Menschenfeindlichkeit in Deutschland, Folge 9

(hpd) Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung legt den Jahresbericht 2010 zur Verbreitung von Einstellungen im Sinne „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ vor. Darin konstatieren die Sozialwissenschaftler einen Anstieg der Muslimenfeindlichkeit und eine stärkere Verbreitung von Vorurteilen auch in höheren gesellschaftlichen Schichten.

Die Studien verdienen aufgrund ihrer kontinuierlich erhobenen Daten und den auf gesellschaftliche Kontexte bezogenen Ausführungen Interesse. Kritik verdient die etwas einseitige Fixierung auf Krisen als Bedingungsfaktoren für „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und die Auswahl mancher Einstellungsstatements zur Messung von Vorurteilen.

Seit 2002 veröffentlicht das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld alljährlich seine Forschungsergebnisse zu „Gruppenbezogner Menschenfeindlichkeit“. Damit meinen die unter der Leitung von Wilhelm Heitmeyer arbeitenden Sozialwissenschaftler ein Syndrom, das aus Einstellungen wie Antisemitismus, Etabliertenvorrechte, Fremdenfeindlichkeit, Heterophobie, Islamophobie und Sexismus besteht. Den „Bielefeldern“ geht es aber nicht nur um die quantitative Erfassung derartiger Auffassungen und Orientierungen. Sie wollen darüber hinaus auch Bedingungsfaktoren und Kontexte erforschen. Die Ausgabe „Deutsche Zustände. Folge 9“ des Jahresberichts für 2010 beinhaltet zum einen eine Bilanz zur Entwicklung im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Darüber hinaus sollen zum anderen die Auswirkungen der Finanzkrise untersucht werden. Es geht dabei um die Beachtung dreier Komponenten: gesellschaftliche Entwicklungen, subjektive Verarbeitung und Auswirkungen auf schwache Gruppen.

Die zwanzig Beiträge von „Deutsche Zustände. Folge 9“ widmen sich unterschiedlichen Aspekten: Zunächst geht es um die Entsolidarisierungswirkungen in Krisenzeiten und das Ausmaß „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ im europäischen Vergleich, um die Erscheinungsformen von Fremdenfeindlichkeit im lokalen Kontext und die Zusammenhänge von Armut und Menschenfeindlichkeit in acht europäischen Ländern. Dem folgen Beiträge zu den Folgen der Krisenbedrohung für die Entsolidarisierung und der Abwertung von Menschengruppen im vorgeblichen Namen der Gerechtigkeit, zur Ökonomisierung der Gesellschaft als Nährboden für Menschenfeindlichkeit und zur Gewaltbereitschaft als Folge bindungsloser Flexibilität. Eher journalistische Fallgeschichten widmen sich den „Autonomen Nationalisten“ in Dortmund oder der Berliner Straßenzeitungsverkäufer-Szene. Besondere Aufmerksamkeit finden außerdem thematische Zusammenhänge mit der gesellschaftlichen Elite, aber auch das Scheitern des „Hartz“-Kapitalismus.

Als allgemeines Ergebnis der Studien kann neben dem kontinuierlich anhaltend hohen Niveau von Einstellungen im Sinne von „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ zum einen der Anstieg von Ressentiments gegen den Islam und die Muslime und zum anderen die Verbreitung der angesprochenen Einstellungen auch in höheren gesellschaftlichen Kreisen konstatiert werden. Heitmeyer bemerkt: Vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung gelte es, „den Blick stärker als bisher auf die höheren Status- und Einkommensgruppen zu richten. Dies ist notwendig mit Hinblick auf die politischen Konsequenzen, die diese Exklusionsmechanismen zeitigen, als auch hinsichtlich des Eintretens für die Rechte schwacher Gruppen“ (S. 26). Die unterschiedliche Betroffenheit durch Krisen bedinge auch unterschiedliche Zustimmungsraten zu entsprechenden Einstellungen: „Der zentrale Befund ist ..., dass unter den eher wohlhabenden Menschen zwischen 2009 und 2010 ein deutlich höherer Anstieg solcher Einstellungen zu verzeichnen ist ...“ (S. 28).

Auch mit „Deutsche Zustände. Folge 9“ legen die „Bielefelder“ bedeutsame Daten und Erkenntnisse aus ihrem Forschungsprojekt vor. Im Vergleich zu ähnlichen Studien unterscheidet es sich dadurch, dass solche Erkenntnisse kontinuierlich und nicht nur sporadisch erhoben werden. Dies gestattet eine ansonsten nur schwer mögliche Analyse der Entwicklung im zeitlichen Verlauf. Außerdem fragen die Sozialwissenschaftler hier auch immer wieder nach den Auswirkungen gesellschaftlicher Entwicklungen wie Entsolidarisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft auf die untersuchten Einstellungen. Gleichwohl muss auch hier Kritik bezüglich der genutzten Items formuliert werden: Nicht jedes Einstellungsstatement misst auch die gemeinten Vorurteile. Darüber hinaus ziehen auch die hier vorliegenden Beiträge häufig eine zu einfache und gerade Linie von der Betroffenheit von Krisen zu menschenfeindlichen Einstellungen. Da ein solcher Kontext nicht bei allen Menschen nachweisbar ist, müsste noch nach anderen Faktoren gefragt werden.

Armin Pfahl-Traughber

 

Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände. Folge 9, Berlin 2010 (Suhrkamp-Verlag), 343 S., 15,00 €