in die palästinensische Küstenenklave verschleppt wurden. 

Wann wurde dir das Ausmaß des Überfalls bewusst?

Am Abend des 7.Oktober war von 40 Toten die Rede, kurz darauf von 100. Erst innerhalb der nächsten 2 bis 3 Tage wurde das Ausmaß bekannt und man begann zu verstehen, dass ein brutales Massaker stattgefunden hatte. Erst Tage später wurden mehr und mehr auch die sexuellen Verbrechen und die Folter an Zivilisten, inklusive Kindern, aufgedeckt. 

Warum konnte die Hamas mit rund 3.000 Kämpfern so einfach nach Israel einmarschieren? 

Israel hat fatale Fehler begangen, bei der Prävention und der Reaktion. Bei der Prävention haben die Geheimdienste total versagt, Anzeichen, die auf etwas hindeuteten, wurden nicht ernst genommen. Zu viele Soldaten wurden in den letzten Monaten ins Westjordanland verlegt, weil es dort zu vielen kleinen Anschlägen gegen Soldaten und Zivilisten kam, mit Dutzenden von Toten allein im Jahr 2023. Die Region um den Gazastreifen wurde vernachlässigt, man verließ sich zu stark auf den High-Tech-Zaun. 

Es marschierten rund 3.000 schwer bewaffnete Hamas-Kämpfer nach Israel ein. Stundenlang konnten die Terroristen foltern, abschlachten, vergewaltigen, verbrennen. Die Armee reagierte zu spät und nicht gut genug organisiert. Viele Soldaten und auch bewaffnete Zivilisten machten sich auf eigene Faust auf in Richtung Süden, um den Vormarsch zu stoppen und Leben zu retten. Viele bezahlten mit ihrem eigenen Leben dafür. 

Das sind die ersten Erkenntnisse. Die Nachbearbeitung und das Ziehen von Schlüssen werden Monate und Jahre dauern.

"Man geht nicht davon aus, dass dieser Krieg bald vorbei sein wird."

Wie sieht es in deinem Umfeld aus?

Ein ferner Bekannter von mir, ein junger Kinderarzt und Vater von sieben Kindern, wurde an diesem schwarzen Tag an die Front gerufen. Noch am selben Morgen wurde er erschossen. Aus unserer Kleinstadt starben rund zehn junge Menschen, viele davon waren auf dem Nova-Musikfestival. Die Meldungen zu Opfern des Krieges reißen bis heute nicht ab, jeden Tag sterben Soldaten und Zivilisten.

Wie gefährlich ist es für euch wirklich?

Im Moment ist die Gefahr da, aber es ist mehrheitlich ruhig im Zentrum des Landes. Gefährlich ist es vor allem für die Soldaten. Es gibt hier auch sehr viele Familien, die aus dem Norden und dem Süden hierher gekommen sind. Die grenznahen Orte sind evakuiert worden. Wir waren ein paar Tage in der Schweiz, während dieser Zeit kam eine Familie aus Ashkelon zu uns ins Haus, nun haben sie eine andere vorübergehende Bleibe gefunden. Ashkelon ist eine Stadt in der Nähe des Gazastreifens und sie wurde schwer in Mitleidenschaft gezogen.

Ein Freund von mir wurde in die Armee eingezogen, er hat seine kleinen Kinder seit dem 7. Oktober zweimal gesehen, seine Frau schreckt auf, wenn es wieder Berichte von Toten und Verletzten gibt und hat jedes Mal Angst, wenn jemand an ihrer Tür klingelt – es könnte der psychologische Dienst der Armee sein, der vorbeikommt, um vom Tod ihres Mannes zu berichten. 

Wo kommen die Menschen unter?

In leeren Hotels, bei Familienangehörigen, Bekannten, etc. Die Touristen sind ja weg. Die Hotelzimmer stehen zur Verfügung. Nun wurden sogar Schulen eröffnet in diesen Hotels, damit die Kinder etwas Normalität erhalten. Man geht nicht davon aus, dass dieser Krieg bald vorbei sein wird.

Wie lange wird der Krieg aus eurer Sicht noch dauern?

Der Punkt ist der: Ein beträchtlicher Teil der israelischen Bevölkerung ist eigentlich sehr regierungskritisch. Aber im Moment geht es nicht darum, ob man links oder rechts ist, ob man Netanjahu mag oder nicht. Es ist ein Verständnis da, dass wir jetzt überleben müssen. Dinge, die wir früher diskutiert haben, sind nicht mehr relevant. Der Krieg mit der Hamas kann noch ein paar Wochen oder Monate dauern. Aber es ist gut möglich, dass die Hisbollah-Miliz im Libanon noch stärkere Angriffe auf Israel lanciert und die Situation im Norden eskaliert. Ein Krieg im Norden könnte Jahre dauern. 

Beispielbild
Suchanzeige für entführte Israelin. (© Dani R.)

Was ist das Ziel von Israel?

Erstens geht es darum, die 240 Geiseln zu befreien, darunter auch 30 Kinder, inklusive Babys. Es kursierten am 7. Oktober ja ganz schreckliche Bilder, wie Kinder von palästinensischen Zivilisten in Gaza geschlagen wurden und wie Kleinkinder in Tierkäfigen ausharren mussten. Wo die 240 Geiseln heute sind, wie es ihnen geht, wie viele von ihnen noch leben, wissen nur die Terroristen selbst. 

Das zweite Ziel ist, diejenigen, die das Massaker verübt haben, zur Rechenschaft zu ziehen. Viele der Hamas-Kämpfer, welche die Massaker verübt haben, sind nach dem 7. Oktober in den Gazastreifen zurückgekehrt und haben sich unter dem Shifa-Spital und an anderen Orten in den Tunnels verkrochen. Die Zerstörung der militärischen Infrastruktur ist natürlich auch von großer Bedeutung für Israel.

Das Dritte ist, längerfristig die Ruhe wiederherzustellen. Israelis haben das Recht, in ihrem Land zu leben, ohne stets Angst haben zu müssen, dass wieder 3.000 blutrünstige Fanatiker einmarschieren. Auch die Hisbollah im Libanon und andere Milizen in Nahen Osten müssen einsehen, dass es keine gute Idee ist, Israel anzugreifen. 

Von wem nehmt ihr die größte Solidarität wahr?

Einerseits ist sicher eine große Solidarität innerhalb der Bevölkerung spürbar. Zudem helfen und spenden sehr viele jüdische Gemeinden weltweit. Es gibt auch sehr viele Christen in den USA, die spenden. Die Dankbarkeit gegenüber den USA ist sehr groß, weil sie nicht nur mit Worten, sondern auch finanziell und militärisch helfen. Andere Länder wie Deutschland haben uns auch unterstützt, Scholz war da und erlebte einen Raketenangriff hautnah. Es gibt auch viel Solidarität in den Sozialen Medien, die gleicht den ganzen Hass etwas aus, der dort gesät wird. 

Die anderen sind an der Front, du sitzt im Büro. Was ist dein Beitrag?

Das ist eigentlich ein Paradox. Man sitzt im Büro und hört, dass beispielsweise vier junge Männer umgekommen sind. Die hätten noch ihr ganzes Leben vor sich gehabt und ich sitze hier am Schreibtisch. Aber andererseits hat jeder seine Aufgabe und ich helfe mit, dass die Wirtschaft nicht komplett zusammenbricht. Ich leiste Freiwilligenarbeit, wir unterstützen Familien, deren Väter im Krieg sind, wir schicken ihnen Fresspäckchen an die Front, solidarisieren uns und helfen mit allem, was wir können.

Wie geht es dir?

Ich brauchte ein bis zwei Wochen, bis ich damit beginnen konnte, das Ganze ein bisschen zu verdauen. Ich muss meinen eigenen Medienkonsum bewusst drosseln. Ich informiere mich gezielt zwei Mal täglich und habe Freunde, die mich sofort benachrichtigen würden, falls es wirklich etwas Relevantes gäbe. Es ist extrem belastend, sich mit all diesen Berichten der Folter, Massenvergewaltigungen und so weiter zu befassen. Es gibt einen Film, der vorerst nur Diplomaten, Politikern und ausländischen Militärs gezeigt wird. Die Hamas-Kämpfer trugen teilweise Bodycams und filmten ihre Taten. Psychologen sagen, dass das Anschauen des Films schwere psychische Schäden verursachen kann. Vielleicht macht es gewissen Kreisen klar, mit welchen Bestien man es zu tun hat, aber für die Bevölkerung sehe ich keinen Mehrwert, wenn sie solche Bilder sehen. In einer Szene reißen die "palästinensischen Freiheitskämpfer" einem Vater ein Auge aus, mit dem verbleibenden Auge muss er dann zuschauen, wie seine Tochter zu Tode gefoltert wird. Es gibt Szenen, in denen Kindern Gliedmaßen abgehackt werden. Ich möchte so etwas nicht anschauen müssen. 

Wie ist die Medienkompetenz und der Umgang mit Fake News und Propagandavideos?

Ich selbst habe nicht viele Fake News zu sehen bekommen. Ein Paradebeispiel ist aber die Geschichte des Gaza-Spitals mit den 500 Toten, die die Hamas verbreitet hat. Sie sagten, das Spital sei von einer israelischen Rakete getroffen worden. Alle Medien, auch die in der Schweiz, haben die Information unkritisch übernommen und publiziert. Das hat zu Demonstrationen in der arabischen Welt und anderswo geführt. Nach ein paar Tagen wurde klar, dass keine 500 Leute gestorben sind und nicht das Spital, sondern ein Parkplatz neben dem Spital getroffen wurde. Israel und diverse Geheimdienste haben dann Satellitenbilder analysiert und dargelegt, dass es eine Rakete des Islamischen Djihad war, die auf Israel abgefeuert wurde und ihr Ziel nicht erreicht hat, sondern neben dem Spital explodierte und palästinensischen Zivilisten das Leben kostete. 

Das ist einfach ein Beispiel, das zeigt, wie die Hamas die Meldung extra verbreitet hat, weil sie wussten, dass die Medien die News ungefiltert verbreiten und so die Legitimation von Israel leidet, der Handlungsspielraum der israelischen Armee eingeschränkt wird.

Die Hamas geht also taktisch geschickt vor?

Genau, die waren auch super vorbereitet, was die Ausschlachtung der Medienberichterstattung angeht. Sie haben beispielsweise Tiktok- und Instagram-Influencer, die im Shifa-Spital 24/7 verletzte und tote Zivilisten filmen, die leider zu Schaden kommen bei den kriegerischen Auseinandersetzungen im Gazastreifen. 

So schüren sie den Hass auf Israel und lenken davon ab, was am 7.Oktober geschehen ist. Das haben sie natürlich schon von langer Hand eingefädelt und viele der westlichen Medien haben ihre Hausaufgaben nicht richtig gemacht und tappen täglich in die Hamas-Medienfalle. Das begann schon am 7.Oktober, als Freelancer, die für westliche Medien arbeiten, mit dabei waren, als die Hamas-Terroristen in Israel gewütet haben (Anm. d. Red.: und offenbar vorab über das Vorhaben informiert waren). Sie dokumentierten die Gräueltaten der Hamas. Das wirft in meinen Augen ein sehr schlechtes Licht auf die westlichen Medien, die lokale Angestellte haben, die sich für so etwas einspannen lassen.

Was könnten die Medien besser machen?

Es ist ein asymmetrischer Konflikt. Die Hamas hat als Ziel die Vernichtung Israels und möchte auch, dass es möglichst viele palästinensische Opfer gibt. Das hilft ihnen dann natürlich, wenn Erdoğan in der Türkei und die arabischen und europäischen Politiker und Bürger wütend auf Israel werden und sie so das Ressentiment auf Israel schüren können. 

Israel hat kein Interesse daran, Zivilisten zu Schaden kommen zu lassen. Einerseits bringt das militärisch überhaupt nichts, andererseits schadet es dem Ansehen Israels enorm. Aber genau deshalb verschanzen sich die Hamas unter Spitälern, Schulen, Moscheen und ähnlichen Institutionen. Sie schießen von dort ihre Raketen auf Israel und richten ihre Kommandozentralen so ein, dass sie ganz nah bei Zivilisten sind. Es ist sehr wichtig, dass die westlichen Medien dies differenzierter anschauen und die Fakten prüfen.

Wie informierst du dich?

Ich habe mir einen Mix zusammengestellt. Ich informiere mich über Zeitungen und Online-Portale aus der Schweiz, Amerika, Israel und auch auf arabischen Kanälen. Ich versuche, das ganze Spektrum anzuschauen. Ich weiß, dass es für Journalisten enorm schwierig ist, die Situation zu erfassen. Wichtig ist vor allem auch, dass man sich den 7. Oktober präsent hält. Das ist der Grund, weshalb wir heute im Krieg sind.

Wie reagieren deine Kinder auf die Situation?

Neulich brachte ich mein Baby im Kinderwagen an die frische Luft in unseren Garten. Der fünfjährige Bruder rannte sofort zu mir und sagte, das sei gefährlich, er könne draußen von einer Rakete getroffen werden. Eine Stunde später gab es einen Raketenalarm, wir rannten wiederum in den Luftschutzkeller, nach ein paar Sekunden hörten wir Explosionen. Ein Teil der Raketen wurde abgeschossen, eine landete auf einem Haus in der Nähe von Tel Aviv und zerstörte einen Großteil davon. Zum Glück kamen keine Personen zu Schaden. 

