Klerikale Produktpiraterie

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Caspar David Friedrich „Kreidefelsen auf Rügen“

DEUTSCHLAND. (hpd) Es ist angebracht, das Schlagwort der „christlich-jüdischen Kultur“ Deutschlands in den Facetten genauer zu betrachten. Drei ausgewählte Beispiele zeigen, dass für manches behauptete „christliche Kulturgut“ dieser Anspruch sachlich falsch ist und diese Kunstwerke recht gewaltsam als „christlich“ inkorporiert wurden.

Dass diese christlich-kulturelle Produktpiraterie sogar gänzlich einen nicht-christlichen Ursprung verschleiert, dafür hat Klaus Blees in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift MIZ ein 'klingendes Beispiel' beschrieben.

Klerikale Produktpiraten

Ich kann zu religiösen Zwecken komponierte Musik genießen, ohne den Glauben zu teilen, dem sie dienen soll. Immerhin gehören einige der großartigsten Werke der Musikgeschichte in diese Kategorie, und warum soll ich auf die Freude beim Hören etwa einer Messe von Mozart oder Rossini bloß wegen des liturgischen Kontextes verzichten? (1)

Und warum sollte ich als Atheist bestreiten, dass ich Franz Schuberts „Ave Maria“ für eines der schönsten Lieder des für seinen unerschöpflichen melodischen Einfallsreichtum und seine Ausdruckskraft bekannten Komponisten halte, obwohl es sich um ein Kirchenlied handelt?

Von Letzterem ging ich jedenfalls aus, bis ich kürzlich auf die offenbar nur hartgesottenen Klassikfans bekannte wirkliche Geschichte des Liedes aufmerksam wurde und damit auf ein Paradestück klerikaler Produktpiraterie. (2) Schuberts sogenanntes „Ave Maria“ ist nämlich keineswegs eine liturgische Komposition, sondern Teil der Vertonung einer nichtkirchlichen Verserzählung des schottischen Dichters Walter Scott, der den meisten durch seinen Roman „Ivanhoe“ bekannt sein dürfte. Schubert vertonte sieben Gedichte des von Adam Storck ins Deutsche übersetzten Scottschen Werks „The Lady of the Lake“ („Das Fräulein vom See“), die zusammen sein Opus 52 ausmachen. (3) Drei dieser Lieder sind Ellen Douglas, Protagonistin der Geschichte und Tochter eines schottischen Rebellenführers, in den Mund gelegt. Eines davon trägt folgerichtig den Titel „Ellens dritter Gesang“. (4) In dem auch als „Hymne an die Jungfrau“ bezeichneten Lied fleht Ellen Maria um Hilfe an. Dabei tauchen auch wiederholt die Worte „Ave Maria“ auf. Das Lied hat also durchaus religiösen Inhalt, aber das macht es nicht zum Kirchenlied, wie ja auch niemand das Gebet der Agathe aus Webers „Freischütz“ oder die Anrufung der Liebesgöttin Venus durch die „schöne Helena“ Offenbachs für liturgische Gesänge hält. Sicher käme auch niemand auf den Gedanken, Lieder, die mit den Worten „Raste, Krieger, Krieg ist aus“ oder „Jäger, ruhe von der Jagd“ in einem christlichen Gottesdienst zu singen. Das sind aber die Anfangszeilen von Ellens erstem und zweitem Gesang.

Dabei geht es allerdings um mehr als ein Missverständnis, denn häufig wird der Originaltext von Scott / Storck durch das lateinische Mariengebet „Ave Maria, gratia plena…“ ausgetauscht, auf diese Weise Schuberts Komposition zum Kirchenlied umgefälscht und der Mythos vom Schubertschen „Ave Maria“ kolportiert.

Selbst, wer sich etwa bei Youtube Originalversionen des Liedes anhören möchte (Ein Beispiel), ist der Penetranz dieses Mythos ausgesetzt. Denn dort sind zwar mehrere, zum Teil sehr gute Aufnahmen mit dem authentischen Text zu finden, doch sind sie so gut wie alle mit Marienkitsch der schlimmsten Sorte bebildert, Kitsch, der mit dem Inhalt von Ellens Lied nicht das Geringste zu tun hat. Ihr Gebet steht im Kontext von Scotts Geschichte. Ellen singt es in einer konkreten Notlage, als sie und ihr Vater auf der Flucht vor dem schottischen König James in einer Höhle Unterschlupf gefunden haben, was sich auch im Text niederschlägt. Ohne diesen Handlungszusammenhang ergibt der Originaltext keinen Sinn. Bei Youtube hilft es angesichts solch optischer Kontamination dann nur noch, das Motto „Augen zu und durch!“ wörtlich zu nehmen.

Der Missbrauchsvorwurf lässt sich auch nicht durch den zutreffenden Hinweis entkräften, Schubert sei ein frommer Christ gewesen und habe ja tatsächlich liturgische Kompositionen geschaffen, denn die Vertonung der Scott-Gedichte ist den sakralen Teilen seines Werkes nun mal genauso wenig zuzurechnen wie seine Vertonung der aus der Feder von Wilhelm Müller stammenden Zyklen „Die Winterreise“ oder „Die schöne Müllerin“. (5) In dem Lied „Gute Nacht“, das die „Winterreise“ eröffnet, ist von Gott dann auf diese Weise die Rede: „Die Liebe liebt das Wandern – Gott hat sie so gemacht – Von einem zu dem andern...“. Dem Kirchenchristentum stand Schubert ohnehin distanziert gegenüber, was sich deutlich in dem Fehlen des Bekenntnisses zur Katholischen Kirche im Glaubensbekenntnis der von ihm komponierten Messen niederschlägt.

Für Diebstahl geistigen Eigentums in Tateinheit mit dessen Verwandlung in geistliches Eigentum ist der Fall Schubert ohnehin nur eines von vielen Beispielen in der Geschichte des Christentums, das vielfach nichtchristliche Bräuche / Termine übernommen und umetikettiert hat Genannt sei das Weihnachtsfest und sein Ursprung als Wintersonnenwendfeier.

Eine besonders hörenswerte Aufnahme von „Ellens dritter Gesang“ enthält die CD „Schubert Lieder“ mit Anne Sofie von Otter (Gesang) und Bengt Forsberg (Klavier), Deutsche Grammophon 1997, durch deren Begleitheft ich erstmals vom hier geschilderten Sachverhalt erfuhr.

Klaus Blees

Anmerkungen:
(1) Aus religionskritischer Perspektive ist ohnehin jede Musik „weltlich“. Religiös sind bestimmte Kompositionen lediglich im Bewusstsein ihrer Schöpfer, Auftraggeber oder Konsumenten. Eine andere Frage ist dann, in welcher Form sich dieses Bewusstsein auf den Kompositionsstil auswirkt.
(2) Im Prinzip ist diese Geschichte im Internet leicht zu finden und unter anderem bei wikipedia nachzulesen. Aber dazu muss man erst mal wissen, wonach man sucht.
(3) Nicht nur Schubert griff auf Scotts Dichtung zurück. „The Lady of the Lake“ diente auch dem Libretto von Rossinis Oper „La donna del lago“ als Vorlage.
(4) Als sechstes Lied im von Schubert vertonten Teil der Erzählung wird es im Werksverzeichnis als Opus 52, Nr. 6 des Komponisten geführt.
(5) Achim Goeres weist auf die subversive Symbolik der „Winterreise“ hin und auf Schuberts Kontakte zu revolutionären Intellektuellen.