Nach ‚68' war fast nichts mehr so wie vorher

(hpd) Die Diskussion in Deutschland über die Achtundsechziger Bewegung ist stark von einer Konzentration auf das eigene Land geprägt.

Dabei wird vielfach die internationale Dimension der Protestbewegung verkannt. „Denn ‚68' war (fast) überall" (S. 29), so die Aussage des Historikers Norbert Frei in seiner Studie „1968. Jugendrevolte und globaler Protest". Der Autor lehrt Neuere und Neueste Geschichte in Jena und ist durch eine Reihe von gelungenen Arbeiten zur Zeit des Nationalsozialismus bekannt geworden. Mit seiner Darstellung und Interpretation der Achtundsechziger Bewegung betritt er neues Terrain. Zwar liefert Frei keine neuen Erkenntnisse aus Archivstudien oder Augenzeugenbefragungen, stützt sich doch seine Arbeit über weite Teile auf die bekannte Primär- und Sekundärliteratur. Gleichwohl liefert die länderübergreifende Betrachtung eine zwar nicht neue, aber wichtige Perspektive zu Analyse und Verständnis der Protestbewegung. Dabei macht der Autor die Wurzeln der Achtundsechziger immer wieder in den 1950er Jahre aus.

Nach einer Art Prolog zum Pariser Mai 1968 geht es um den Beginn der weltweiten Proteste, welcher in den USA ausgemacht wird. Bereits Anfang der 1960er Jahre bestanden dort Bewegungen, die für ungeteilte Bürgerrechte, umfassende Partizipation und eine neue Gesellschaft eintraten. In anderen Ländern knüpfte man mit Protestformen und -inhalten an diese amerikanischen Vorbilder an; es entstanden aber auch eigene länderspezifische Positionen und Vorgehensweisen. Die Entwicklung in Deutschland steht danach im Zentrum von Freis Buch, wobei als Besonderheit der hohe Stellenwert der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hervorgehoben wird. Das folgende Kapitel richtet den Blick auf die anderen westlichen Länder, gab es doch auch in Italien, Japan und den Niederlanden ähnliche Protestbewegungen. Und schließlich erinnert der Historiker daran, dass auch die Länder des „real existierenden Sozialismus" Achtundsechziger Bewegungen kannten, wovon die Ausführungen über die DDR, Polen und die Tschechoslowakei zeugen.

Gegen Ende seines Buchs nimmt Frei eine bilanzierende Einschätzung nach dem Motto „Was war, was blieb?" vor. Dabei zeichnet er ein relativ wohlwollendes Bild, bleibe doch festzuhalten: „Es ging um nichts Geringeres als um eine bessere Welt. Es ging um die Freiheit der Unterdrückten, um die gesellschaftliche Teilhabe aller, um ein Mehr an Demokratie. Es ging, um es in den eindrücklichen Begriffen der Antiautoritären zu sagen, um Emanzipation und um Transparenz" (S. 216). Die bedenklichen Tendenzen in der Protestbewegung verkennt Frei nicht, differenziert hier aber zwischen Basis und Ideologen: „Das Hermetische und das Fanatische, das Irrationale und das Unbedingte - und in diesem Sinne auch das Totalitäre - das aus den Chefideologen der Revolte zweifellos sprach: Es war nicht das, was die Bewegung im Ganzen motivierte und vorantrieb" (S. 217). Zur Wirkung heißt es: „1968 war nicht das Jahr, das alles verändert hat, dazu war viel zu viel bereits im Gang. Aber nach ‚68' war fast nichts mehr so wie vorher. Und in diesem Sinne war ‚68' überall" (S. 228).

Frei beteiligt sich demnach nicht am Achtundsechziger-Bashing konservativer Feuilletons oder frustrierter Ehemaliger. Zutreffend verweist er auf die gesellschaftlichen Innovationen, die mit den Begriffen „Emanzipation", „Partizipation" und „Transparenz" verbunden waren. Auch hebt der Autor die Anstöße für alltagskulturelle Offenheit und selbstreflexive Verhaltensweisen durch die Protestbewegung gerade in der Bundesrepublik Deutschland hervor. Und schließlich wendet er sich überzeugend gegen die platten Antiamerikanismus- und Antisemitismus-Vorwürfe an die gesamten Achtundsechziger. Dem gegenüber bleibt seine Kritik eher zurückhaltend: Sie erschöpft sich nahezu darin, auf den romantischen Aspekt der Bewegung und ihr unterkomplexes Verständnis von modernen Gesellschaften zu verweisen. Hier hätte man mehr erwarten können: Die unkritische Bejubelung kommunistischer Diktatoren in der Dritten Welt und die schlichte Ignoranz gegenüber dem Eigenwert des liberalen Rechtsstaates kann nicht durch Naivität entschuldigt werden.

Das eigentlich Interessante an Freis Buch besteht allerdings in seiner internationalen und vergleichenden Perspektive. Als Gemeinsamkeiten aller Bewegungen werden neben den Protestformen (Demonstrationen, Go-ins, Sit-ins etc.) die Themen der Situation an den Hochschulen und dem Krieg in Vietnam genannt. Unterschiede bestanden im Ausmaß der Gewaltanwendung und der Dauer des Protestes. Der Autor verweist auch zutreffend darauf, dass in einzelnen Ländern wie dem damaligen Griechenland, Portugal oder Spanien erst die politischen Grundfreiheiten erkämpft werden mussten. Diktatorische Regime gab es eben nicht nur im Osten, sondern auch im Westen. Für Deutschland verweist Frei zutreffend auf die besondere Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit, welche unterschwellig in vielen Protestaktionen und -themen präsent war. Gleichwohl lässt sich die Achtundsechziger Bewegung in Deutschland nicht darauf reduzieren, denn es handelte sich dabei um ein nahezu globales und weltweites Phänomen.

Armin Pfahl-Traughber

Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008 (Deutscher Taschenbuchverlag), 286 S., 15 €