Lebenswelt als Marktgesellschaft

(hpd) Der in Harvard lehrende Philosoph Michael J. Sandel kritisiert das Eindringen des Marktdenkens in die soziale Lebenswelt. Die dazu geschilderten Beispiele geben einen bedrohlichen Eindruck von den gesellschaftlichen Folgen; gleichwohl hätte man sich dazu auch etwas mehr analytischen Tiefgang gewünscht.

Was versteht man unter der Kommerzialisierung der Lebenswelt? Einige Beispiele aus den verschiedensten Regionen der Welt geben darüber Auskunft: Die Handynummer eines Facharztes mit der Möglichkeit zur exklusiven Behandlung kostet in den USA zwischen 1.500 und 25.000 Dollar. Das nächtliche Schlangestehen am Capitol Hill in Vertretung eines Lobbiysten kostet zwischen 15 und 20 Dollar pro Stunde. Die Möglichkeit zur Emission einer Tonne Kohlenstoff in die Umwelt kostet in der Europäischen Union 13 Euro. Der Einsatz des Soldaten eines privaten Militärunternehmens in Ländern wie Afghanistan oder Somalia kostet die USA zwischen 250 und 1.000 Dollar pro Tag. Das Recht zur Erschießung eines Nashorns kostet in Südafrika 150.000 Dollar. Die Tätowierung von Körperteilen zu Werbezwecken kostet in Neuseeland 777 Dollar. Diese und andere Fälle ziehen sich durch das Buch „Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralische Grenzen des Marktes“, das der seit 1980 in Harvard lehrende Philosoph Michael J. Sandel vorgelegt hat.

Der Autor gehört im englischsprachigen Raum zu den einflussreichsten Denkern der Gegenwart. Seine an konkreten Fallbeispielen orientierten Vorlesungen ziehen Tausende an und haben mittlerweile so etwas wie Kult-Status erreicht. Sandels Ausgangspunkt in dem Buch ist folgende Feststellung: „Wir leben also heute in einer Zeit, in der fast alles ge- und verkauft werden kann. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben es die Märkte – und die damit verbundenen Wertvorstellungen – geschafft, unser Leben wie nie zuvor zu beherrschen.“ Und weiter heißt es: „Inzwischen gilt die Logik des Kaufens und Verkaufens nicht mehr nur für materielle Güter – sie lenkt zunehmend das Leben insgesamt. Es wird Zeit, uns zu fragen, ob wir so wirklich leben wollen“ (S. 12).

Das marktorientierte Denken habe von der ökonomischen Sphäre in die private Sphäre übergegriffen und beherrsche zunehmend die Mentalitäten des Alltagslebens. Sandel meint daher, dass man mittlerweile sogar von einer Marktgesellschaft und nicht nur von einer Marktwirtschaft sprechen könne.

In den fünf Kapiteln seines Buchs macht der Autor anhand einer Fülle von Beispielen die Dimension der mit dieser Einschätzung verbundenen Entwicklung deutlich. Es geht dabei um Privilegien bezogen auf Arzttermine, Eintrittskarten und Wartezeiten ebenso wie um den Handel mit Blut, Ehrungen und Körperorganen. Besondere Aufmerksamkeit findet dabei der Zweitmarkt für Lebensversicherungen: So kann man in den USA Lebensversicherungspolicen von älteren oder erkrankten Personen kaufen, bezahlt deren laufende Prämieren und kassiert nach deren Tod die Versicherungssumme.

Insgesamt mache das finanzielle Volumen dieser Branche, die auf den möglichst frühen Tod der Versicherten setze, um die 30 Milliarden Dollar aus. Angesichts solcher Fälle fragt Sandel am Ende seines Buchs im Sinne eines Ergebnisses: „Wünschen wir uns eine Gesellschaft, in der alles käuflich ist? Oder gibt es gewisse moralische und staatsbürgerliche Werte, die von den Märkten nicht gewürdigt werden – und die man für Geld nicht kaufen kann?“ (S. 250).

Die von ihm präsentierten, meist aus den USA stammenden Beispiele erschrecken, zumal dortige Trends mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung auch in Europa auszumachen sind. In dem damit einhergehenden Problembewusstsein besteht das Verdienst von Sandels Buch. Von dem bekannten Moralphilosophen und „derzeit wohl populärsten Professor der Welt“ („Die Zeit“) hätte man sich gleichwohl insgesamt etwas mehr analytischen Tiefgang gewünscht. Zwar vermeidet er moralische Aufgeregtheit und Verdammung. Hier und da gibt es kritische Auseinandersetzungen mit den Apologeten des Marktdenkens. Sandel betont zwar, dass die Gefahren dieser Entwicklung in dem Anwachsen der sozialen Ungleichheit und der Korrumpierung moralischer Normen besteht. Er führt auch die Vermeidung der Debatte auf eine Angst vor Uneinigkeit in der Gesellschaft zurück. Doch wenn man „die Rolle der Märkte neu denken“ (S. 19) will, bedarf es schon ein wenig mehr Klarheit – etwa durch Antworten auf die Frage: Liegt es an den Märkten an sich oder an ihren fehlenden Grenzen?

Armin Pfahl-Traughber

Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes. Aus dem Amerikanischen von Helmut Reuter, Berlin 2012 (Ullstein-Verlag), 300 S., 19, 99 €.