„Der neue Humanismus“ – Menschenbild

(hpd) „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ - diesem im Artikel 1 der Grundrechte verankerten Grundsatz wird jeder Humanist ohne zu zögern zustimmen. Die Frage, worüber sich diese Würde des Menschen definiert, ist wiederum nicht mehr so eindeutig zu beantworten.

Hier scheiden sich die Geister, und hier unterscheidet sich auch der „alte“ oder klassische Humanismus von dem, was man als „neuen Humanismus“ bezeichnen kann. Was man unter diesem Begriff zu verstehen hat und was der „neue Humanismus“ denn „Neues“ zu sagen hat, darum geht es dem neusten von Helmut Fink herausgegebenen Sammelband „Der neue Humanismus“.

Der Sammelband beinhaltet die schriftliche Fassung von Vorträgen einer Tagung, die im Jahr 2008 stattgefunden hat. Im Zentrum stehen Grundgedanken, Theorien und die Geschichte eines Denkens, die versuchen, den Menschen über seine empirische Realität zu deuten und zu verstehen, um hieraus auch Antworten auf gesellschaftliche und soziale Fragen, aber auch nach einem Lebenssinn, und ethischen Werten abzuleiten. „Die „plakative Ausrufung eines „neuen Humanismus““ soll hierbei, wie Fink in seiner Einleitung erklärt, „weniger Anstoß erregen als vielmehr Anstoß geben - Anstoß zur konzeptionellen Weiterentwicklung des Humanismus und zur schrittweisen Beseitigung seiner früheren Defizite und Einseitigkeiten.“

„Der neue Humanismus“

In seiner Einleitung gibt Helmut Fink einen guten und differenzierten Überblick über das, was unter dem „neuen Humanismus“ zu verstehen ist, aber auch über die Probleme, die sich aus dem Versuch des „neuen Humanismus“ ergeben, den Menschen konsequent als Teil der Natur zu verstehen. Denn während für den „alten Humanismus“ die menschliche Vernunft, seine Geistigkeit und sein Bewusstsein im Mittelpunkt standen, ist - wie Fink erklärt - für den „neuen“ Humanismus „die konsequente Orientierung an den Bedürfnissen und Interessen des Menschen, jedes Menschen, an seiner Freiheit und Verantwortung, an seiner erstrebten Individualität und Selbstbestimmung und an den gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Verwirklichung“ wesentlich.

Als „weltliche“ und „naturalistische“ Weltanschauung bewertet der „neue Humanismus“ die biologische Natur des Menschen, seine Triebe und Bedürfnisse als einen untrennbaren Bestandteil des Menschen und nicht, wie der „klassische Humanismus“, als Gegensatz bzw. sogar als Bedrohung des humanistischen Ideals. Es geht um den Versuch, den Menschen so zu verstehen, wie er seiner Natur nach ist und welche Potenziale und Möglichkeiten er hat. Da er seinen Inhalten wissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde legt, ist der „neue Humanismus“ fast notwendigerweise auch säkular. Der „neue Humanismus“ ist, so Fink, eine „Absage an Gott“. Indem er aber den konkreten Anspruch stellt, Antworten auf ethische, politische und soziale Fragen, wie aber auch auf Fragen nach einem Lebenssinn und der Verortung des Menschen in der Welt zu geben, ist er auf der anderen Seite, wie der Herausgeber feststellt, auch „eine Zusage an den Menschen“.

Die einzelnen Beiträge

- Der erste Beitrag im Sammelband stammt von Michael Schmidt-Salomon. Unter dem Titel „Ethik für nackte Affen“ setzt sich Schmidt-Salomon in gewohnter Klarheit mit den Konsequenzen auseinander, die aus der „Entzauberung des Menschen“ und der Erkenntnis, dass auch der Mensch im Grund nicht „mehr“ als ein „Trockennasenaffe“ sei, für den „freien Willen“ oder moralische Konzeptionen von Gut und Böse erwachsen.

- Klar, lehrreich und übersichtlich geht es dann weiter, wenn Theodor Ebert, in: „Epikur - ein Religionskritiker und Freigeist in der griechischen Antike“, wesentliche Elemente der Philosophie Epikurs beschreibt.

- Der dritte Beitrag, „Irdische Freuden“, von Bernulf Kanitscheider, schließt dann, indem er sich ausführlich mit der Geschichte und den verschiedenen Strömungen der hedonistischen Philosophie und Ethik in der Antike und dem hedonistischen Grundgedanken auseinandersetzt, thematisch an Ebert an.

