Naturalistischer Humanismus

(hpd) In den vergangenen Monaten und Wochen ist bei verschiedenen Gelegenheiten auch über Varianten des „neuen Humanismus" diskutiert worden. Bernd Vowinkel erinnert an einen bereits etwas zurückliegenden Versuch, die tiefen Gräben zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften zu überwinden.

Im vorigen Jahr fanden in Deutschland mehrere Tagungen zum Thema Humanismus statt. Nachdem der Begriff „neuer Atheismus" für die Bewegung der säkularen Humanisten von Vielen als zu negativ gesehen wurde, fand man den Begriff „neuer Humanismus" angemessener.  Während in Deutschland die Szene der neuen Humanisten mehr von Evolutionsbiologen und Geisteswissenschaftlern beherrscht wird, stehen in den angelsächsischen Ländern Naturwissenschaftler und Technologen im Vordergrund, so dass man auch von einem naturalistischen Humanismus sprechen könnte. So auch im vorliegenden Buch von Herausgeber John Brockman. Der Klappentext beinhaltet ein Zitat der FAZ zum Buch:

Die Forscher von heute, die das Denken von morgen bestimmen - das sind die neuen Humanisten. Sie erkunden die inneren und äußeren Grenzen unseres Lebens und machen deutlich, wie dramatisch sich unser Leben in naher Zukunft verändern wird.

Aufgrund verschiedener historischer Ursachen gibt es in unserer Gesellschaft eine Aufteilung in zwei Kulturen, in eine der Geisteswissenschaften und eine der Naturwissenschaften. 1991 hat nun der Herausgeber John Brockman in einem Aufsatz erstmals den Begriff „Dritte Kultur" eingeführt, in der nach seiner Ansicht die beiden getrennten Teile wieder zusammengeführt werden sollen. Dazu schreibt er in der Einführung:

Es gibt ermutigende Anzeichen dafür, dass die Dritte Kultur heute auch Geisteswissenschaftler einbezieht, die auf die gleiche Weise denken wie Naturwissenschaftler. Wie ihre Kollegen aus den naturwissenschaftlichen Disziplinen glauben sie, dass es eine reale Welt gibt und dass es ihre Aufgabe ist, sie zu verstehen und zu erklären. Sie prüfen ihre Ideen auf logische Richtigkeit, Erklärungskraft und Übereinstimmung mit den empirischen Tatsachen.

Wenn sowohl die Geisteswissenschaften wie auch schon die Naturwissenschaften von den gleichen Prämissen, nämlich dem Realismus, dem Rationalismus und dem Naturalismus ausgehen, so wird diese dritte Kultur möglich sein.

Das Buch ist in drei Hauptteile aufgeteilt. Begonnen wird mit „Homo Sapiens" in dem von verschiedenen Autoren ein modernes Menschenbild entworfen wird, angefangen von der Evolution des Menschen zu der Frage, inwieweit der Mensch durch seine Gene und seine Umwelt determiniert wird, wie sich tierische Intelligenz von der menschlichen unterscheidet und schließlich, wie in unserem Gehirn die reale Außenwelt simuliert wird.

Im zweiten Teil wird ein Blick in die nahe Zukunft gewagt. Hier geht es um die Entwicklung der künstlichen Intelligenz bis hin zu Maschinen mit Geist. Der bekannte Robotikexperte Hans Moravec schreibt:

Bereits in einem frühen Stadium dieser Evolution dürfte die Robotik zur größten Industrie auf dem Planeten werden und die Informatikindustrie überflügeln. Diese erreichte ihren herausgehobenen Status, indem sie marginale Aufgaben automatisierte, die wir Schreibarbeit zu nennen pflegen. Die Robotik wird alles andere automatisieren!

Der nicht minder bekannte Computerwissenschaftler Marvin Minsky sieht die Entwicklung ebenfalls recht positiv:

Wenn die Programme nämlich lernen, über sich selbst nachzudenken und neue Methoden zur Selbstverbesserung zu erfinden, dann wird sich alles, was wir wissen, ändern, und wir brauchen - vorausgesetzt, wir behalten die Kontrolle über sie - nie mehr zu arbeiten.

Ray Kurzweil kultiviert seine extrem optimistische Sicht des Siegeszuges der Technologie einschließlich der Ideen des Trans- und des Posthumanismus:

Wir treten in eine neue Ära ein. Ich nenne sie die Singularität. Sie verschmilzt menschliche und maschinelle Intelligenz zu etwas Größerem. Sie stellt einen Sprung in der Evolution unseres Planeten dar. Sehr wahrscheinlich läutet sie ein Zeitalter in der Evolution der Intelligenz überhaupt ein, da wir keinen Hinweis besitzen, dieser Sprung könnte sich schon irgendwo anders ereignet haben. Für mich verbirgt sich darin der Sinn der menschlichen Zivilisation. Es ist Teil unseres Schicksals - aber auch des Schicksals der Evolution - immer schneller fortzuschreiten und die Macht der Intelligenz exponentiell zu steigern.

Die meisten Evolutionsbiologen dürften allerdings diese Vermutung einer zielgerichteten Evolution als unwissenschaftlich und unbegründet ablehnen. Im nachfolgenden Beitrag von Jaron Lanier wird der zum Teil extreme Technologieoptimismus der vorigen Beiträge heftig kritisiert. Lanier sieht vor allem die Gefahren der militärischen Nutzung der modernen Technologien sowie den möglichen Missbrauch der Gentechnik.

Im dritten Teil werden die modernen Theorien der Kosmologie vorgestellt. Im Zentrum stehen dabei die theoretischen Ansätze zur Vereinigung von Quantenmechanik und Relativitätstheorie. Es kommen so bekannte Physiker wie Paul Steinhard, Lee Smolin, Lisa Randell und Sir Martin Rees zu Wort.

Insgesamt ergeben die einzelnen Aufsätze einen sehr guten Überblick über unser modernes, rationales Weltbild, und sie zeigen auch mögliche Entwicklungen und Gefahren in der nahen Zukunft auf. So steht im Klappentext:

Was morgen wird, muss heute gedacht werden. Und derzeit sind es vor allem Naturwissenschaftler, die uns mit den Schlüsselfragen des Lebens konfrontieren. Was werden Menschen, was werden Maschinen in der nahen Zukunft erreichen können? Müssen wir uns das Humane bald anders vorstellen?

Vielleicht können die Ideen des Herausgebers und die der Autoren mit dazu beitragen, dass auch bei uns die tiefen Gräben zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften überwunden werden. Dazu müssen sich beide Seiten bewegen. So sollten sich die Geisteswissenschaften von jedweder Mystik verabschieden und die Naturwissenschaften vom extremen Reduktionismus.

Bernd Vowinkel

 

John Brockman (Hg.), Die Neuen Humanisten, Wissenschaft an der Grenze. Ullstein, 2004, 424 Seiten. ISBN -13: 978-3550075971, Preis: 24,- €