Die Kinder zeigen aber auch viel Verständnis für die Situation, vor allem die größeren. Wenn es Raketenangriffe gibt, haben die Kinder schon noch ein bisschen Angst, aber sie sind im Moment noch nicht traumatisiert von den Erlebnissen. Wichtig ist, dass wir ihnen Stabilität geben und Aufmerksamkeit. Dass wir ihnen altersgerecht erklären, was geschieht und was das ist, dieser Krieg. Aber dass wir uns auch nicht einschränken lassen und eben trotzdem mit ihnen zum Spielplatz gehen. Wir probieren, soweit wie möglich, eine Routine ins Leben zurückzubringen. Das ist ja auch das Ziel der Terroristen, diese zu zerstören und ein normales Leben zu verunmöglichen.

"Wichtig ist (...), dass man sich den 7. Oktober präsent hält. Das ist der Grund, weshalb wir heute im Krieg sind."

Warum geht ihr nicht einfach in die Schweiz? 

Im Zentrum des Landes stufe ich die Situation im Moment für Zivilisten nicht als überdurchschnittlich gefährlich ein. In Israel kann es immer Terroranschläge geben, das ist und war leider schon immer ein Teil des Lebens hier, auch vor der Staatsgründung 1948 und bevor Israel 1967 die militärische Kontrolle über das Westjordanland übernahm. 1929 wurde die jahrhundertealte jüdische Gemeinde in Hebron massakriert, 69 Juden wurden ermordet. Auch dabei wurden jüdischen Opfern die Augen ausgestochen und Hände abgehackt. Genauso wie 94 Jahre später, im Jahr 2023. 

Wir waren einige Tage in der Schweiz, sind dann aber wieder zurückgekommen. Wir möchten damit auch ein Statement setzen – wir lassen uns nicht von hier vertreiben, das ist unser Zuhause, hier stehen wir ein für die westliche Zivilisation und ihre Werte.  

Du bist in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Wieso hast du Israel als deinen Wohnort gewählt?

Ich war schon als Teenager fasziniert von Israel und verbrachte dann ein Jahr hier in einem Kibbutz und war auch als Sanitäter im Einsatz in einem Krankenwagen – beides sehr prägende Erfahrungen. Vor 13 Jahren bin ich dann offiziell eingewandert.

Meine Frau ist aus Israel, ihre Familie ist ursprünglich aus dem Irak, aus einer der ältesten jüdischen Gemeinden der Welt, die auf das babylonische Exil zurückgeht. 1951 wurde ihre Familie gewaltsam aus Bagdad vertrieben, nach 2.600 Jahren. Sie flohen nach Israel, mussten aber alles zurücklassen. Andere Familienmitglieder hier sind Nachfahren von Juden, die um rund 1780 aus Osteuropa nach Israel gekommen sind. Natürlich war das eine andere Art des Einwanderns als bei mir, gefährliche Bootsfahrten und Wanderungen durch die Wüste waren früher die einzigen Möglichkeiten, um nach Israel zu kommen. 

Auch deine Frau hat eine dezidierte Meinung zur Situation und postet diese auch auf Facebook. Seid ihr euch einig?

Es gibt politische Dinge, in denen wir uns einig sind und andere, in denen sich unsere Meinung unterscheidet.

Wie wichtig ist die Politik in eurer Ehe?

Die ist kein großes Thema. Wir sind mit allen Unterschieden ein super Team. Mit fünf Kindern ist man sehr fokussiert und hat mehr als genug zu tun. 

Wie siehst du die Zukunft mit den Palästinensern?

In den letzten Jahren hat sich in Israel die Doktrin durchgesetzt, dass der Konflikt verwaltet werden kann. Das Ziel war Ruhe, so viel Normalität wie möglich zu haben. Auch wenn das heißt, dass terroristische Gruppierungen wie die Hamas aufrüsten können. Nach dem Massaker an über 1.000 Israelis ist damit Schluss. Die meisten Israelis sagen, dass sie lieber kurzfristig auf Ruhe und Stabilität verzichten, damit sich der 7. Oktober niemals wiederholen kann. Darum unterstützen auch die meisten Israelis die Bodenoffensive im Gazastreifen, trotz der gefallenen Soldaten und der wirtschaftlichen und politischen Konsequenzen. Es geht hier um die Existenz in Israel. Dafür müssen leider auch Opfer gebracht werden. Freiheit hat ihren Preis. 

Beunruhigt dich der Antisemitismus in Europa?

Erstaunt bin ich überhaupt nicht. Leider ist er gerade bei gewissen Bevölkerungsgruppen mit einem Migrationshintergrund relativ stark verbreitet. Und wie schon in der Vergangenheit dient er auch als Ventil für eine Vielzahl von Frustrationen, die weder mit Israel noch mit der jüdischen Bevölkerung in Europa oder anderswo etwas zu tun haben. Jüdische Institutionen werden stark geschützt, in Deutschland und Frankreich sind vor jeder jüdischen Schule schwerbewaffnete Polizisten stationiert. Das gehört seit Jahren zum Alltag. Meiner Meinung nach wird noch mehr Schutz nötig in naher Zukunft. Im Quartier, in dem wir in Israel wohnen, sind rund 10 Prozent der Einwohner aus Frankreich. Viele fühlten sich dort als Juden nicht mehr sicher. Das wirft viele Fragen auf. 

Wie hast du die letzten zehn Jahre erlebt?

Das Land Israel ist noch immer im Aufbau und wird in den Medien ganz anders wiedergegeben als es in Wirklichkeit ist. Das Zusammenleben der Juden und Muslime funktioniert eigentlich sehr gut. Wir haben hier in unserem jüdischen Quartier auch einen Gärtner, der muslimisch ist. Unsere Zahnärztin ist eine muslimische Palästinenserin, die aber einen israelischen Pass hat. Aber genau diese Vertrauensbeziehungen werden im Moment auch zerstört, weil es auch solche Vertrauensbeziehungen gab, aus denen Informationen an die Gegenpartei flossen. In einem Kibbutz gleich beim Gazastreifen arbeitete beispielsweise Khalil, der dort Gartenarbeiten erledigt hat, die Menschen kannte und auch Einblicke in die Haushalte und Alltage erhielt, über Jahrzehnte. Bei Hamas-Kämpfern, die bei den Kämpfen in den Kibbutzim ums Leben kamen, wurden Papiere gefunden, auf denen extrem detailliert festgehalten war, wer wie und wo lebte. Informationen, die von Khalil stammen müssen, weil nur er all dieses Wissen haben konnte. Beispiel: Anzahl Personen pro Haushalt, Hund ja oder nein, Waffe ja oder nein, wo ist der Luftschutzkeller etc. 

Also habt ihr auch Angst vor Spionage?

Die offene Frage ist nun, ob er die Informationen als Spitzel freiwillig weitergegeben oder ob er diese unter Drohung rausgerückt hat. Geschichten wie diese zerstören die Vertrauensverhältnisse zwischen Israelis und Arabern, die hier arbeiten, aber nachhaltig. Viele werden nun wohl sagen, dass sie keine palästinensischen Arbeiter mehr beschäftigen möchten. Es geht um Risikominimierung. 

Es ist also kein Krieg der Regierung mehr, sondern die Feindschaft sickert auch in die Bevölkerung durch?

Das Misstrauen ist groß. Die israelischen Araber haben sich im letzten Monat mehr oder weniger solidarisch verhalten. Natürlich gab es solche, die sich auf die Seite der Hamas gestellt haben. Es kam aber nicht zu Ausschreitungen, es gab solche, die sich von der Hamas distanziert haben. Bei den israelischen Beduinen im Negev wurden Dutzende erschossen, von Raketen getroffen oder entführt. Die haben also auch selbst Opfer zu beklagen, haben stark unter dem Einmarsch gelitten und sind darum sehr wütend auf die Hamas und die Palästinenser im Gazastreifen. 

Hast du Kontakt zu den Gegnern?

Nein. Auch vor dem Krieg nicht.

Was wünschst du dir am meisten?

Dass die Geiseln frei kommen. Das ist das Wichtigste. Es ist ja nicht so, dass die 240 Menschen, unter ihnen auch viele junge Frauen, Kinder und auch Holocaust-Überlebende, drei Mal täglich eine warme Mahlzeit erhalten. Die werden wohl schwer misshandelt und ich glaube, da zählt jeder Tag. Wir müssen sie alle möglichst schnell befreien und in Sicherheit bringen.

Und dann hoffe ich natürlich, dass hier wieder einmal eine gewisse Normalität und Ruhe einkehrt. Aber das wird noch eine Weile dauern. 

Das Interview führte Lisa Arnold für den hpd.

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