- Die nächsten beiden Aufsätze von Eckard Voland und Gerhard Schurz beschäftigen sich auf etwas unterschiedliche Weise mit der Frage, inwieweit Religionen als Ergebnis der evolutionären Anpassung zu verstehen sind.

Die Frage, die sich Eckard Voland als klassischer Evolutionsbiologe in seinem Beitrag, „Eine Naturgeschichte Gottes“, stellt und schließlich positiv beantwortet, lautet: „Ist Religiosität biologisch evolviert … weil mit ihr ganz direkt und unmittelbar Fitnessvorteile im struggle for live verbunden waren?“

- Nach Gerhard Schurz´ Erkenntnis, dessen Aufsatz, „Das Janusgesicht der Religion“, denselben Grundgedanken verfolgt, besteht ein wesentlicher Vorteil der Religion darin, dass diese, indem sie den Menschen positive Illusionen und einen Lebenssinn gibt, einen die Psyche des Menschen stärkenden „Placeboeffekt“ ausübe. Aufgrund der negativen Auswirkungen von Religion gilt es für Schurz dennoch, diese zu überwinden - wobei „säkularisierte Religionen“ den damit verbundenen Verlust des Placeboeffektes wieder ausgleichen könnten. Die Antwort darauf, worauf „säkularisierte Religionen“ sich konkret begründen bzw. woran sich ihre Anhänger orientieren könnten, lässt Schurz allerdings leider offen.

- In „Der Mensch zwischen Natur und Kultur“ versucht Josef H. Reichholf, mit Blick auf das Individuum wie auch auf die menschliche Kultur zu erklären, „warum Homo sapiens so geworden ist, wie er ist“ und welche Aufgabe dem „Humanismus“, angesichts des biologischen Erbes, das der Mensch bis heute in sich trägt, zukommt.

- Technische Fortschritte der Gentechnik, Stammzellentherapie und die Entwicklung neuronaler Implantate, mit denen Bernd Vowinkel sich in seinem Artikel „Auf dem Weg zum Transhumanismus“ auseinandersetzt, sind grundsätzlich natürlich interessante und wichtige Themen. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch offensichtlich genug damit zu tun hat, sich selbst zu verstehen und zu erhalten, lässt es sich allerdings fragen, wie sinnvoll und notwendig es ist, über ein ewiges Leben in einem künstlichen Körper, eine Ethik für Hominiden oder deren mögliches Leid nachzudenken.

- Der „neue Humanismus“ gründet auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Aber ist er damit immer objektiv und frei von subjektiven weltanschaulichen Vorstellungen? Indem er begründet, warum er der Auffassung ist, dass auch Wissenschaft nicht ohne weltanschauliche Rahmenbedingungen möglich ist und die Grenzen und Probleme, die sich daraus für den „neuen Humanismus“ ergeben, aufzuzeigen versucht, wehrt sich Winfried Löffler in seinem Artikel: „Ist der "Neue Humanismus" eine „wissenschaftliche Weltanschauung“, gegen eine naive Wissenschaftsgläubigkeit?

- Kritisch weiter geht es auch in dem Beitrag von Armin Pfahl-Traughber. „Ist der Atheismus auch eine Religion?“, so die Frage, die Pfahl-Traughber in seinem Beitrag zu beantworten versucht. Auch wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass dem nicht so ist, findet Pfahl-Traughber in seiner systematischen Analyse der beiden Weltsichten doch viele Parallelen. Demnach lassen sich auch beim Atheismus die Neigung, Feindbilder zu kreieren, Dogmen aufzustellen, sowie Gut-Böse-Pauschalisierungen und Erlösungsvorstellungen usw. finden.

- Im letzten Beitrag des Bandes schließlich sucht Franz Josef Wetz nach „triftigen Gründen“ dafür, dass auch auf der Basis des „neuen Humanismus“, demzufolge der Mensch nur ein „schmalnasiges Säugetier ohne angeborene Würde“ sei, noch Selbstachtung möglich ist.

Kritische Anmerkungen

Die Vielfalt der Beiträge macht den Sammelband interessant und gibt die Möglichkeit, den „neuen Humanismus“ aus verschiedensten Perspektiven zu betrachten. Allerdings findet die ursprüngliche Fragestellung, was ist bzw. was kann ein „neuer Humanismus“ sein und was kann er leisten, in manchen Beiträgen etwas wenig Beachtung. Denn, wie Helmut Fink schon in der Einleitung treffend bemerkt: mit einer rein deskriptiven Darstellung allein, so detailliert sie auch sein mag, ist es nicht getan.

Allgemein bleiben wichtige Fragen und Erkenntnisse über den Menschen in der Sammlung unberücksichtigt. So wird z. B. das soziale oder auch das religiöse Verhalten und Denken nur selektionstheoretisch zu erklären versucht. Tatsächlich aber spricht alles dafür, dass die Fähigkeiten zu bestimmten Verhaltensweisen des Menschen zwar angeboren sind, die wesentliche Ausprägung jedoch in der Ontogenese erfolgt und eigenen Bedingungen unterliegt. Eine evolutionsbiologische Erklärung über die Selektionsmechanismen bestimmter Anlagen reicht da bei Weitem nicht aus. Auch wenn ein Sammelband natürlich nie alles abdecken kann: Eine entwicklungspsychologische Auseinandersetzung mit dem Menschen fehlt hier. Denn, da die sozialen Bedingungen, „damit er (der Mensch) sein Potenzial eines freundlichen, kreativen, humorvollen Wesens entwickeln kann“, gegeben sein müssen, ist es, wie Michael Schmidt-Salomon schreibt, „die große theoretische wie praktische Aufgabe des neuen Humanismus, derartige Bedingungen nicht nur zu identifizieren, sondern auch für ihre gesellschaftliche Umsetzung zu sorgen."

Was in dem Beitrag über den Transhumanismus seine Zuspitzung in dem Wunsch erfährt, den fehlerhaften und mangelbeladenen Menschen durch perfektionierte Hominiden abzulösen, wird auch in den anderen, vor allem naturwissenschaftlich orientierten Beiträgen immer wieder deutlich, nämlich eine vermeintliche Diskrepanz zwischen den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und den ethischen Ansprüchen an den Menschen.

So schreibt etwa Josef H. Reichholf: „In der Überwindung des primären Egoismus des Individuums und den sekundären der Gruppe, zu der es gehört, liegt also die Herausforderung des Humanismus. Die Interessen der größeren Gemeinschaft müssten dominant werden können und die persönlichen wie die Gruppen-Egoismen in akzeptable Schranken verweisen. Das ist ganz klar eine gesellschaftspolitische Aufgabe“. Wie letztlich auch in den beiden Beiträgen von Voland und Schurz bleibt hierbei offen, worauf diese Überwindung sich gründet bzw. woran sie sich orientiert.

Während Schmidt-Salomon im neuen Humanismus klar seinen Frieden mit der neuen Sicht auf den Menschen findet, bzw. erkennt, dass damit auch eine Befreiung von unerfüllbaren Ansprüchen verbunden ist, lassen z. B. auch die Ausführungen von Franz Josef Wetz Zweifel an diesem Frieden aufkommen, wenn dieser die dem „neuen Humanismus“ nach noch mögliche Selbstachtung als „Schwundstufe“ der Selbstachtung im „alten Humanismus“ bezeichnet (auch wenn er diese „Schwundstufe“ als das wohl schon immer Wichtigste daran anerkennt).

Allgemein bekommt man insbesondere bei den naturwissenschaftlichen Beiträgen das Gefühl, dass die Hoffnung in den Menschen und seine Natur, die mit dem „neuen Humanismus“ verbunden ist, von vielen nicht geteilt wird. Und auch wenn die Soziobiologie evolutionsbiologische Anreize, sich sozial verträglich zu benehmen, identifiziert hat, so sind es - wie im alten Humanismus auch - am Ende dann doch Aufklärung und Rationalität, die das ausgleichen sollen, was die Evolution vermeintlich nicht leisten konnte: den seiner Biologie nach egoistischen Menschen zu einem sozial verträglichen Wesen zu machen.

Für eine Weltsicht, die wie der „neue Humanismus“ von einer „Einheit des Wissens“ (Schmidt-Salomon) ausgeht, kann dies nicht ausreichen. Hier bleibt noch Vieles zu verstehen und Neues zu denken.

Fazit: Wie bei einem Sammelband häufig der Fall, sind die Beiträge bezüglich ihrer Klarheit und ihrem Erklärungswert in Hinblick auf das Titelthema sehr unterschiedlich. In jedem Fall aber gibt dieses Buch einen guten Überblick über die verschiedenen Herangehensweisen an den „neuen Humanismus“ und den Stand des Wissens und Denkens (zumindest) gelehrter deutscher Männer der Gegenwart.

Anna Ignatius

 

„Der neue Humanismus –wissenschaftliches Menschenbild und säkulare Ethik“, herausgegeben von Helmut Fink, Alibri Verlag, Aschaffenburg 2010,
ISBN 978-3-86569-059-3.

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich